Studieren im Lockdown: Die „Verkachelung des Studiums“ ist unverhältnismäßig

von Laura Gerloff und Paul Stegemann | Collagen: © Nora Boiko

Der deutsche Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier (SPD) hat sich zum Start des dritten Online-Semesters an die Studierenden gewandt. Seit März 2020 verlegt die Politik ihr Studium in den digitalen Raum – während Kapitalinteressen die Virusverbreitung immer wieder beschleunigen.

Wir, die Autor*innen dieses Textes, sind ungefähr 20 Jahre alt und studieren. Von „Menschen wie uns“ besteht ein recht eindimensionales Bild: Wir seien selbstständig, vergleichsweise privilegiert, gingen abends in Kneipen, wollten Karriere machen und lebten in Wohngemeinschaften. So beschreibt der deutsche Bundespräsident Frank-Walter-Steinmeier (SPD) seine Vorstellung von jungen Studierenden in seiner Rede am 12. April 2021 in der Staatsbibliothek Berlin.

Mit sicherlich gutgemeinten Motiven stellt er sich vor eine Gruppe Studierender, die im angemessenen Abstand auf einer Treppe vor ihm sitzen. Er appelliert zum Start des dritten Online-Semesters an ihre, unsere Statusgruppe: Durchhalten – das sind hoffentlich die letzten sechs Monate vor den Bildschirmen.

Mitschnitt von Steinmeiers Rede an Deutschlands Studierende vom 12. April 2021.

Großraumbüros bleiben offen, Studierende bleiben zuhause

Studierende sind verständnisvoll. Auch die Nicht-Naturwissenschaftler*innen unter uns können wissenschaftliche Daten auswerten: Wir verstehen exponentielles Wachstum und sind empathisch für die Situation auf den Intensivstationen. Aus diesem Grund versuchen wir uns zu arrangieren, zurückzustecken, damit mit einem harten Lockdown die erste, zweite oder eben die dritte Welle gebrochen werden kann – das Problem: Kaum eine*r macht mit. Eine Studie vom Statistikinstitut Statista zeigt, dass 87 % der Wirtschaft nicht oder nicht direkt vom Lockdown im März betroffen waren. Großraumbüros konnten aufgrund heuchlerischer Appelle an Arbeitgeber*innen geöffnet bleiben, Fließbänder laufen, Berufsschulen werden oft als erstes geöffnet.

Gerade der Vergleich mit den Berufsschulen ist bezeichnend, stehen die Gleichaltrigen dort kurz vor dem Eintritt in das Berufsleben oder sind im praktischen Teil ihrer Ausbildung bereits in den laufenden Betrieb eines umsatzorientierten Unternehmens eingebunden. Wir Studierenden steigen meist erst nach dem Bachelor, Master, Staatsexamen oder Doktor in das „richtige“ Berufsleben ein. Uns fehlt eine finanzstarke Lobby.

„Unser Land braucht Sie!“

Steinmeiers Lieblingsmetapher ist die Treppe. Die Studierenden stünden am Anfang einer Lebens- und Karriere-Treppe, wollten hinaufstürmen, zwei Stufen auf einmal nehmen und würden momentan ausgebremst, müssten auf dem unteren Absatz verweilen. Am Ende seiner Rede ist er sich aber sicher: Hinaufstürmen werden wir sie auf jeden Fall, denn das Land brauche uns – zum Wiederaufbau der Wirtschaft.

Dabei würden wir aktuell nicht nur gute, sondern auch schlechte Erfahrungen sammeln – das erkennt auch Steinmeier an. In einem Alter, in dem der Kontaktradius in der Regel recht hoch ist, bleiben viele zuhause, lernen online und beschränken das Privatleben oft strenger als es die Corona-Regeln vorsehen wie Ergebnisse der Studie „Gesellschaftlicher Zusammenhalt in Zeiten der Pandemie“ der Bertelsmann Stiftung und dem Infas-Institut belegen. Trotzdem glaubt der Bundespräsident, dass uns diese Erfahrung stärken und die Gesellschaft positiv prägen würde. Er behauptet, wir würden gefragt werden, wie die Spielregeln der Zukunft aussehen sollen. Wir fragen: Wann und wo wurden wir gefragt? Wie viele der Forderungen junger Menschen, junger Studierender, wurden bisher umgesetzt? Wieso müssen streiken Bewegungen wie Fridays for Future und Bündnisse wie die Seebrücke noch immer streiken?

Steinmeier: Die Corona-Krise könne für Studierende „heilsam“ sein

Steinmeier meint, der Staat helfe, Belastungen abzufedern. Die Beantragung von Bafög und anderen Hilfen braucht aber vor allem eins: Frühzeitige Planung. Menschen, die ohnehin finanzielle Hindernisse im Studium überwinden müssen, werden durch den Verlust ihrer Nebentätigkeiten zusätzlich in ihrer Existenz bedroht. Die angespannte Lage auf den Wohnungsmärkten in den meisten Uni-Städten sowie die neoliberale Umstrukturierung des Studiums durch die Bologna-Reform sind weitere Belastungen, die so manche Studentin* weiter in die Prekarität treibt.

