Literarische Ruhestörung

Illustrationen von ©Marit Brunnert

Die Worte, die sich in dein Auge schreiben, Seite für Seite, wenn du lesend versinkst, nicht um dich zu verlieren – was für eine verwaschene Redewendung – sondern mit einem Kopfsprung dir selbst entgegen springst.

Denn auch wenn Lesende oft friedlich und versunken wirken, brennt es in diesen Kubikzentimeternen Körpern in deren Händen ein Buch weilt.

Das sind diese Kopfkinoflammen, die immer dann, wenn du sie dem Außen zeigen willst, wie Staub zerfallen. 

Aber sie hinterlassen Spuren, irgendwo zwischen den Synapsen und Straßenkreuzungen glühen sie noch.

Literatur, die beim Lesen anstiftet diese Realitäten mal wieder gründlich zu-, hinter-, be- und überfragen. 

Sechs Kollektivlinge teilen mit uns ihre prosaischen und lyrischen Ruhestörungen – lies hier ihre Buchempfehlungen: 


„Schreibe so, dass die Nazis dich verbieten würden!“

Gegenwartsbewältigung von Max Czollek
– Paul Stegemann –

Nach seinem Bestseller „Desintegriert euch!“ aus dem Jahr 2018 veröffentlichte der Lyriker und Politikwissenschaftler Max Czollek in diesem Sommer seinen zweiten politischen Essay im Carl Hanser Verlag. „Gegenwartsbewältigung“ konstituiert ein Manifest für die plurale Gesellschaft. Sein Plan für das Buch war, „mich vom Phantasma der Heimat und Leitkultur zum Irrsinn des deutschen Volksbegriffs vorzuarbeiten, auf dem Weg die symbolischen Juden und Muslime aus ihren Vitrinen zu befreien und ein paar Gedanken zu entwickeln, wie man die AfD unmöglich machen kann.“ Einen Plan, den die Ereignisse der ersten Jahreshälfte des turbulenten Jahres 2020 schnell überholten. Der Tabubruch von Thüringen, der menschenfeindliche Anschlag von Hanau und nicht zuletzt die Covid-19-Pandemie erhöhten die Dringlichkeit einer aktuellen Gesellschaftsanalyse. In dieser kontert der Autor, wie versprochen, die Diskurse der deutschen Dominanzgesellschaft rund um Heimat und Hufeisen.

Er entlarvt die Lüge einer gemeinsamen „jüdisch-christlichen Kultur“ genauso als Erfindung der deutschen „Erinnerungsweltmeister“ wie die Erzählung einer „Allgemeinen Solidarität“ in Zeiten der Pandemie. Er erklärt die Potenziale intersektionaler, identitätspolitischer Bewegungen und warum die Glaubenssätze einer selbst erklärten Mitte im Angesicht realer Pluralität nicht das Fundament dieser Demokratie sein können. Czollek schreibt, dass er parteiisch und sein Buch eine Streitschrift sei. Außerdem beantwortet er, was nach der ganzen Dekonstruktion als basisbildende Gemeinsamkeit für die Deutschen noch bleibt: Ihre Differenz zueinander. „Deutsche hören Hip-Hop oder Schlager, gehen ins Theater oder zum Oktoberfest, besuchen mit Studiosus-Reisen die Türkei oder australische Sexpartys, manchmal auch beides.“

In „Gegenwartsbewältigung“ treffen twitterreife Punchlines auf ausführliche Gesellschaftsanalysen. Einer der sprachlich versiertesten Intellektuellen seiner Zeit Max Czollek (*1987) entwaffnet den rechten Zeitgeist rhetorisch und übergibt seinen Leser*innen einen Kompass für den Weg in Richtung einer „postmigrantischen Gesellschaft“. In diese radikale Vielfalt gehören eben nicht nur Mettigel und Kreuze zur „Leitkultur“, sondern auch Kippa, Hummus und Baklava.

Czollek, Max (2020): Gegenwartsbewältigung, Carl Hanser Verlag, München, 20,00€


Mit dem Hyperindividuum per Du

Allegro Pastell von Leif Randt
– Frieda Teller –

Auf der Suche nach der nächsten Metaebene, reflektieren sich Tanja und Jerome in Leif Randts Roman „Allegro Pastell“ ihre Liebe zusammen. Es ist eine Geschichte in der postmodernen Realität der späten 10er Jahren.

