Pop, Politik und Pandemie – ein Blick ins Jahr 2021

von Paul Stegemann | Beitragsbild: © Nora Boiko

Glühwein darf nicht kochen, sonst geht der Alkohol verloren. Das Jahr 2021 endet wie es begonnen hat: mit abgesagten Konzerten.

Vier kalte Nasenspitzen treffen sich unter einem Mistelzweig auf dem Bochumer Weihnachtsmarkt. Aus ganz Deutschland sind eine Autorin, ein Lektor, eine Illustrator:in und eine Aktivist:in des sai:kollektiv angereist, um einander zu herzen. Und um gemeinsam zurückzuschauen auf 2021, zumindest ist das der geheime Plan der Autorin. Ein semi-fiktionaler Abend im Ruhrgebiet.

Immerhin findet der Markt hier statt! Wisst ihr, was in Sachsen gerade abgeht?, fragt die Aktivist:in. Sie nimmt einen Schluck aus ihrer Glühweintasse mit dem Weihnachtsbaum, um sich aufzuwärmen und um Themen zu finden, die nicht Pandemie heißen. Es war doch 2021 genug los. Aber im Dezember ist es wieder so wie im »Wellenbrecher-Lockdown«, damals im Januar – und im Februar. Und bis April natürlich. Alles dreht sich um Corinna. Diesmal reden die vier nicht mehr über Inzidenzen und R-Werte. Regen sich nicht darüber auf, dass Home-Office optional war als die Intensivstationen überlastet waren. Dass die Unis nicht öffneten und sich niemand dafür interessierte. Im Dezember 2021 reden sie nur noch übers Impfen. Sie erzählen, wer sich nicht geimpft hat und den Booster schon drinne hat. Wisst ihr noch im Mai als wir uns bemühten in einer Impfkategorie aufzusteigen? Und habt ihr befreundete Impfgegner:innen?

In der Wellenbrecher Depression schrie Disarstar in Moll, dass der Kapitalismus Schuld ist. »Deutscher Oktober« war das wichtigste Rap-Album im deutschsprachigen Raum für den Klassenkampf, sagt die Aktivist:in. Das wissen die meisten nur deshalb nicht, weil der Rapper Danger Dan im Mai ein Album veröffentlichte, das ihm niemand zugetraut hatte. Ein Klavieralbum, in dem er mit säuselnder Stimme dazu aufrief notfalls militant den Kapitalismus zu besiegen. Doch nicht nur die linksradikalen, männlichen Rapper bringen Kapitalismuskritik in den Mainstream, weiß der Lektor. Shirin David, die Queen of Deutschrap hat sich drei Scheiben bei Nuras Album »Auf der Suche« abgeschnitten und veröffentlicht mit »Bitches brauchen Rap« ihr stärkstes feministisches Album bis dato.

Sind das die Soundtracks der neuen Ampel-Koalition? Wohl kaum, weiß die Aktivist:in. Auch wenn Christian, Volker und Robert bestimmt gern »Das ist alles von der Kunstfreiheit gedeckt« mitsummen und über die AfD-Beleidigungen schmunzeln – ihre Politik wird sich weiter an Kapitalinteressen orientieren. Die Bundestagswahl und ihr Wahlkampf beschäftigten den politischen Sommer. Drei schwache Trielle und Armins Lacher im Ahrtal werden uns nicht in Erinnerung bleiben, weil wir uns schon im Dezember an den langweiligen Neu-Kanzler Scholz gewöhnen. Gab es echt je eine Chance für Baerbock? War die LINKE vor vier Jahren wirklich bei 13 Prozent? Wir gewöhnen uns schnell an ungewohnte Realitäten. Das ist die sicherste Erkenntnis im zweiten Jahr Covid.

Vergessen ist auch, dass Bündnis 90/ Die Grünen, die Klimaschutzpartei, schon beim Schreiben des Programms für die Wahl abgewunken hat: Das 1,5 Grad Ziel des Pariser Abkommens werden wir mit den anderen Parteien eh nicht erreichen! Flutkatastrophe hin oder her. Vielleicht ist das ja auch einfach ehrlicher, ehrgeizige Ziele nicht zu formulieren, lacht die Illustrator:in. Sie gibt ihre Neujahrsvorsätze erst im Februar auf. Du bist nicht allein, sagt der Lektor. Auch bei konservativen Politiker:innen kommt die Ehrlichkeit erst später. Armin Laschet hat nach seinem gescheiterten Wahlkampf bei Maischberger im Oktober einen einzigartigen Einblick in die Arbeit von Spitzenpolitiker:innen gegeben und erklärt, wie scheiße es ist, den Launen von Markus Söder ausgeliefert zu sein.