Die einzigen Prägungen, die viele junge Menschen aus der Pandemie-Zeit mitnehmen, sind Mental-Health Probleme und Traumata. Denn der Lockdown des Studiums ist alles andere als das, was der Bundespräsident als „heilsame Erfahrung“ bezeichnet. Oder gab es je eine Krise, aus der die Betroffenen positive Erfahrungen mitgenommen haben? Denkt Steinmeier etwa an den Mythos des Wirtschaftswunders nach dem Zweiten Weltkrieg, das auf dem Rücken einer Generation aufgebaut wurde, die zeitlebens nicht zurück auf die Nazi-Verbrechen schauen wollte, Traumata vererbt und Nazis integriert hat? Die Zahlen nach der SARS-Epidemie im Jahr 2003 sprechen für sich: So stieg die Suizidrate bei Menschen über 65 in Folge der Krise um 30 % an. Auf die psychischen (Spät-)Folgen einer Krise dieses Ausmaßes sind unsere Gesundheitssysteme auch heute nicht vorbereitet.

„What doesn’t kill you, makes you stronger”

Es gibt diesen einen Kelly Clarkson Song, der die Botschaft des „obersten Vertreter der ‚weißhaarigen Generation‘“ (Steinmeier) gut zusammenfasst: What doesn’t kill you, makes you stronger. Was er eigentlich sagt: Durchhalten – sie sind wichtig für das Bruttoinlandsprodukt der Zukunft. Als Anreiz lobt Steinmeier vorbildliche Studierende: „Viele von Ihnen waren und sind in der Krise nicht nur solidarisch, sondern unglaublich kreativ und erfinderisch“. Wer trotz extremer Belastung leistungsfähig ist, verdient ein Extralob.

An einem Punkt der Rede hat Steinmeier allerdings Recht: „Ein Präsenzstudium, das von der Begegnung, vom Austausch lebt, können auch noch so viele Zoom-Konferenzen niemals ersetzen.“ Was ihm – dem Juristen Steinmeier – nicht auffällt: Die ganze Inszenierung seiner Rede zeigt schon, dass mit angemessenem Abstand in weiträumigen Uni-Hörsälen Studierende zusammenkommen können. Momentan dürfen sie allerdings nur in dieser Gruppenstärke zusammenkommen, um Lohnarbeit zu leisten, shoppen zu gehen, oder ihrem Bundespräsidenten ein Publikum zu bieten. Sie dürfen sich aber nicht treffen, um mit 15 Seminarteilnehmer*innen in einem Hörsaal gemeinsam zu lernen und zu diskutieren.

Es ist ein Trugschluss zu glauben, dass die Universitäten des Landes tatsächlich geschlossen wären. Neoliberale Uni im 21 Jahrhundert bedeutet, dass lediglich die Lehre in den ressourcensparenden digitalen Raum verschoben wurde, während Studierende mit einem Forschungsauftrag weiterhin täglich die Universitätsgebäude betreten dürfen. Forschung, die von Kapitalinteressen unterstützt wird, ist keinesfalls im Lockdown.

Wir reden mit, hört uns zu

Wir Studierenden wurden belogen. Wir glaubten an einen solidarischen Lockdown, der alle Bereiche des öffentlichen Lebens unter Abwägung der epidemiologischen Argumente beschränkt. Frank-Walter sagt, dass die Verantwortlichen davon ausgegangen sind, es würde schon irgendwie klappen. Das stimmt nicht, sie haben die Frühwarnsysteme lediglich nicht ernst nehmen wollen. Wir fragen seit Beginn der Pandemie, wo Menschen bleiben können, wenn sie kein Zuhause haben. Was mit denjenigen passiert, die von häuslicher Gewalt betroffen sind. Was bei einem Covid-Ausbruch in Massenunterkünften für Geflüchtete passiert. Wer den Spargel pflückt und warum in der Bildung immer wieder dieselben verlieren. Wir haben Pläne entwickelt, für eine postcoronale Realität.

Steinmeier sagt, sie brauchen uns. Doch wir wollen nicht nur gebraucht werden, wir wollen gefragt werden. Und nachdem wir gefragt worden sind, wollen wir angehört und ernstgenommen werden.

  1. Samson Apfel

    „Während Kapitalinteressen die Virusverbreitung immer wieder beschleunigen.“ Gut auf den Punkt gebracht! Solidarität ist nicht einseitig. Durch unser verantwortungsvolles Verhalten ermöglichen wir, dass die Wirtschaft weiter laufen kann. Damit die Reichen noch reicher werden. Danke für den Artikel. Die Wut über die Ungerechtigkeit spüre ich schon lange, habe sie aber bisher nicht ausformulieren können.

  2. Auf den Punkt gebracht. Toller Kommentar!

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