Voll vorauseilender Wehmut versuchen die priviligierten Protagonist:innen Tanja und Jerome ganz und alles zu sein, obwohl und weil alles schon da ist. Das fühlt sich so verdammt echt an, indem es so künstlich ist. Der Decathlon-Badmintonschläger wird genauso meta-analysiert, wie der ekstatische Partytrip oder der Leihwagen-Tesla. Die Beziehung zwischen Tanja und Jerome entwickelt sich erzählerisch durch Textnachrichten, ebenso wie in physischen Begegnungen irgendwo zwischen Maintal und Berlin. Auch sie bleibt vor den schonungslosen Reflexionen über die Ehrlichkeit und Inszenierung ihrer Gefühle nicht verschont. Diese postmoderne Wirklichkeit ist so präzise gezeichnet wie eine Netflix Serie. Schamvoll und selbstverliebt erkennt man sich lesend wieder in dem hippen Spiegelbild, das sich selbst optimieren und zerstören will.

Tanjas und Jeromes Hedonismus, genährt aus dem konsequenten Verlust aller Werte, macht diesen Roman so unangenehm wie real, so betörend schnelllebig und hypermodern. Es ist das Portrait der Generation, die nach Berlin zog, um Grafikdesigner:in zu werden und perfekt inszeniert an sich selbst zu scheitern. Damit ist Leif Randt nun auch zurecht für den deutschen Buchpreis nominiert. Absolut biografisch sinnvoll ist es für jeden Menschen, der sich diesem Lebensbild der weißen Sneaker, hängenden Zimmerpflanzen und Dönerbuden nur vage verbunden fühlt, dieses Buch zu lesen. 

Alegro Pastell, Leif Randt. Kiepenheuer&Witsch; 2020, 22 Euro.


Über die Uneindeutigkeiten 

„Jägerin & Sammlerin“ von Lana Lux 
– Anna Trunk –

„Jägerin & Sammlerin“ (2020) hat mich so richtig gepackt. Endlich mal wieder eines dieser Bücher, das ich kaum mehr aus der Hand legen wollte. Es geht um Tanya und Alisa, zwei Frauen, Mutter und Tochter; um Alisas Bulimie und Depression, ihren Kampf gegen sich selbst; um Tanyas Geschichte, die sie schreibend wiederentdeckt. Ohne Schuldzuweisungen gelingt es der Autorin die Komplexität und Vielschichtigkeit zweier Leben aufzuzeigen, die auf untrennbare Weise miteinander verwoben zu sein scheinen: Warum wird ein Leben, wie es wird? 

Jägerin & Sammlerin verhandelt Identitäten und (Körper-) Beziehungen auf wunderbar eindrückliche Weise. Alles steht miteinander in Beziehung, irgendwie. Besonders berührt hat mich die ehrliche Illustration von Alisas Selbstverachtung. Nicht selten hatte ich das dringende Bedürfnis die Protagonistin entweder fest zu schütteln oder in den Arm zu nehmen – wohl, weil das, was Lux da schildert, auch Teil meiner eigenen Vergangenheit ist.Die Einblicke in Tanyas Denken und Erfahrungswelten lenken den Blick auf die Ambivalenzen und Uneindeutigkeiten des Lebens: Was ist richtig, was falsch; wofür lohnt es sich zu kämpfen; anhand welcher Kriterien entscheidet sich das? 

Alles eine Frage der Perspektive. Teilweise sehnte ich mich dennoch nach wortgewaltigen Überraschungen; Lux‘ Sprache liest sich dagegen einfach und flüssig. Thematisch ist ziemlich viel los: Ob Migration und Mutterschaft, Liebesbeziehungen, Freund*innenschaften, psychische Erkrankungen oder Therapieerfahrung – im Roman greift alles stimmig ineinander, was die Untrennbarkeit dieser Themen verdeutlicht. An der ein oder anderen Stelle wirkte die Geschichte auf mich dadurch allerdings etwas überladen. Lux ließ mich tief eintauchen in scheinbar fremde Lebenswelten und nachdenken – über meine eigene Essstörungserfahrung, meine Beziehung zu meiner Mutter und deren Lebensweg. Bei meinem nächsten Besuch möchte ich Mama das Buch schenken. Ob es ihr gefallen wird, weiß ich nicht – berühren wird es sie bestimmt.

