Die Ungewissheit der Bildung

von Paula Peikert | Illustration © Ronja Decke

Manchmal passiert es, dass ich mich in eine Straßenbahn verirre, und ohne zu wissen warum, und ohne ein gültiges Ticket zu besitzen, einfach drinbleibe und warte bis die Welt draußen immer weniger wird. Dann sitze ich da und alles fliegt vorbei: Zerstückelte Bilder der Stadt, im Sekundenbruchteil wieder entschwundene Menschen, Gesprächsfetzen, Gerüche, Lärm, das Rattern der Straßenbahnen, gelegentlich ein Kälteeinbruch, der durch die blau gemusterten Sitzreihen fegt und nichts anderes duldet als vollständige Unterwerfung.

Und ich sitze da und unterwerfe mich vollständig. Dem Chaos, dem Lärm und der Gewalt der unerbittlichen Kälte – ich sitze und ich denke.

Ich denke über die Dinge nach, die ich weiß. Die festen Tatsachen der Welt, an die sich klammern lässt. Ich schaue raus und sehe kühle Mützenmenschen, Regenschirmmenschen, sehe den Himmel sacht weinen, in den Pfützenwasserregenkreisen, sehe Krähen grau am Himmel, sehe schöne, schöne, kalte Welt. Sind das da draußen unerschütterlich feststehende Tatsachen? Ich schaue raus, und die Wahrheit schaut nicht rein.

Was auch immer ich dachte zu wissen, was auch immer ich denke, ich weiß.

Ich weiß doch eigentlich nichts!

Warum weiß ich denn nichts?

Warum habe ich den Eindruck, nicht genug zu wissen?

Wurde ich doch für etwa 10 Jahre in den breit gefächerten Klassenzimmern unseres Bildungswesens zu einem mündigen, verständigen, funktionierenden Mitglied dieser Gesellschaft erzogen.

Wurde ich nicht unabhängig meiner Religion, Weltanschauung, Rasse oder ethnischer Herkunft, einer möglichen Behinderung, meines Geschlechts oder meiner sexuellen Identität in meinen Begabungen, Neigungen und Fähigkeiten gefördert? Wurde nicht die freie Entfaltung meiner Persönlichkeit und die Orientierung in der modernen Welt mir durch meine exzellente schulische Erziehung ermöglicht?

Nun, kurz gesagt, ich bin der Meinung, obiges ist nicht der Fall und könnte nicht ferner der Realität sein. Über das, was ich beim Blättern im Schulgesetz finde, kann ich nur lachen:

Die Schule fördert die Lernfreude der Schüler. Mit der Vermittlung von Alltags- und Lebenskompetenz und durch Berufs- und Studienorientierung bereitet sie die Schüler auf ein selbstbestimmtes Leben vor.

§1 Artikel (4) Sächsisches Schulgesetz

Nein Schule, ich kann vieles über dich sagen, aber dass du mir Lebenskompetenz vermittelt hättest, geht dann doch zu weit. Und was sind das überhaupt für Ausdrücke? Lernfreude! Selbstbestimmt!

Schule begegnete dem Ich meiner Vergangenheit als die Personifikation allen Übels. Zumindest, wenn sie meine Zeit fraß. Meine Freiheit raubte. Sie beugte subtil die Köpfe, zwang die Rücken gekrümmt auf ihre Bänke. Sie stach bedrohlich den Zeigefinger in die Luft. Strich an, strich durch und setzte schicksalshaft, mit ungeheurem, tintenpapierkratzigem Geräusch die Vier unter meine ungenügende Mathematik-Arbeit.

Oh, welch Lernfreude ich stets empfand, wenn ich im Physikunterricht gedemütigt vor der ganzen Klasse meine fünf in der mündlichen Leistungskontrolle empfing!

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Und dann sitze ich im Klassenzimmer, verwirrt.

