sai:kollektiv | Titelbild von © Jana Vogt
Bücher entführen uns in eine andere Welt. Die Autor:innen des Sommers 2021 eröffnen uns immer wieder neue Perspektiven, für die uns noch die Worte fehlten. Sie ändern Überzeugungen, bilden Banden und erklären Kompliziertes. Judith Schwarz zeigt Lösungen zur Bewältigung der Klimakrise, Mithu Sanyals Protagonistin glaubt den Weg in eine postkategoriale Welt gefunden zu haben und Emma Cline verfolgt in ihren Kurzgeschichten unsere Daddys. Fünf Autor:innen des sai:kollektiv stellen ihre Lieblingsbücher des Sommers 2021 vor.
„Literatur und Kunst sind immer Instrumente zur Identitätsfindung“
Mit ihrem Debütroman IDENTITTI hat Mithu Sanyal Türen geöffnet (oder eingetreten) und die Leser:innen mitten in den Schleudergang von Debatten über Identität, kulturelle Aneignung und die Absurdität öffentlicher Diskurse gesteckt. Klingt ernst, ist aber überraschend lustig und entkrampfend.
Die Geschichte findet in unserer Zeit statt. „IDENTITTI“ ist das Internet-Synonym der 26-jährigen Bloggerin und Hauptprotagonistin Nivedita Anand, die in Düsseldorf einen Master in Post-Colonial Studies studiert. Als junge Person of Colour identifiziert sie sich besonders mit ihrer Professorin Saraswati. Als jedoch herauskommt, dass diese eigentlich Weiß ist, zieht es Nivedita den Boden unter ihren Füßen weg. Für sie persönlich, aber auch in den öffentlichen Diskursen, wird eine Identitätskrise ausgelöst. Wer sind wir eigentlich und was ist konstruiert? Was und wie ist Identität? Kann man Weißsein loswerden? And what’s sex got to do with it?
Mithu Sanyal erzeugt mit ihrem Roman unglaublich viel Power, liefert neue Erkenntnisse und lässt offene Fragen in der Luft schweben. Sie vermischt Realität und Fiktion mit Twitter-Auftritten von bekannten Persönlichkeiten wie Hengameh Yaghoobifarah (@habibitus) und erzeugt Spannungen, die beim Lesen durch die Seiten hindurch spürbar werden. „Den Schleudergang dieses Romans verlässt niemand, wie er*sie ihn betrat.“
Mithu Sanyal: Identitti, Februar 2021, Hanser Literaturverlage: 22 €
„It is a huge irony that billions are spent on climate predictions […] and so little on bolstering nature.“
Hochwasser, Hitzewellen, Waldbrände – als Klimajournalist ist es leicht fatalistisch zu werden und nicht mehr an einen positiven Einfluss des Menschen auf die Umwelt zu glauben. Dennoch gibt es im Schatten der Katastrophen unzählige kleinere und größere Projekte und Initiativen die daran arbeiten die Umwelt und Klimakreisläufe der Erde zu stabilisieren und zu schützen.
In Reindeer Chronicles macht sich Judith Schwartz auf die Suche nach diesen Projekten und zeichnet eine Vision eines proaktiven und positiven Umgangs mit der Erde. Konkret geht es um Initiativen, die Ökosysteme wiederherstellen und versuchen, dem Menschen eine nachhaltige Rolle in der Natur zu geben. Im Nordwesten Chinas zum Beispiel entstand über Jahrhunderte durch Kahlschlag und Erosion eine Wüstenlandschaft, eine der ärmsten Regionen Chinas. Diese Region wurde in knapp vierzig Jahren wieder zum Blühen gebracht, durch behutsames Wiederherstellen der dortigen Ökosysteme.
Dabei zeigen die einzelnen Kapitel keine rein technologischen oder landwirtschaftlichen Herangehensweisen, sondern beziehen auch soziale und gesellschaftliche Themen mit ein. So ist zum Beispiel die regenerative Nutzung von Wasserquellen in einer Gemeinde in New Mexico nicht möglich ohne die Lösung tiefsitzender Konflikte zwischen verschiedenen Gruppen. Schwartz beschreibt auch die Rolle von Gruppen wie den Sami in Norwegen, deren Rentiere elementar für die arktischen Ökosysteme sind, denen aber unter dem Primat des Naturschutzes ihre traditionelle Lebensgrundlage genommen wird.
Dieses Buch macht Hoffnung und zeigt Lösungen auf. Dabei verschließt es nicht die Augen vor den immensen Herausforderungen der Klima- und Umweltkrisen, sondern packt die Probleme ganzheitlich und pragmatisch an der Wurzel.
Judith Schwarz: Reindeer Chronicles, August 2020, Chelsea Green Pub Verlag: $8.98
„Trotzdem ist diese Zeit wichtig für mich. Weil ich nie mehr so sein kann wie damals. Und weil seitdem alles anders ist.“
Der fünfzehn jährige Sam lebt in der amerikanischen Kleinstadt Grady, dem Inbegriff eines verschlafenen Kleinstadt-Kaffs und es sind Sommerferien. Um die Ferien nicht bei seiner Tante in Kansas verbringen zu müssen, fängt er in dem nun bereits schon etwas in die Jahre gekommenen Kino Metropolis an zu jobben. Dort lernt er Hightower, Cameron und Kirstie kennen, die gerade ihren Abschluss gemacht haben und die Stadt nach dem Sommer verlassen werden. Weg aus Grady – das möchte Sam auch. Weglaufen von der Krankheit seiner Mutter, der Stille zwischen ihm und seinem Vater und vor der Einsamkeit. Doch in den kommenden Wochen beginnt er zu verstehen, was Worte wie Freundschaft, Liebe und Zuhause bedeuten können.