Jägerin & Sammlerin, Lana Lux. Aufbau Verlag; 2020, 20 Euro.


Die Magie in dir

Wild Embers: Poems of rebellion, fire and beauty von Nikita Gill
– Delara Nutz –

Dornrösschen, Schneewittchen, Cinderella – in dem Buch von Schriftstellerin Nikita Gill verwandeln sich geduldige Prinzessinnen in unbändige Königinnen. Die Britisch-Indische Poetin erzählt in ihren Gedichten von Frauen, die ihre eigenen Märchen schreiben – ohne Prinz, ohne leidenschaftliche Rettung. Es geht darum die Frau als Mensch zu sehen, deren wahrhaftigste Schönheit in der Liebe zu sich selbst liegt.

Die Reise beginnt mit Miracle. Nikita erinnert und ehrt das Leben als Wunder – mit Licht, Dunkelheit, Verzweiflung und Auferstehung. Das Buch durchläuft alle Stationen dieses Wunders. Und was allen gemein ist, ist die Eindringlichkeit, mit der Nikita sie beschreibt. Zu sein und zu lieben heißt auch zu leiden und zu fürchten. Sie erzählt von Magie.

Die Witch wird nicht zur Prinzessin, sondern umgekehrt. Sie wartet nicht auf den Prinzen, sondern bricht aus ihrem Turm aus, tötet den Drachen, durchwandert die Wildnis und gründet ein Reich. Ihr Herz ist geplagt, ihr Körper vernarbt. Doch sie steht auf, übt Vergebung, gibt Liebe und die Magie lebt weiter. Es ist ein Buch, dass nicht die Verletzlichkeit, Schönheit oder gar Hingabe einer Frau zelebriert, sondern diese neu definiert.

Als ich es las, habe ich genau das empfunden. Es geht nicht darum die Frau als moderne, zielstrebige und aggressive Feministin zu proklamieren. Es geht darum die Frau als Mensch zu sehen, deren wahrhaftigste Schönheit in der Liebe zu sich selbst liegt.

Mein Lieblingsgedicht heißt „Why I am Magic“. Es handelt von eben dieser Liebe und der Magie, die sie entfaltet. Die Metapher die Nikita dafür verwendet, ist das Wasser. Wir lechzen nach Wasser und wir bestehen aus Wasser. Es ist paradox. Wie können wir nach etwas lechzen, wo wir doch daraus bestehen? Dieses Gedicht fasziniert mich jedes Mal, wenn ich es lese. Ich liebe die Vorstellung des Wassers und der Liebe, wie sie in jedem Menschen fließt. Und nur dann, wenn wir uns selbst lieben, beginnt ein undurchdringlicher Kreislauf. Ich habe dieses Buch im Sommer gelesen – nachts, wenn die Sterne am Firmament schon aufgegangen waren.

Gedicht für Gedicht. Und manchmal habe ich das Buch auf meine Brust gelegt, hochgeschaut, gelächelt und vor mich hingeflüstert, als ob jedes einzelne Wort Magie sei.

Wild Embers: Poems of rebellion, fire and beauty, Nikita Gill. Trapeze; 2017, 12 Euro.


Vier Menschen. Vier Realitäten. Vier zwischenmenschliche Beziehungen. Eine Geschichte

Conversations with friends von Sally Rooney
– Marit Brunnert –

Sally Rooneys Debutroman handelt von der jungen Literaturstudentin Frances. Zusammen mit ihrer besten Freundin Bobbie performt Frances Gedichte. Bei einer solchen Poetry Night lernen die beiden die erfolgreiche Journalistin Melissa und ihren Mann Nick kennen. Als Melissa beschließt, ein Porträt über die beiden Frauen zu schreiben, verschmelzen die unterschiedlichen Lebensrealitäten miteinander. 

