Lieblingsbücher im Sommer 2019

sai-Kollektiv | Beitragsbild: Marit | Kuration: Paul Stegemann

Der Sommer ist vorbei. Nicht nur das Sturmtief Mortimer ließ uns das zuletzt spüren, sondern auch der bevorstehende Semesterstart oder die Herbstferien. Was übrig bleibt, sind nicht nur die Erinnerungen an einen fast so heißen Sommer wie letztes Jahr. Sondern insbesondere auch die vielen Momente auf Reisen, am See oder beim Warten auf Hitzefrei hallen in unseren Erinnerungen nach. Die Autor*innen des sai-Kollektivs wurden in all diesen Phasen begleitet, von ihren Büchern, die ihnen ihre Zeit vertrieben haben. In diesem Artikel stellen sie ihre Lieblinge vor.


Leben, um davon zu erzählen | Gabriel García Márquez

von Leon Lobenberg

Gabriel García Márquez hat einen genauso schönen Namen wie die Bücher, die er schreibt. In seinen Memoiren blickt er auf sein Leben zurück, dass konzentrisch um sein literarisches Talent kreist und wie für einen Schriftsteller geschaffen scheint. Das Buch ist keine Autobiographie, sondern liest sich wie ein Roman, der nicht Márquez als Protagonisten hat, sondern die Menschen und Ereignisse um ihn herum, ganz nach Schriftsteller-Manier. Denn als Schriftsteller muss man erzählen. Man muss leben, um davon zu erzählen. Und das tut Márquez. Er tut das mit einem fantastischen Gespür für die wichtigen Passagen seines Lebens und der*die Lesende wird aufgesogen von der freien, karibischen Art die Dinge so zu nehmen wie sie kommen und die Liebe dabei nicht zu vergessen. Die Leichtigkeit des Lebens wird von Márquez trotz der Kriege und der Armut, in der er aufwuchs, in so einfachen Sätzen so kraftvoll beschrieben, dass man sich wünscht Mitte des 20. Jahrhunderts in Kolumbien gelebt zu haben.

Aber es reicht auch zu mehr als nur zu nostalgischen Traumvorstellungen. Die Einfachheit und Schönheit des Lebens springen einen fast schon aus dem Buch an. Márquez ließ sich in seinen jungen Schriftsteller-Jahren von Stadt zu Stadt, von Partnerin zu Partnerin und von Fest zu Fest mit unzähligen guten Freunden treiben. Nach der Lektüre ist man geneigt, diese Leichtigkeit auf sein eigenes Leben zu übertragen, was immer ein gutes Rezept für unverhoffte Erlebnisse sein kann. Mich hat es dazu inspiriert, spontane Situationen oder alltägliche Momente neu zu entdecken, die sich zu wunderschönen Erlebnissen auswachsen können, lässt man sich nur darauf ein. Genau das ist, glaube ich, das Geheimnis von Márquez‘ Leben, das man nur zwischen den Zeilen findet. Das Leben tritt an ihn heran und er nimmt es an. Um zu genießen und um davon zu erzählen.


Die Hoffnung ist ein Hundesohn | Marcus Staiger

von Joshua Rumpf

Marcus Staiger entführt uns mit „Die Hoffnung ist ein Hundesohn“ in eine raue, beinah unwirkliche Welt. In einer fiktiven Welt Berlins im Jahre 2012, in der die Stadt geteilt ist und der Alltag von Gewalt, Sex und Drogen bestimmt wird. Mit einer rauen und expliziten Sprache lässt er uns fühlen, was es heißt in einer Stadt zu leben, die keine großen Perspektiven oder Hoffnungen zulässt.

Der Osten und der Westen werden jeweils von einer totalitären Staatspartei kontrolliert. Jedoch steht der Osten längst unter der Führung des Westens, auch wenn er es nicht weiß. Die Partei von Helmut Kohl kontrolliert alles: Die Polizei, die Medien, die Schulen und die Menschen. So will sich die Partei einen erneuten Sieg bei der anstehenden Bundestagswahl am Wochenende sichern. Doch auch arabische Großfamilien wollen einen Teil von Berlin beherrschen und werden zum Feindbild der Mehrheitsgesellschaft. Dazu kommt auch noch eine kleine Widerstandsgruppe, welche spontan, ohne Führung und vollkommen anonym versucht, Abschiebungen zu verhindern und zu protestieren. Damit stellen sie sich direkt gegen die Politik der Partei. Sowohl die Clans, als auch die Widerstandsgruppe schwächen das Ansehen der Partei und könnten den sicheren Wahlsieg gefährden. Doch die Hardliner haben sich schon Gedanken gemacht, wie sie auch diese Opposition beseitigen können.

