2018 – Der große Festschmaus

Imaginärer Trommelwirbel für fünf Gänge, vier Kommentare von vier Autor*innen und ein Sahnehäubchen.
Aber vier + vier+ vier + ein Sahnehäubchen ergibt nicht 2018.

Bild: © Friederike Teller

Manchmal schmeckt selbst Brokkoli besser

Der Teller ist fast farblos und was darauf liegt unterscheidet sich kaum von der Masse. Es  breitet sich aber ein bitterer Beigeschmack aus, als ich mir zweitausendachtzehn auf der Zunge zergehen lasse. So etwas habe ich noch nie geschmeckt und das nur weil sich alles und nicht nichts verändert hat. Pelzig klebt Scham und Wut in meiner Mundhöhle – das muss also Chemnitz sein, denke ich und spucke es schnell wieder aus. Aber ich komme aus Sachsen und es ist doch so, dass das Essen in der Heimat immer am besten schmeckt. Das haben sie gesagt und wir haben es zumindest bis zur Gruppenphase der WM geglaubt. Dabei haben wir ignoriert, dass die Zutaten nicht fair, nicht bio und sicher nicht gerecht verteilt sind. Sachsen ist nicht so wie sie sagen, sondern wirklich schön, in der Großstadt. Da gibt es Bioläden und Cafés mit Soja-Milch und Essen aus Außer-Sachsen.

Anklagend sieht mich der Berg vom rechten Tellerrand an und flüstert im vertrauten Dialekt.

Seit es ein Ministerium dafür gibt, glaube ich nicht mehr an Heimat, schreie ich ihm entgegen.

Aber eine graue strukturlose Masse kann man nur ignorieren, solange man meint zu wissen, wie sie geschaffen wurde. Doch diese Masse ist nun vom Rand ins Zentrum gerutscht und nennt sich Leitkultur, Verfassungsschutz, Patrioten und bio-Deutsch. Wir haben doch keine Ahnung, wer da alles noch drin ist und worin die Masse ist. Fußball, Bundeswehr, Black-Rock und Bundestag vielleicht? Fake-News, sie haben das Rezept verfälscht – dass ist gar nicht Demokratie und Diskurs. Das ist alles schon vor 73 Jahren verfallen. Nur hat sich niemand um die strukturellen Abfälle gekümmert. Nur meinen alle, jetzt könnte man es ja mal wieder kosten, das schwarz-rot-goldene Schwein und wer das nicht isst, ist nicht deutsch. Vegetarier*innen aller Länder vereinigt euch!

Aber es schmeckt mir auch nicht, weil ich weiß, dass genug für alle da wäre. Nur die Masse ist gedünstet, in Ignoranz, Selbstmitleid und Überforderung, während in dieser Masse Menschen ertrinken.

Ich realitätsverweigere mich und will viel lieber ein Curry. Ein Curry, aus allem was im grauen Winterdeutschland noch bunt ist:  Ehrenamt, Gleichberechtigung, Gemeinwohlökonomie, Klimaschutz und konstruktiver Kritik. Ich will meine Geschmacksknospen entzünden, mit ganz viel Europa und noch mehr Weltsicht. Wir sind mehr, würde ich beim Verteilen des Currys dann denken und meine Zweifel bis über den Tellerrand schieben und weiter.

von Friederike Teller

Bild: © Leonie Ziem

Dinner for 28

Ein Festmahl der verlorenen Gemeinsamkeit

Ich  öffne die Augen. Völlig unerwartet finde ich mich in einem schicken Restaurant wieder. Ich sitze an einem Tisch mit weißer Tischdecke, im ganzen Saal sind Gleiche verteilt, an der Decke hängt ein Kronleuchter, es ist ziemlich voll. Überall sind Menschen. Alle unterhalten sich und essen. Vor mir entdecke ich einen gefüllten Teller. Nanu? Das habe ich mir aber nicht selbst aufgeladen.

Am anderen Ende des Saals entdecke ich ein Buffet. Ich beschließe es mir genauer anzuschauen und erhebe mich vom Tisch.  Obwohl jeder im Saal seinen Teller bereits voll hat, ist noch unfassbar viel Essen übrig, aber keinen scheint das wirklich zu interessieren. Anstattdessen werden alle Chafing-Dishes komplett aufgefüllt.  Wer soll das alles essen, frage ich mich. Die Vielfalt an Obst und Gemüse ist wirklich erstaunlich.  Eine ganze Pyramide aus chinesischen Pomelos befindet sich gleich neben gebratenem Okra und gekochtem Maniok. Das Angebot scheint schier grenzenlos. Wahnsinn, ich will am liebsten alles probieren und lade mir Okra und Pomelo auf meinen viel zu kleinen Teller. Auf meinem Platz wartet immer noch der fremde  Teller. Darauf befinden sich kaltgewordene Kartoffeln und ein Steak in brauner Soße. Mein Gesicht verzieht sich als ich es probiere, denn es ist zäh und schmeckt nach Enttäuschung und Missmut. Angewidert schiebe ich es beiseite.