Denn einige Jahre später, vom Auslandsjahr zurück, fällt mir plötzlich auf: Ich möchte lernen! So viel wie möglich! Lesen, verstehen, mich bilden, durchschauen was das ist: Welt. Ich habe auf einmal keine Angst mehr vor Mathe, sondern Freude daran. Ich sitze lieber in der Bibliothek und lese Geschichtsbücher, lerne lieber Französisch, statt feiern zu gehen.

In der Schule schreibe ich plötzlich Einsen und Zweien. Und doch sitze ich fest. In einem Käfig aus Notenpunkten und Klausuren. In einem System, das nicht dieselben Bildungsideale vertritt, wie ich. Was mich, den Idealvorstellungen der Schule gemäß, in meinen Neigungen, Begabungen und Fähigkeiten fördern sollte, mir laut Gesetz freie Entfaltung meiner Persönlichkeit garantiert, hält mich davon ab genau das zu tun.

Ich muss in die Schule, weil man das eben muss. Ich brauche die Schule, um mein Abitur zu erhalten. Doch ich kann nicht in der Schule bleiben, wenn ich mein Ideal der Bildung verfolgen will. Ich kann nicht bleiben, weil mir ein unzulängliches System nicht reicht.

Ich bin verwirrt, verzweifelt.

 Jetzt bin ich draußen, frei.

Denn ich entscheide mich, entgegen aller Ratschläge und Warnungen, für mein Bauchgefühl. Entscheide mich gegen die Sicherheit und für die Freiheit.

Ich laufe eines Tages einfach hinaus. Habe die letzten Bücher im Sekretariat abgegeben, meine ausgestellten Kunstprojekte aus den Glasgefängnissen ihrer Rahmen befreit, alles mit allen Beteiligten abgesprochen, bedenkliche Blicke und Empörung geerntet. Doch ich bin frei. Ich hüpfe zum letzten Mal die unheimlichen Treppen des roten Backsteingebäudes hinunter, neugierig auf die weite Welt, die vor mir liegt. Frei, frei!

Meine Bildung, mit Ende der Schule, ist nicht zu Ende. Sie fängt erst richtig an.

Denn mittlerweile, viele Reiseerlebnisse und Erfahrungen später, sitze ich fast jeden Tag in meiner Lieblingsbibliothek. Und lerne für mein Abi.

Ich, die Schulabbrecherin, die ihre Freiheit niemals für diese griesgrämig in Klassenzimmern sitzende Realität hat opfern wollen, lernt nun Mathe, Bio, Geschichte. Die Bildungsrebellin schreibt textgebundene Erörterungen in ihrer Freizeit und findet es klasse, Gedichte auswendig zu lernen. Ich werde mein Abitur machen.

Zu meiner Freude muss ich dafür nicht in die Schule. In keine normale Schule, in keine Abendschule, muss keinen ILS-Kurs oder sonstiges belegen. Die willkommene Nische im Schulgesetz, nennt sich “schulfremdes Abitur”. Das bedeutet im Klartext, dass jede Person, die älter als 19 Jahre ist, das Abitur machen darf.

Es bedarf einzig und allein eines Antrags auf Abiturzulassung an die jeweilige Bildungsagentur- einer Bewerbung nicht unähnlich- und es muss nachgewiesen werden, dass man sich angemessen darauf vorbereiten wird. Als “Schulfremde” werde ich also bei den Prüfungen an einer beliebig zugeteilten Schule auftauchen.

Abitur – was für mich nicht mehr als ein Konstrukt einer scheiternden Bildungsinstitution darstellt, ein immer wertloser werdender Zettel, der Menschen mit Zahlen denotiert und auf den man sich nicht zu viel einbilden sollte. Ich bin mehr als Zahlen, dachte ich mir in der Schule – bin mehr als durchnummerierte Seiten Papier.

Doch genau dieses Papier zeigt in meinem Fall, dass es auch ohne Schule, auch ohne Angst und Zwang geht. Es wird ein offizieller Stempel auf einem durch und durch selbstbestimmten Bildungsweg sein.