Wer sich darauf einlassen kann, einen Roman zu lesen, der einem vor Augen führt, wie bestialisch die Menschheit auch in unserer vermeintlich zivilisierten westlichen Welt ist, der wird mit „Die Hoffnung ist ein Hundesohn“ eine fesselnde Warnung vorfinden. Eine Warnung die in Zeiten von Abschottung, Fremdenfeindlichkeit und Egoismus aktueller denn je ist. Marcus Staiger führt uns vor Augen, was passiert, wenn eine Partei die Demokratie im Westen von innen aushöhlt, um ihren fanatischen Machtkomplex am Leben zu erhalten. Es ist eine Warnung, die wir ernst nehmen sollten, wenn wir nicht eines Tages in einem totalitären Staat aufwachen wollen.


Das Café der Existenzialisten: Freiheit, Sein und Aprikosencocktails | Sarah Backwell

von Frieda Teller

Es ist diese berauschende schwindelerregende Freiheit, die die Philosophie des Existentialismus immer wieder offenbart. Eine Freiheit, die Millionen Menschen seit fast einem Jahrhundert immer wieder wachrüttelt und zum selbständigen Denken ermutigt. Denn wir erschaffen uns selbst in jedem Moment ganz nach unseren eigenen Werten. Die Autorin Sarah Bakewell widmete sich in ihrem 2016 erschienen Roman „Das Café der Existentialisten“ deshalb nicht nur den Theorien der Denker*innen, sondern auch ihrem Leben und Handeln.So stolpert man berauscht von phänomenologischen Theorien zu politischen Auseinandersetzungen, von freien Liebesbeziehungen und durchfeierten Nächten, zu feigem Mitläufertum. Seite für Seite verliebt man sich mehr in die Gedanken- und Lebenswelten von Paul Sartre, Albert Camus und Simone de Beauvoir. Doch gleichzeitig entwickelt man auch ein differenzierteres Bild von diesen drei weltberühmten Intellektuellen. Denn ihre Irrtümer, Anfänge und Eskapaden werden ebenso beschrieben, wie die prägenden Menschen, die heute oft in ihrem Schatten stehen. Diese Kollektivbiografie macht Lust auf endlose politische Diskussionen in Cafés, auf noch ganz viel weitere existentialistische Lektüre und natürlich vor allem auf die Freiheit.


Desintegriert euch! | Max Czollek

von Paul Stegemann

„Czollek rechnet in seinem furiosen Essay mit einem verklärten deutschen Selbstverständnis im Integrationsdiskurs ab“, schreibt die Zeit. „Der Autor möchte dringend etwas sagen. Er scheint nur nicht genau zu wissen, wie. Oder was“, entgegnet die Sueddeutsche. Sicher ist, die 2018 erschienene Polemik provoziert als eines der meist beachteten Essays in der jüngeren deutschen Integrationsdebatte.

Der 1987 in Berlin geborene Lyriker und Politikwissenschaftler Max Czollek beschreibt, was die „deutsche Dominanzkultur“ von seinen Minderheiten erwartet: „Ein guter Migrant ist, wer aufgeklärt über Frauenunterdrückung, Islamismus und Demokratiefähigkeit spricht. Ein guter Jude, wer stets zu Antisemitismus, Holocaust und Israel Auskunft gibt.“ Dieses „Integrationstheater“ führt zum Selbstverständnis der Deutschen als „Erinnerungsweltmeister“, die sich seit dem „Sommermärchen“ endlich wieder mit Deutschlandfähnchen feiern und schamfrei die Nationalhymne singen dürfen, beobachtet Czollek.

Der Autor prägt sein Buch mit bitterer Ironie, klaren Argumentationsketten, zugespitzten Provokationen, geistigem Witz und einer gesunden Portion Wut. Seine Popularität verdankt er auch seinen Kontroversen und dem angenehmen Schreibstil des Lyrikers.

„Desintegriert euch!“ ruft er den Gruppen der pluralen Gesellschaft zu und übernimmt dabei die einfache Differenzierung seines viel kritisierten „Integrationstheaters“. Dabei schlüsselt er die Sehnsucht der „Deutschen“ nach Normalität genauso auf, wie die heute reale Vielfalt von „Juden“ in Deutschlands Gesellschaft. In ihren Rollen führt er den Gruppen ihre Funktionen vor und unterstreicht die Kontinuität völkischen Gedankenguts in Deutschland seit der NS-Zeit. Dabei entzürnen ihn Ideen wie Leitkultur, konservative Revolution und Politiker*innen der Mitte von Weizsäcker bis Steinmeier.

Dr. Max Czollek möchte kein JfD (Jude für Deutsche) sein und keiner der im „Jewporn“ mitspielt, sondern jemand, der unangenehm ist. Seine Polemik liefert die richtige Mischung aus Sprengstoff und Lösungswegen für eine der wichtigsten Debatten unserer Zeit.


Vom Ende der Einsamkeit | Benedict Wells

von Marit Brunnert

“In all diesen Momenten konnte ich beinahe zusehen, wie sich unsere Vergangenheit wieder zart mit unserer Gegenwart und Zukunft verknüpfte.”