Dann koste ich vom Okra. Das letzte Mal, dass ich es probiert habe, ist schon ein Jahr her und damals hat es mir nicht geschmeckt.  Aber eine zweite Chance schadet ja nicht, oder? Oh wow, völlig überrascht muss ich feststellen, dass es mir schmeckt. Vielleicht haben sich meine Geschmacksknospen seit letztem Jahr verändert und ich sollte mehr Dingen noch eine Chance geben? Wer weiß… Nun widme ich mich der Pomelo. Ich schäle sie, aber sie ist noch nicht reif und schmeckt furchtbar bitter. Erneut verzieht sich mein Gesicht und ich bekomme eine Gänsehaut. Niemand scheint mich zu bemerken. An allen Tischen ist man in sein jeweiliges Gespräch vertieft, aber niemand beachtet den anderen. Es gibt keine Interaktion. Jeder scheint völlig ungerührt vom Ambiente und Angebot des Restaurants zu sein, als wäre es das Selbstverständlichste der Welt jeden Abend hier zu dinieren. Als ich versuche eine ältere Dame am Nachbartisch anzusprechen ignoriert sie mich und stochert weiter in ihrem Steak herum. Begeistert sieht sie nicht aus. Großartig, denke ich und esse auf.

Satt und dankbar fühle ich mich, nur ist da dieses flaue Gefühl von verpassten Möglichkeiten in meinem Magen. Nachdem ich gegangen bin schaue ich draußen noch einmal über meine Schulter zurück und entdecke 12 Sterne im Logo des Restaurants. Sie leuchten und heben sich klar vom Schriftzug ab. Komisch, dass sie mir davor überhaupt nicht aufgefallen sind.

Als mir auffällt, dass ich vergessen habe zu bezahlen, betrete ich noch einmal das Restaurant und spreche einen der Kellner an. Er schaut etwas verwirrt und meint: „Es ist doch alles umsonst.“

„Möchtest du denn kein Dessert?“, erkundigt er sich nach einem Moment der Stille. Eigentlich wollte ich so schnell wie möglich nach Hause, aber da lächelt mir die ältere Dame von vorhin zu. „Gerne“, sage ich zum Kellner und setzte mich zu der Frau. Sie erklärt mir, dass sie mich nicht mit Absicht ignoriert hat, sondern, dass sie mich nicht hörte, da ihr Hörgerät abgeschaltet war. „Du hättest mich nur antippen brauchen, gib nicht so schnell auf das nächste Mal“, rät sie mir. Als wir zum Ende unseres Gesprächs kommen, haben wir das Dessert schon lange verspeist und eines kann ich euch sagen: Es hat vorzüglich geschmeckt. Für nächstes Jahr habe ich gleich eine Sitzplatzreservierung vorgenommen. Die alte Dame und ich, wir wollen uns wieder treffen und das Gespräch zu ein paar der anderen Gäste suchen. Das Essen ist zwar gut, aber mit guter Gesellschaft ist es nun mal unübertrefflich.

von Patricia Cemus

Gladiator*innen brauchen Blutwurst

Zerstörerisch, das Jahr 2018 gehörte den politischen Gladiator*innen. Das hatte unsere Generation nicht erwartet. Die Nachkriegspolitiker*innen bieten die Moral wieder zum Zerfleischen an!

Der sozialdemokratische Gladiator verschiebt seine Maske Richtung rechts und sichtbar wird die Wahrheit des gierigen Strebens nach Macht. Sie haben sich selbst, ihre eigenen engen Freund*innen und ihre stärksten politischen Persönlichkeiten historisch zerschlagen.

Damit ihr groß und stark werdet, haben sie gedacht und immer eine Scheibe Wurst extra gegeben. Die Union hat die AFD gegen die giftige politische Alternative „rot-rot-grün“ groß genährt.  Und nun? Merkel steht am Tellerrand ihrer politischen Karriere, riesiger Vertrauensverlust für die etablierten Parteien und bald werden Sachsen-Anhalt und Brandenburg der AFD zum Verzehr angeboten! Seehofer lächelt mit den letzten Atemzügen nochmal geschmacklos in die Medien, bevor er auf der Islamkonferenz „deutsche“ Schweinsblutwurst für die Eingeladenen serviert. „İnşallah halal!“

Wer das nicht will, der hat wohl schon – oder nicht? Von den versprochenen Reformen, wie der Erhöhung des BAföGs oder der Mietpreisbremse, bleibt nicht viel. Der Gewinn der Waffenindustrie hat Priorität. Waffen im Wert von Millionen werden in blutige Händen exportiert. Wer hat schon Menschenrechte bestellt?

