Da war noch was!

vom Sai-Kollektiv | Illustrationen: ©Jennifer Beuse

2020 ist fast 3 Monate alt und hat schon eine Menge erlebt. Viel mehr, als wir es uns bei unserem Jahresrückblick im Januar hätten erträumen können. Eine Erinnerung an die Themen, die momentan auch unsere Gespräche bestimmen könnten.

COVID-19 hat Europa erreicht und sorgt für reihenweise Superlative in Zitaten von gesellschaftlichen Akteuren. „Seit dem Zweiten Weltkrieg gab es keine Herausforderung an unser Land mehr, bei der es so sehr auf unser gemeinsames solidarisches Handeln ankommt“, meinte etwa Angela Merkel. Der Deutsche Aktienindex verzeichnete währenddessen den schnellsten Absturz aller Zeiten. Und auch die arme Fußball-Bundesliga bleibt nicht verschont. Das sei die „größte Krise seiner Geschichte“, bejammerte Hans-Joachim Watzke, Geschäftsführer von Borussia Dortmund.

Neben den Instagram-Challenges, den Kolumnen über das Arbeiten im Home-Office und den schrecklichen Berichten von überforderten, kaputtgesparten Gesundheitssystemen gibt es kaum noch andere Themen in unserer Berichterstattung.

Auch das sai-magazin ist davon nicht frei. Doch wir schreien nach Themen und Perspektiven, die in den letzten Wochen vergessen werden. Sei es der Weltschmerz, den wir in interkulturellen Freundschaften erfahren, das Engagement für Fridays For Future, das weitergehen muss oder die Kerze gegen strukturellen Rassismus, der uns alle umgibt.

Ein Kollektivartikel über Themen, die von nun an eure Gespräche dominieren könnten:


Ohne Flügel noch höher hinaus

von Leon Lobenberg

Am 12.03. stufte der Bundesverfassungsschutz die inoffizielle AfD-Gruppierung „der Flügel“ vom Verdachtsfall zum Beobachtungfall hoch. Diesen Samstag, beschloss eben jener seine eigene Auflösung. Zuvor hatte dies der Bundesvorstand der AfD verlangt. Er hatte gefürchtet, dass die Bundes-AfD von einem derzeitigen Prüffall zu einem Verdachtsfall hochgestuft werden könnte.

© Jennifer Beuse

Seit Januar 2019 ist der Flügel ein Verdachtsfall, was es dem Verfassungsschutz erlaubt, V-Leute und andere nachrichtendienstliche Mittel einzusetzen – um zu überprüfen, ob die Vereinigung als extremistisch eingestuft werden kann. Wenn dies der Fall ist, wird sie zum Beobachtungsobjekt hochgestuft, was vor zwei Wochen passiert ist. Der nächste Schritt könnte ein Verbot durch das Bundesverfassungsgericht sein.

Ganz in AfD-Manier wird nun vom „Establishment“ geredet, welches sie zur Auflösung gezwungen hätte. Höcke schafft es jedoch, die scheinbar erzwungene Maßnahme positiv zu inszenieren. Für ihn ist es ein Zeichen der Einheit innerhalb der AfD. Diese hätte sich „so gut entwickelt“, dass es den Flügel als nationalkonservatives Korrektiv nun gar nicht mehr bräuchte. Das Signal ist klar: Der rechtsextreme Flügel ist längst die „Mitte der Partei“.

Die inoffiziellen Mitglieder des Flügels diffundieren über die gesamte AfD. Problematisch, denn eine Beobachtung ohne Beobachtungsobjekt ist nicht möglich und eine gesamtparteiliche Observation wird so schnell nicht zu realisieren sein, allein aufgrund der Mitglieder*innen-Anzahl. 30.000 sind es. Schlimmer noch wird davon ausgegangen, dass der ehemalige Flügel durch seine Auflösung mehr Einfluss gewinnen könnte. Das passt zum neuen Ton der AfD, die sich selbst als werdende Volkspartei sieht: Wir und Faschismus? Nein! Sieh doch hin, den Flügel gibt es nicht mehr!

Ein Lichtblick: Der Thüringer Verfassungsschutz hat ebenfalls am 12.03 den AfD-Landesverband Thüringen zum Verdachtsfall hochgestuft. Die Verfassungsschützer*innen anderer Bundesländer prüfen diese Maßnahme ebenfalls.


adaptierte #Solidarität

von Lena Whooo

Ab heute sind wir
Solidarisch!
Rennen trotzdem
Richtig panisch
All die Discounter und die Märkte ein
Und ‘raiden‘ sie ganz ich-zentriert;
Dass sich gar die Jugend echauffiert,
weil wir alle Läden von Klopapier befreien.

