„Kurdistan, die internationale Kolonie“

Rückkehr ins Mittelalter!

von Salar Pashai | Illustration: © Nora Boiko

Plötzlich befinde ich mich mitten in einer Masse von rund viertausend Demonstrant*innen. Die Rufe werden immer lauter: „Alle, zusammen, gegen den Faschismus“, „Europa finanziert, Erdogan bombardiert“, „Es lebe Rojava“ und „Freiheit für Kurdistan“. Die Straße unter den Linden bis zum Brandenburger Tor in Berlin sind wegen der großen Demonstration gesperrt. Aufgrund der Entscheidung von Donald Trump am 7. Oktober die amerikanische Armee aus Nord-Syrien abzuziehen, marschiert die Türkei auf Erdogans Befehl in das kurdische Gebiet ein. Die Demonstrant*innen in Berlin solidarisieren sich wütend, aber dennoch friedlich mit den Kurd*innen. Viele Zuschauende filmen die Demo mit ihren Handys. Manche begleiten sie ein Stück, andere demonstrieren gleich mit. Viele Studierende sind dabei. Zwei Wochen später beschließen die USA und die Türkei eine Waffenruhe in der Region. Doch die traurige Historie des kurdischen Volks gibt ausreichend gute Gründe, diesen „Frieden“ anzuzweifeln.

Die tragische Geschichte der Kurd*innen ist geprägt von mehrmaligen Volksvertreibungen und militärischen Besetzungen in allen Teilen von Kurdistan durch unterschiedliche Staaten. Für die Menschen in der Region besteht wenig Hoffnung auf echten Frieden. Ich frage mich: Kann die Politik durch solche Demos geändert und die militärische Offensive gestoppt werden? Zweifel an allem ist mein stärkstes Gefühl. Ich bin selbst Kurde und habe lange Zeit gegen die islamistische Diktatur in Ost-Kurdistan, im Iran, gekämpft. Aufgrund meiner politischen und journalistischen Aktivitäten wurde ich vom iranischen Geheimdienst politisch verfolgt. Ich erinnere mich an viele schreckliche Erfahrungen, die wir durch die Besetzer Kurdistans und die Assimilationspolitik erfahren haben. Heute geschieht es wieder: Ein Diktator, wie Erdogan, marschiert militärisch gegen die Kurd*innen in „Rojava“ in West-Kurdistan. Wieder geschieht ein Massaker an Frauen, Kindern und Zivilist*innen. Was für eine Barbarei im 21. Jahrhundert!

©Nora Boiko

Zwei Jahre nach dem arabischen Frühling im Jahr 2010 haben die Kurd*innen eine eigene Revolution gegen Assads Regime geführt und ihre kurdischen Gebiete befreit. Seit dem Jahr 2012 haben die Kurd*innen in Nord-Syrien ein zweites Bundesland: Rojava. Das erste kurdische Bundesland wurde 1991 im Nord-Irak nach dem Golfkrieg und der Revolution der Kurd*innen gegründet.

Heute erleben wir wieder eine Volksvertreibung, wie im März 2018 in Afrin, durch die Armee des NATO-Mitglieds Türkei in Rojava. Die Kurd*innen haben in ihrer Geschichte nicht nur zahlreiche, blutige Volksvertreibungen im Iran, Irak und der Türkei erlebt, sondern sie mussten auch den Genozid im Mittelalter, sowie den Genozid durch Saddam Husseins Regime in Halabja im Irak in den Jahren 1986 bis 1988 durch Chemiewaffenangriffe erleben. Damals schwieg die gesamte Welt hinsichtlich des Genozids an den Kurd*innen. Mittlerweile hat der internationale Strafgerichtshof in Den Haag den Genozid an den Kurd*innen anerkannt, die deutsche Bundesregierung sträubt sich noch davor.  

Die aktuelle Mission der Türkei hat die angebliche „Terrorbekämpfung“ zum Ziel. Es ist ein skandalöses Theater vor den Augen der ganzen Welt, vor den Friedensbemühungen der Vereinten Nationen und allen westlichen Ländern. Eine neo-osmanische, islamistische Ideologie sowie eine nationalistische Grundhaltung sind die Kernelemente der politischen Identität Erdogans und seiner Anhänger*innen. Der militärische Einmarsch ist keine „Terrorbekämpfung“ im Nachbarland Syrien. Es ist reiner Rassismus gegen die Kurd*innen als ein zerstörtes, geteiltes Volk zwischen vier Ländern: Syrien, Türkei, Irak und Iran. Die Kurd*innen wurden immer wieder unterdrückt und verfolgt.

Meiner Meinung nach resultiert der Einmarsch in Wahrheit aus einer schmutzigen Einigung zwischen den USA, der Türkei, dem Iran und Russland. Assads Regime hat inzwischen die Kriegslage ausgenutzt, um im Namen des Schutzes der syrischen Grenze, die kurdischen Gebiete zu erobern. Die kurdischen Kräfte sind somit in einem Dilemma zwischen der Einigung mit dem alten Besetzer Assad und dem aussichtslosen Kampf gegen die türkische Armee.

Rojava ist nicht nur für die Kurd*innen selbst eine wichtige Region. Sie gilt vielmehr als eine Barrikade gegen den islamistischen Fanatismus und als ein emanzipatorischer Vorreiter in Hinblick auf die Gleichberechtigung von Frauen. Die Region steht für ein friedliches Zusammenleben aller Religionen und aller Nationen in Kurdistan. Somit ist Rojava nicht nur ein starker Anhänger von universalistischen Werten, sondern ein Vorbild für den gesamten Nahen Osten.