Ein bisschen schmackhafter wird der Ungerechtigkeitsbrei nur durch die Stärkung starker Frauen – das hat auch nur einige tausend Jahre gedauert. Viele Menschen sind noch immer sprachlos, warum das so schnell gehen konnte und saugen hungrig den duftigen Geschmack von Gleichberechtigung auf. Aber ich habe keinen Hunger, mich macht der jüngste Skandal beim Spiegel appetitlos.

von Salar Pashai

Bild: © Friederike Teller

Und das soll schmecken?

Über das richtige Gericht wird bei uns an Weihnachten nie gestritten. Es gibt wie jedes Jahr eine spanische Paella, was frei übersetzt bedeutet: Reis mit Scheiß in einer großen Pfanne oder Heute verbrauchen wir, was 2018 im Kühlschrank liegen geblieben ist. Im Hintergrund läuft Bella Ciao von DJ Hugel.

Auf dem ersten Blick sieht die Paella genauso aus wie immer. Beim traditionellen Fotovergleich mit letztem Weihnachten erkenne ich dann die Unterschiede: Die Paella ist brauner als noch vor wenigen Jahren. Ich sehe Söder mit seinen Kruzifixen, Chemnitz auf Hetzjagden (Hat Vater tatsächlich Hasi in die Pfanne gehauen?), Maaßen, Seehofer, Tausende Mittelmeertote und ekelerregende Reden der Alternative für Demokratie.

Stabilität wurde uns mit der Neuauflage der GroKo versprochen. Koalitionsstreit, Auseinandersetzungen, Eitelkeiten und Alleingänge haben wir bekommen. Der erste Happen schmeckt bitter. Wie geht es den anderen am Tisch? Die Tochter von Sigmar Gabriel freut sich, dass keine Haare in der Pfanne sind, der Onkel im Deutschlandtrikot weint leise vor sich hin, die Alt 68er-Oma schimpft laut über die Sozialdemokraten und die junge Influencerin wechselt die Musik. Capital Bra wird jetzt gehört.

Ich fische die Meeresfrüchte und den toten Hasi vom Teller und lege sie mitleidig zur Seite. Sie sind für mich Vegetarier umsonst gestorben. Der Tod hat auch 2018 nicht vor berühmten Persönlichkeiten Halt gemacht: John McCain, George H. W. Bush und Kofi Annan sind tot. Wir sind uns am Tisch einig: Das waren zwar streitbare, aber authentische Politiker mit klarem Profil, anders als die Autokraten, Egomanen und Trumpisten der heutigen Zeit. Melancholisch denken wir an die Golfkriege sowie an Stephen Hawking, halten inne und blicken ehrfurchtsvoll zu seinem Buch unterm Weihnachtsbaum. Onkel meint es sei Zeit die Musik zu wechseln, um auch den toten Künstlern zu gedenken. Schließlich sind Avicii und Demba Nabé (Seeed) dieses Jahr verstorben. Mutter schüttelt den Kopf und erwidert genervt, dass er Aretha Franklin vor lauter Männern nicht vergessen solle.

Die junge Influencerin hat nichts gegessen, aber schon 2,618 Likes und 532 Retweets für die Paella bekommen. Ihr entfährt ein entsetzter #Aufschrei: Ihhh, Papa hast du tatsächlich mit Walfleisch gekocht? – Nein, erst im nächsten Jahr, versichert Vater. Weiß jemand, ob eigentlich der #Hambibleibt, will die Alt-68er Oma wissen, um das Thema zu wechseln. Zeit zum #Aufstehen, denke ich, um der Situation zu entfliehen und meinen Lieblingssong 2018 anzumachen. Ich entscheide mich dafür die angespannte Stimmung mit Parcels aufzuhellen.

Der Teller ist leer, aber ich nehme mir mehr.

Viele der Zutaten in der Paella schmecken mir ganz und gar nicht. Trotzdem ist das weder ein Grund sie nicht zu essen, noch sie still herunterzuschlucken. Direkt nach dem Essen werde ich die schlechten Zutaten benennen, kritisieren und mit allen Mitteln dafür kämpfen, dass die Paella nächstes Jahr anders gewürzt wird.

Schließlich kochen wir alle mit.

von Paul Stegemann

Illustration: ©Lena Leitner
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