Diese vier Figuren dienen in Rooneys „conversations with friends“  erschienen bei Faber & Faber im im März 2018,   als Grundlage für ein kompliziertes Beziehungnetz. Während jede einzelne Verbindung sich im Laufe des Buches intensiviert, weben sich Motive wie Sympathie, Neid, Unsicherheit und individuelle Bedürfnisse mit ein. Ob offene Affären, lang vergessen geglaubte Gefühle oder versteckte Zuneigungen. Die Verbindungen zwischen Menschen und ihre unendlich vielen Zwischenstufen werden facettenreich beleuchtet. Ebenso wie das, was sie von Außen beeinflusst: Finanzielle Sorgen, Machtgefühle und die eigene Gesundheit – körperlich und mental.

All das verpackt Rooney in einem besonderen Stil. Sie schreibt zunächst recht nüchtern über die Geschehnisse aus Frances Perspektive . Jedoch sind es die Detailbeschreibungen von Gedankengängen, die einen unbemerkt in die Beziehungen und Empfindungen eintauchen lassen. 
Sei es der individuelle Umgang mit Geheimnissen, die eigenen Hürden der mentalen Gesundheit oder die Frage nach dem, was Moral bedeutet.
All diese Frage und ihre Antworten erschließen sich der/dem Lesenden durch die Gespräche von Frances und ihren Mitmenschen und  manchmal auch von Frances mit sich selbst. 

Nach  dem Lesen hat man ein intensives Gefühl, schon fast, als hätte man sich selbst mit in die Geschichte und ihre Gespräche eingewebt.

Alles in allem eine wunderbare (Sommer-)lektüre mit überraschend viel Tiefgang.

Gespräche mit Freunden, Sally Rooney. btb Verlag; 2020, 11 Euro.


Schreiben und Bluten

Die Quelle unserer Macht von Audre Lorde 
– Laura Gerloff –

“That which is inside of me screaming/ beating about for exit or entry/ names the wind, wanting wind’s voice/ Wanting wind’s power.”

So beginnt Audre Lorde’s „Bloodbirth“. Als Schwarze, lesbische Frau, Mutter, Kämpferin, Poetin und so vieles mehr ist die 1934 geborene New Yorkerin ein Sprachrohr. Und das nicht für die marginalisierten Gruppen, die sie vermeintlich repräsentiert, nein, denn Lorde ist keine Projektionsfläche. Sie spricht für sich selbst; sie verpackt ihre Erfahrungen in Essays und Gedichte, schafft es in beiden, gleichermaßen poetisch und doch immer klar in ihren Forderungen zu sein. 

„I do not believe/ our wants have made all our lies/ holy.”

Das schreibt sie in „Between Ourselves” und klagt damit die Diskriminierung innerhalb der eigenen Reihen an. Ihre Worte sind ungeschönt, sie sind roh und haben doch einen zarten Ton, ganz so, als sei das Schreiben für sie ein ähnlicher Schmerzensakt wie die in Bloodbirth beschriebene Geburt. Und genau das erzielen sie auch beim Lesen: Jede Zeile trifft dorthin, wo man eigentlich vergessen hatte, dass es wehtun konnte. Wenige Seiten später finden wir den Versuch einer Erklärung: Einige Worte, so Lorde, leben in ihrem Hals und brüten wie Schlangen, andere kennen das Sonnenlicht. Es ist dieses Dilemma, das sich wie ein roter Faden durch all ihre Gedichte zieht.

„Shall I split/ or be cut down/ by a word’s complexion or the lack of it“

Wie halten wir den Worten in uns stand, und vor allem, wie nutzen wir ihre Macht? Wann sprechen wir und für wen, wen schließen wir aus? Wie überwinden wir die Angst und ergreifen das Wort? Diese Fragen wirft
„Von Liebe und Kampf“ auf. Und hat doch eine klare Antwort:

„And when we speak we are afraid/ our words will not be heard/ nor welcomed/ but when we are silent/ we are still afraid.”

Anmerkung: Die Autorin hat die italienische Ausgabe der Gedichte gelesen, eine deutsche Ausgabe ist im Unrast Verlag unter dem Titel „Die Quelle unserer Macht“ am 06.03.2020 erschienen, 14 Euro.

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