Die tatsächliche Wurzel für die blutige Geschichte der Kurd*innen und den derzeitigen Konflikt liegt in einem gewalttätigen Krieg im Jahr 1514 zwischen dem damaligen, der sunnitischen Richtung des Islams angehörigen, osmanischen Reich und dem schiitischen safawieten Reich. Die Kurd*innen waren die Hauptopfer dieses Krieges, an dessen Ende das kurdische Gebiet zwischen den beiden Reichen aufgeteilt wurde. Während des ersten Weltkrieges und mit dem Zusammenfall des osmanischen Reichs, gründeten die mächtigen Kolonialisten als Gewinner des Krieges – Großbritannien und Frankreich – unter anderem die neuen Länder Irak, Syrien und die Türkei. Diese historisch katastrophale Entscheidung wurde mit dem Sykes-Picot-Abkommen im Jahr 1916 getroffen. Obwohl 1920 im nächsten Abkommen „Sevres“ ein unabhängiges Kurdistan anerkannt wurde, haben sich die Besetzungskräfte aus der Türkei, dem Irak und Syrien nicht aus der Region zurückgezogen. Das „Seyres“-Abkommen wurde nie in seinem eigentlichen Sinn umgesetzt. Das Sykes-Picot-Abkommen führte dazu, dass der Anspruch der Kurd*innen auf einen unabhängigen Staat komplett missachtet wurde. Der Nationalismus neuer, mächtiger, militärischer Führer, führte in diesen Ländern zudem zu einer systematischen blutigen Unterdrückung der Kurd*innen und ihrer politischen Bewegungen in den letzten 100 Jahren. Alle Formen der Assimilation gegen die Ethnie und das Nationsgefühl der Kurd*innen wurden Teil der Ideologien der „modernen“ Nationalstaaten Türkei, Irak, Iran und Syrien. In ihren Vorstellungen gibt es in einem Staat nur eine Nation und eine Sprache.

Zwar ist diese Assimilationspolitik in diesen Ländern historisch gescheitert, aber die Kurd*innen werden heute noch immer von der Terrororganisation IS oder souveränen Staaten, wie der Türkei, im Namen von Allah als „Ungläubige“ bezeichnet. Ihre säkularen politischen Bewegungen, ihre Souveränitätswünsche und ihre Selbstverteidigung in eigenen, historischen Gebieten, wird als „Terrorismus“ verurteilt und sie werden militärisch angegriffen und besetzt. Der militärische, bewaffnete Kampf von Kurd*innen ist in den letzten Dekaden eine dialektische Reaktion gegen die systematische Unterdrückung und Assimilationspolitik in diesen Ländern.

 „Sie sind die gleichen Kurden, die Merkel als mutige Kämpfer gegen den IS bezeichnet hatte. Die gleichen Kurden, die Jesiden vor dem IS retteten. Die gleichen Kurden, die an der Seite der USA kämpften, die gleichen Kurden, die jetzt zum Abschuss freigegeben werden“, meint der Journalist Georg Restle. Die Welt verrät sie und lässt sie gegen die zweitstärkste NATO-Truppe allein. Die Kurden haben „No Friend but the Mountains“, schreibt der Autor Behrouz Boochani.

Die Kurd*innen werden dieser Tage mit deutschen Panzern, einem europäischen Kampf-Flugzeug und amerikanischer Gleichgültigkeit bombardiert, vertrieben und besetzt. Kurdistan ist eine internationale Kolonie. Zweifellos wird der Emanzipationstraum der Kurd*innen durch die Assimilation, die Volksvertreibung und Genozid-Politik im Nahen Osten dennoch nicht komplett ausgelöscht werden.

Solange Europa allerdings gegen die katastrophale Politik von Erdogans Regime militärisch passiv bleibt, solange die ganze Welt schweigt, muss die verfolgte „Menschenrechtspolitik“ der westlichen Länder in Frage gestellt werden. Die EU Länder könnten gemeinsam Druck auf Erdogan ausüben. Sie könnten zum Beispiel die NATO-Mitgliedschaft der Türkei in Frage stellen. Sie könnten gravierende, wirtschaftliche Sanktionen gegen das Regime beschließen und die Waffenexporte von allen EU Ländern an die Türkei endgültig stoppen.  Nur ein starkes Handeln kann die türkische Militäroffensive stoppen und den Kurd*innen helfen.

Das Flüchtlingsabkommen mit der Türkei hat ohnehin keine Bedeutung mehr. Diese militärische Intervention verursacht tatsächlich die nächste Flüchtlingswelle nach Europa, während Erdogan mit den geschenkten Milliarden der EU seinen militärischen Besitz finanziert. Bei seinem engen Partner Russland hat er zudem die Annexion der Krim beobachtet und gelernt, dass alle internationalen, humanitären Abkommen missachtet werden können, ohne dass die internationale Staatengemeinschaft das verhindern kann.

Es ist letztendlich in dieser Lage machtpolitisch und strategisch notwendig, dass die EU-Staaten gemeinsam ihre diplomatische Kraft in die Anerkennung des kurdischen Bundeslandes Rojava setzen, um das kurdische Volk zu schützen. Gleichzeitig müssen sie dringend alle möglichen humanitären Hilfsleistungen vor Ort in den kurdischen Gebieten organisieren und das weitere unnötige Sterben von Zivilist*innen stoppen.

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