Drei Kinder verlieren durch einen tragischen Unfall ihre Eltern. Was bedeutet das – auf ein ganzes Leben gesehen? In diesem Roman wird der*die Lesende mitgenommen in die Geschichte der Geschwister, welche vom Schicksal geprägt ist. Wie wird sich dieser Vorfall auf Ihr Wesen auswirken? Und werden sie jemals einen Sinn in allem sehen?

Jules, Marty und Liz sind noch jung, als ihre Eltern bei einem Autounfall in Frankreich ums Leben kommen. Der unerwartete Tod wirft die Kinder aus der Bahn. Jules, der Protagonist, verändert sich vom lebensfrohen Draufgänger zum schüchternen, verunsicherten Jungen, der die längste Zeit seines Lebens damit verbringen wird, seine Identität in Frage zu stellen. Sein Bruder Marty entwickelt sich im Laufe der Jahre von einem zurückgezogenen Nerd zu einem bodenständigen Erwachsenen, der seine Zwänge nicht ablegen kann. Und Liz, die ältere Schwester, flüchtet sich in ein Wechselspiel aus Männern und Drogenmissbrauch, um der Realität zu entfliehen.

Irgendwo zwischen Verlustängsten, Erinnerungswelten und der Frage nach dem Sinn der eigenen Existenz lässt Wells die Lesenden in einer wundervoll erzählten Lebensgeschichte das Dasein von Jules mitverfolgen. Dieses wird neben seinen Geschwistern noch von einer weiteren Person geprägt: Ava. Seine Schulfreundin und verborgene Jugendliebe, deren Wünsche und Ängste ebenfalls von einem Verlust geprägt sind. Die Beiden finden – ebenso wie Jules und seine Geschwister – immer wieder zueinander. Und so gelingt es, dass man sich nach dem Lesen fühlt, als hätte man ein ganzes Leben mitgelebt.

Wells schreibt seinen Roman mit einer unglaublichen Leidenschaft fürs Detail. Es geht um die großen, abstrakten Gefühle des Seins: Angst und Liebe. Die Figuren durchleben diese in einem Facettenreichtum, der es ermöglicht, sie etwas greifbarer zu machen. Und genau das macht „Vom Ende der Einsamkeit“ zu einem lesenswerten Buch: Jules meistert die Wucht des Lebens.


In den Wäldern Sibiriens: Tagebücher aus der Einsamkeit | Sylvain Tesson

von Justin Adam

Vor einer Weile schenkte mir jemand dieses wunderbare Buch von Sylvain Tesson. In den Wäldern Sibiriens, der Name lässt es erahnen, spielt hauptsächlich am Ufer des Baikalsees. Dorthin flieht der Autor und Philosoph Tesson, um für ein halbes Jahr in vollkommener Abgeschiedenheit zu leben.

Die Erzählung beginnt mit der Planung in Frankreich, dem Aufbruch nach Russland, dem Packen großer Vorräte (Wodka zählt dazu) und dem Weg an den Baikalsee. Im tiefsten Winter beginnt die Einsamkeit am zugefrorenen See.

In dieser Abgeschiedenheit starten nun mehrere Reisen oder viel eher Erkundungen zugleich. Mit einer Liebe zu Natur und Detail und dennoch auch mit klarem Verstand und charmanter Rauheit erfasst Tesson seine Umgebung. Dem Leser wird, als sei er selbst vor Ort, säße selbst am Fenster der Hütte und beobachtete tagtäglich die stumme Schneenatur umher. Eine andere Reise führt durch die Gedanken des Autors, der Kilogrammweise Literatur mit in die Einsamkeit genommen hat. Tesson entwickelt eine kritische Haltung gegenüber dem westlichen Lebensstil. Als Gegenstück zeigt er dem Leser das Leben draußen in der Abgeschiedenheit, mit einer engen Bindung zur Natur.

Der Autor lässt uns an seinen täglichen Beobachtungen teilhaben, meisterhaft, bedenkt man wie langsam sich das Naturbild wandelt, wie stark andererseits, dennoch meist unsichtbar, die Naturkräfte sind.

Mit dem Sommer endet die Einsamkeit und manch ein Leser mag sich fühlen, als säße er weiterhin am Fenster der Hütte, nun aber allein. Das Buch bleibt klare Schlüsse schuldig – es besticht eher durch das Teilhaben und Einblicken und das Verstehen und Anregen, von dem die Beziehung zwischen Autor und Leser lebt.

Wer Reiseberichte liebt, Philosophisches aber nicht missen möchte, umgekehrt aber auch in scheinbar Banalem das Besondere sehen kann, der wird mit diesem Buch seine Freude finden.

  1. Pingback: Bücher ändern alles: Unsere Autor:innen verraten ihre Lieblinge 2021 – sai

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert

Gefällt dir das sai-magazin?