Aber doch,
wir ham‘s gelesen!
Ab heute sind wir
solidarisch gewesen.
Hab sogar Petitionen unterschrieben.
Vielleich gegen JEFTA; war das nicht liegen geblieben?
Oder für‘s Grundeinkommen – bedingunglos –
Denn in Krisenzeiten sind wa‘ hemmungslos.

Da kann man auch ma‘ kräftig
Mit der Faust auf den Tisch ganz heftig
Zuschlagen und sich positionieren –
Die breite Masse: nicht irritieren.

Auch diese findet Mensch im Netz
Hashtag Solidarität?
Hab‘ ich mich verpetzt;
Dass das nicht richtig geht?
Schließlich erheben wir erst jetzt unsere Stimmen
Da Oma und Opa sich um Corona besinnen.

„Oh; wir sind direkt betroffen“ – es in Europas Raume steht.
Aus Angst „doch noch ’n paar Grenzen schließen,
Massenpaniken auslösen und Ruhe vor dem Sturm genießen“
wird leise das Versagen beteuert: „wir handeln aus Solidarität!“

Dabei sehe ich so gut wie nie mehr
Eine solidarische Haltung hier:

Und so denken wir zum ersten Mal
-also wir, mit westlicher Gesinnung-
Wieder an die Menschen um uns
Nutzen die Zwangspause zur Besinnung.

Es fehlt uns an nichts;
– Außer Mitgefühl –
Auch in diesen Zeiten:
„Wie’s dir geht;
interessiert mich nicht ganz.
Alles dreht sich um mich;
der Rest ist Firlefanz.
Aber klar – falls jemand fragt:
Meinungen können sich spalten,
aber alles in allem versuch ich’s doch;
hab’s bei Corona solidarisch gehalten.“


Unite behind the Science

von Friederike Teller

Fridays for Future fordert schon lange, auf die wissenschaftlichen Fakten zu hören. Das kann nicht nur bei der Corona-Pandemie Leben retten, sondern auch bei der Klimakrise. Mindestens 250.000 Menschen werden ab 2030 jährlich durch die Klimakrise sterben. Dass die Politik zu drastischen Maßnahmen greifen kann, wenn sie auf die Wissenschaft hört, hat sie nun gezeigt. Im Falle der Klimakrise verfehlen Deutschland und viele andere Staaten jedoch weiterhin ihre Klimaziele und brechen so wissentlich das Pariser Abkommen.

© Jennifer Beuse

In Zeiten von social-distancing ist es komplizierter geworden, genügend Aufmerksamkeit für das Versagen der Bundesregierung in der Klimakrise zu generieren oder gegen die Inbetriebnahme von Datteln 4 im Sommer zu protestieren. Datteln 4 ist ein Kohlekraftwerk, welches mit Kohle aus Sibirien und Nordkolumbien gespeist werden soll und während seiner Laufzeit 10-13 Millionen Tonnen CO2 ausstoßen würde. Dass im Jahr 2020 ernsthaft ein Kohlekraftwerk ans Netz gehen soll, ist ein Skandal.

Eine echte Klimapolitik ist deshalb trotz COVID-19 äußerst wichtig. Mehr noch: Wir müssen versuchen, nachhaltige, positive Effekte aus dieser Krise zu ziehen. Wie Maßnahmen zur Eindämmung der Klimakrise aussehen könnten, zeigt auch der kürzlich veröffentlichte Klimaplan von unten. Denn was für die Corona-Krise gilt, gilt auch für das Klima: Hört auf die Wissenschaft!

Was du sonst noch tun kannst? Informier dich, unterschreib Petitionen, nimm an Netzstreiks teil und wechsle endlich zu einem nachhaltigen Stromversoger und zu einer Öko-Bank.


Asan – Grenz mich los, lass mich ein.

von Flora Jansen

Er wollte, dass ich komme.

Ich bin nicht gekommen.

Das könnte eine tragische Liebesgeschichte sein. Ist es aber nicht. Es ist weniger, doch zugleich viel mehr als das.