Markus Söder, bayrischer Ministerpräsident von Gnaden der CSU, hat einen außenpolitischen Horizont , der nicht über den Flug von München nach Berlin hinausgeht. Das sagte zumindest ein CDU-Spitzenpolitiker im vertraulichen Gespräch zur Autorin. Söder wird also das wichtigste internationale Album des Jahres verpasst haben: mitten in der Pandemie lieferte Billie Eilish mit »Happier Than Ever« pathetische Botschaften in Songtiteln und Empowerment für Millionen von Gen Zs. Das wird auch die Kosmopolitin Angela Merkel gehört haben. Bei ihrem Zapfenstreich entschied sie sich aber gegen die Songs des Popstars und sorgte mit ihrer Songauswahl für die kontroverseste Debatte des Jahres auf Twitter. Habt ihr Nina Hagens Statement dazu gelesen?, fragt die Illustrator:in. Nö, aber ich wünsche der Kanzlerin alles Gute für den Ruhestand, sagt die Aktivist:in. Im Dezember scheinen 200 % der Deutschen mit Angela Merkel zufrieden zu sein.

Ins Exil, aber nicht in den Ruhestand, haben sich 2021 Prinz Harry und seine Frau Meghan begeben. In Los Angeles leben die Royals jetzt fernab von dem Rassismus der eigenen Familie und mit einer neuen Nähe nach Hollywood. Zusammen saßen sie in bester Sommerinterview Stimmung bei Oprah Winfrey und gaben den tiefsten Einblick in das britische Königshaus seit der Netflix-Produktion »The Crown«. Das habe ich nicht geschaut, sagt der Lektor. Er ist seit diesem Jahr bei Mubi. Das ist mehr Indie.

Boah, interessiert ihr euch echt für die Royals?, schnaubt die Aktivist:in. Holt euch lieber noch einen Schluck. Zuhause gibt es doch auch Glühwein. Also ziehen die vier Gestalten ins Warme, bringen den Wein zum Kochen, schimpfen, trauern dem verdunsteten Alkohol hinterher und kippen Amaretto nach. Im Jahr 2021 haben sich weniger Jugendliche ins Koma gesoffen. Wer nicht feiern gehen kann, wird nicht von den Drogen verführt, sagt der Lektor. Ob wohl nächstes Jahr schon Cannabis legal wird? Jetzt wird erstmal getanzt, »Der letzte Song« von Kummer dröhnt aus der Anlage.

Die Autorin möchte nicht tanzen, sondern noch etwas Inhaltliches mitnehmen: Was war denn euer Lieblingsroman 2021? Wir sind ja ein schreibendes, kein tanzendes Kollektiv. IDENTITTI!, sagen die anderen im Chor. Ach, und kam Ministerium der Träume eigentlich auch erst 2021 raus? Ja, und das Cover war so schön, schwärmt die Illustrator:in. Radikale Zärtlichkeit haben auch alle vier gelesen. Der Lektor war begeistert, die Aktivist:in gelangweilt. Drei Kameradinnen hat nur die Autorin gelesen. Die Illustrator:in empfiehlt das Buch Im Menschen muss alles herrlich sein – einfach hammer. Das Printmagazin des sai:kollektiv, kam das auch dieses Jahr?

Kurz vor dem Ende der Nacht sitzt doch nochmal Covid im Sitzkreis. Habt ihr die Rede von Mia Mottley gesehen?, fragt die Aktivist:in. Auf der COP? Niemand hat so eindringlich vor den Folgen der Klimakrise gewarnt wie sie. Nein? Solltet ihr euch mal anhören. Was macht ihr denn jetzt mit ungeimpften Freund:innen, fragt die Autorin. Auf dem Weihnachtsmarkt sind alle der Frage ausgewichen. Auch diesmal reagiert keine:r. Niemand hat Lust zu antworten, aber eigentlich wissen es alle besser. Das war er wohl, notiert die Autorin, der Zeitgeist des Jahres 2021.


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