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Selbstbestimmter Bildungsweg ist das, wonach es klingt

Ich habe mich entschieden, die komplette Eigenverantwortung für die Art und Weise, wie ich mich bilde, zu übernehmen. Ich lerne, was und wie ich will. Ich lerne, weil ich in meinem Innersten von einer unerträglichen Neugier überwältigt werde, dass ich eben einfach nicht nicht lernen kann. Ich lasse mir von keiner Institution, Autorität oder Bildungseinrichtung sagen, was ich zu denken habe. Ich möchte nicht weiter die Gedanken anderer blind übernehmen, möchte alles in den filternden Organismus meiner Gehirnzellen werfen und darüber nachdenken, bis ich zu einem eigenen Entschluss gelange.

Ich möchte das Recht haben, immer und immer weiter “warum” zu fragen, ohne dass mir die Antworten verweigert werden und ich auf den rechten Weg eines straffen Lehrplans zurückgeleitet werde.

Und ich möchte versuchen, meine Welt zu verstehen, denn wie soll ich sie sonst besser machen?

Wir.

Wir – unsere Generation! Wie kann es sein, dass dieses im alten Preußen wahrhaft reformistische Ideal humanistischer Bildung immer noch in unserer Zeit Anwendung findet?

Wir, die wir buchstäblich die Welt in der Hand haben. Die mit dem Streicheln unserer Fingerspitzen auf phosphoreszierendem Glas in Sekundenschnelle Zugriff auf jede gewünschte Information haben.

Wir brauchen niemanden, der uns dieses Wissen portionsweise und in vorgekauter Art serviert. Wir brauchen keine allwissenden Lehrermaschinen und keine Tests, die nichts anderes messen als unsere Fähigkeiten, unter Druck und Panik Wissen in uns hineinzufressen. Wir brauchen keine vorgegebenen Gedanken, die wir einfach nur übernehmen können. Wir brauchen innovative, originelle, durchdachte Antworten auf die Fragen unserer Welt!

Wie aufgeklärt unsere Welt auch sein mag, ihre Menschen sind es nicht. Das höchste Ziel einer Institution, die von sich behauptet, Schüler*innen zu mündigen, reflektierten und selbstbestimmt lebenden Menschen zu erziehen, sollte nicht sein, ihnen den Mut zu nehmen.

Sie sollte junge Menschen ermächtigen, ihre Bildung in Zukunft selbst in die Hand zu nehmen. Und ihnen dabei die Möglichkeit geben, ihre innovativen Gedanken frei und selbstbestimmt gegen die Grausamkeit der Welt prallen zu lassen, ohne sie dabei schützend in rotem Backstein einzumauern.

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Schrill klingelnd spuckt mich die Straßenbahn hinaus in den Regen und unterbricht damit abrupt meine Gedanken. Ganz automatisch ziehen meine Füße mich auf den altbekannten Weg. Ich sammle Regentropfen ein, beginne zu rennen, damit ich wenigstens nicht vollkommen nass werde. Und endlich ragt über mir das neoklassizistische Gemäuer der Bibliothek zwischen den dunklen Silhouetten der Bäume auf. Atemlos bleibe ich davor stehen. Vor mir breitet sich Potential aus, stapeln sich Buchrücken über Buchrücken, stauben die Gedanken von vielleicht längst verstorbenen Menschen, in deren Köpfe ich schauen kann.

Über mir schwebt das gesammelte Wissen der Welt.

Und ich fühle mich klein, so klein. So viele Dinge, die ich wissen könnte! Und Millionen mal mehr, die ich nicht weiß.

Auf grauschwarzen Straßen hasten nass die regenwasserbespritzten Mützenmenschen vorbei. Und der Boden brodelt weich, in Wellen, in kochend eisigem Wasser, das die Welt mit Kreisen umkreist.

Vielleicht weiß ich nichts. Ich beginne zu vermuten, dass ich das nie tun werde.

Doch ich erklimme zitternd und bis auf die Knochen durchnässt die sieben Stufen zum Eingang der Bibliothek.

Und werde nicht mehr zu viel darüber nachdenken.

Ich möchte lieber lesen.

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