Wir haben uns auf meiner Reise getroffen. Ich Reisende, mit deutschem Pass. Ich, die immer zu flexibel ist Grenzen zu übertreten. Er, der Wartende, ist scheinbar ohne irgendwelche Rechte hier. Er, der scheinbar meine Grenze allzu schnell überschritten hat.

Wir sprachen, versuchten mit Google Translate zu kommunizieren. Ich wollte offen sein, aber nicht zu sehr – frau weiß ja nie. Mut schaffen, Hoffnung wachsen lassen, aber nicht zu sehr, um der Realität gerecht zu werden. Wir sprachen, ich wollte meine Nummer nicht hergeben. Und dann ließ ich mich natürlich doch weichklopfen.

Und jetzt sitze ich hier, du willst mich nochmal sehen – „you are upset“, mir ist es zu viel. Ich lasse dich sitzen. Ich lasse dich hier, in diesem Ort, an dem für euch alles so schlimm ist, an dem die Menschen zu euch oft so rassistisch sind, an dem ihr in einem Lager in schlimmsten Verhältnissen lebt einfach stehen. Ich sage, „ich telefoniere“, doch, ich weiße, privilegierte Bratze sitze in einem Café, in dem scheiß Bruno Mars läuft. Mein Herz schmerzt vor lauter Ungerechtigkeit. Doch ich habe ein schlechtes Gefühl. Ich will dich nicht sehen, ich weiß nicht, wieso. Ich glaube, es geht mir um Selbstbestimmung. Nur, weil die Umstände so sind, will ich mich nicht drängen lassen, wenn mir eigentlich nicht danach ist. So, wie bei jeder anderen Beziehung eben.

Auch bei einer, die so kurz und so anders ist. Sie ist kurz, wir kennen uns nicht, doch für mich ist sie so groß, weil mein Leben sich um diese Themen dreht, die du tagtäglich erlebst. Ich sitze wie in Trance in der Wärme und denke über deine Worte nach – du willst mich ein letztes Mal sehen. Doch ich spüre, dass ich dir diesen Wunsch nicht erfüllen kann.


Europa verrät die Menschen(rechte)

von Paul Stegemann

Wie soll ich zuhause bleiben, wenn ich kein Zuhause habe? Wie soll ich eine Ärztin anrufen, wenn es keine gibt? Wie soll ich mir die Hände waschen, wenn es nur einen Wasserhahn und keine Seife für 1300 Menschen gibt? Wie soll ich Massenansammlungen vermeiden, wenn ich in einem Geflüchtetenlager lebe?

© Jennifer Beuse

Das fragen sich täglich 42.000 Menschen auf Lesbos, Samos, Chios, Leros und Kos, die das unglückliche Los gezogen haben, in einem europäischen Erstaufnahmelager leben zu müssen. Sie erleben beispiellos, wie die Europäische Union seit Jahren in der Asylpolitik vor ihren Außengrenzen flieht. 1327 Menschen sind laut der UNHCR allein im Jahr 2019 bei ihrer Flucht nach Europa auf dem Mittelmeer gestorben.

Im Zuge des endgültigen Scheiterns des EU-Türkei-Deals setzte erst Griechenland, dann Ungarn das Menschenrecht auf Asyl aus. Zuletzt kündigte ein Sprecher des Bundesinnenministeriums an, die humanitäre Aufnahme von Geflüchteten aus Drittländern einzustellen. Zur Erinnerung: Die EU verpflichtet sich zur Achtung der Würde jedes Einzelnen und zur Einhaltung der Menschenrechte, wofür sie den Friedensnobelpreis erhielt.

Laut Ärzte ohne Grenzen gibt es keinen staatlichen Plan, wie die Sicherheit der Menschen in den Camps im Falle eines Ausbruchs von SARS-CoV-2 gewährleistet werden könne. Wie schnell die Situation in den Lagern eskalieren kann, hat zuletzt das Feuer in dem Erstaufnahmelager Moria auf Lesbos gezeigt. Dabei ist mindestens ein Kind gestorben.

Eine umgehende Evakuierung der Menschen ist daher dringender denn je. Auch die Petition #leavenoonebehind fordert von der EU rechtsstaatliche Verfahren, die Einhaltung der Menschenrechte und die sofortige Evakuierung der Camps – mit der Unterstützung von über 180.000 Unterzeichner*innen. Die Friedensnobelpreisträgerin muss jetzt dringend handeln.


Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert

Gefällt dir das sai-magazin?