Mit den Worten „In diesem Sommer verliebte ich mich, und meine Mutter starb.“, beginnt Sam seine Erzählung dieses einen Sommers, der für ihn rückblickend alles verändert hat. Ein Sommer voller Liebe und Schmerz, voller Mut und Trauer. „Hard Land“ ist ein schöner Roman, der einen an die Hand nimmt, nichts erwartet und fordert, außer zuzuhören und wenn man möchte, Teil an Sams kleiner Welt zu haben. Benedict Wells schreibt sympathisch und zugänglich. Ja, es ist nicht die erste – und auch nicht die beste – Coming-Of-Age Erzählung, doch es lohnt sich genauer hinzuschauen. Ab und zu entdeckt man Sätze wie kleine Perlen, die den Roman trotz seiner Einfachheit besonders machen.
Benedict Wells: Hard Land, März 2021, Diogenes Verlag: 24 €
„Wäre die Strömung in unserem Leben so schwach wie diese hier, alles wäre leichter.„
Wann ist man bereit, freie Strömungen gegen klare Lebenslinien einzutauschen? Wann kann man sich für Eindeutigkeit und Linearität in seinem Leben entscheiden? Und gibt es diesen Zeitpunkt überhaupt? All diese Fragen stellt sich die namenlose Ich-Erzählerin in Katharina Schallers Debütroman „Unterwasserflimmern“. Seit vielen Jahren ist sie nun schon mit ihrem Partner Emil zusammen, der sich endlich ein gemeinsames Haus und Kinder wünscht. Durch die Eindeutigkeit seiner Lebensvorstellungen ist auch sie zwangsläufig mit ihren eigenen Vorstellungen von Leben und Sein konfrontiert.
Doch es gibt noch keine klaren Entscheidungen, noch nicht mit Anfang 30. Nicht mit Emil und auch nicht mit dem 20 Jahre älteren Mann Leo, mit dem sie seit einiger Zeit eine Affäre lebt. Als Emil ihr erzählt, dass er ein Grundstück für sie beide gekauft hat, verlässt sie spontan die Stadt. Sie flieht in eine entscheidungsfreie Reise in den Süden, die sich nur aus Momenten heraus bestimmt. Wirft sich in Wellen und begehrende Körper und spürt der Intensität von spontanen Begegnungen nach.
Katharina Schaller erzählt von Bewegungen und Beziehungen. Sie hüllt die Leser*innen in die Wärme von fremden und die Kälte von bekannten Orten. Der Erzählstil gleicht dabei dem Dahingleiten der Protagonistin, mehr Körpergefühl und Spontanität als klar konzipierter Handlungsaufbau. Es ist dieses Dahinfließen der Sprache und den zugleich klaren und direkten Darstellungen von Körperlichkeit und Sexualität, die dieses Buch selbst zu einem Strom werden lassen. Und all die drängenden Fragen nach der eigenen, richtigen Lebensform dürfen dabei noch ein bisschen länger unbeantwortet bleiben.
Katharina Schaller: Unterwasserflimmern, März 2021, Haymon Verlag: 22,90 €
„You’re only making it worse“
In „Daddy“ beobachtet Emma Cline („The Girls“) in zehn Kurzgeschichten ein Streitobjekt unserer Zeit: Männer. Vor allem solche, die an Erfolg und Überlegenheit gewohnt sind. Ihre Macht ließ die Protagonisten lange glauben, dass sie alles bekommen, was sie möchten. Da sie nicht glaubten, dass sie je machtlos sein würden, verpassten sie den Zeitpunkt sich zu ändern. Nun stecken sie fest in ihren Überzeugungen und übersehen den Wandel, an dem sie nicht teilhaben können, ohne sich zu reflektieren und ihr Verhalten zu ändern.
Die 32-Jährige Autorin urteilt nicht über diese Männer und ihre Geschichten. Sie erzählt fast leise etwa von John und Linda, die sich auf den Besuch ihrer Kinder freuen, und von Benji, der die Premiere seines Films feiert. Idylle ist kein Garant für Glücklichkeit, die Ambivalenzen in ihnen bilden den Kern der Kurzgeschichten. Der Performancedruck der Gegenwart begleitet Clines Protagonist:innen, die oft den Kontakt zu Prominenten oder Reichtum pflegen, ebenso wie selbstbewusste weibliche Charaktere unter dem Eindruck der #metoo-Bewegung.
Wenn Cline leise erzählt, dann sind ihre Charaktere umso lauter. Schonungslos klar werden ihre Handlungen, Wünsche und Widersprüche skizziert, ohne zu viel über ihr Leben zu verraten. John, Linda und Benji verkörpern keine Stereotype, sondern zeigen die Vielschichtigkeit des Menschlichen. Cline gelingt es Empathie zu wecken für die meist männlichen Protagonisten, Innenperspektiven zu offenbaren, ohne ihre Gewalt in den Schutz zu nehmen. Die Geschichten beantworten nicht die drängende Frage, wie wir mit den alten weißen Männern in unseren Leben umgehen können. Sie können aber helfen, eine eigene Antwort zu finden.
Emma Cline: Daddy, September 2020, Chatto & Windus: £ 13,99
deutsche Übersetzung von Nikolaus Stingl, Hanser Literaturverlage: 22 €
Redaktion: Paul Stegemann
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