Text: Flora Jansen
Wir sind ein Kollektiv. So viele Perspektiven wir teilen, so gerne diskutieren wir auch! Was hat es zum Beispiel mit vermeintlichen bubbles und mit den endlosen Rufen nach Diversität auf sich?
‚We are one‘ singen ‚Strom & Wasser feat. The refugees‘ mir mit groovigen Beats ins Ohr, als ich nach drei Tagen Kollektivtreffen aus Hannover weiter nach Leipzig fahre. Mein Hirn ist leer gefegt und ausgequetscht wie eine Zitrone, doch mein Herz ist voller Begeisterung über das, was ich erlebt habe. We are one. Von der ersten Sekunde an fühlte ich mich in unserer ‚kollektiven Zusammenkunft‘ wohl und gut aufgehoben. Der flow, die vibes und der prickelnde Enthusiasmus nahmen mich für drei Tage vollkommen ein. Ich schwebte auf einer Wolke des Glücks – gemeinsam mit diesen Menschen, die meine Ziele, Ideen, Gedanken, Gefühle und Träume verstehen und teilen.
Ich halte inne.
We are one. Etwas rumort bei diesen Worten in mir.
Ich denke an unsere Debatten des Kollektivtreffs zurück.
Können wir ohne Weiteres sagen, dass wir ‚doch sowieso alle für dasselbe kämpfen‘ und ‚doch alle aus derselben bubble‘ seien?!
So, are we really one? Are we really one bubble?
Bubble: Im übertragenen Sinne bezeichnet die bubble einen geschlossenen Raum, in dem sich eine bestimmte Gruppe befindet. Sie ‚atmen‘ alle dieselbe Luft dieser Blase und sind sich in bestimmten Denk- und Verhaltensweisen sehr ähnlich.
eigenes Glossar
Überall bubbles
Bubbles sind überall. Ich verließ meine Schule und sogleich hatte ich keine Ahnung mehr, was abgeht. (Tik tok ging zum Beispiel total an mir vorbei). Ich verließ meine Leichtathletikgruppe und schon treffe ich kaum noch Menschen, die nicht oder etwas ganz anderes studieren als ich. Früher war ich noch in einer Gemeinde aktiv. Jetzt nicht mehr. Ich fühle und höre ich nicht mehr, was ältere Menschen beschäftigt.
Schnittpunkte zwischen unseren Lebenswelten lösen sich auf. Räume für Diskussionen und Austausch verflüchtigen sich. Ob Alt und Jung oder Arm und Reich – sie treffen sich kaum noch im routinierten Tagesablauf. Und so entstehen plötzlich ganz viele Wir’s in dieser Welt. Und dann bauen wir uns Bilder und Vorstellungen anderer Gruppen und ihrer Bedürfnisse auf – ohne, dass wir mit ihnen in Austausch treten oder mal genauer nachfragen.
Es wird wenig hinterfragt, welche gesellschaftlichen Kategorien wir durch den Ruf nach Diversität vielleicht gerade verstärken. Wenn das beispielsweise bedeuten würde, Menschen mit extrem unterschiedlichen Lebenswelten und Zielen zusammenzubringen, muss auch Raum dafür sein, offen und ehrlich zu fragen, was dies tatsächlich für Projektarbeit wie die des sai:kollektiv bedeuten würde.
Welchen Herausforderungen müssen wir uns stellen, wenn bei sai plötzlich Vorstellungen und Meinungen zusammenkommen, die sich vielleicht haarscharf an der Grenze der Leitlinien bewegen? Ist es nicht in schwierigen Zeiten auch nachvollziehbar und angenehm, sich mit Menschen abzugeben, die möglicherweise zufällig auch grade für die Rettung der Welt kämpfen? Und dies gegebenenfalls sogar durch dieselben Mittel umsetzen wollen? Soll der Kampf für den Austausch zwischen bubbles bereits in der Organisationsphase stattfinden oder reicht es vielleicht, das Ergebnis zu teilen und so Menschen anderer bubbles zu erreichen?
Kann Wandel in der Gesellschaft aus einer einzigen bubble herauswachsen? Ist das nicht eine extrem beschränkte Perspektive?
Sai, eine bubble?!
Wir sind eine Gruppe junger Menschen, die nicht für andere Menschen sprechen können. Denn die Erfahrungen, die Menschen in der Gesellschaft machen, sind nicht dieselben. Menschen sind Diskriminierung und Rassismus, Ungerechtigkeiten und grenzüberschreitenden Momenten in unterschiedlicher Weise ausgesetzt.
Insofern stellt eine ganzheitliche Diskussion aller Themen, die uns wichtig sind, uns vor Herausforderungen und wir müssen uns immer wieder fragen: Machen wir ein Statement oder entscheiden wir uns dafür, den Raum frei zu geben, um anderen Stimmen die Bühne der Öffentlichkeit zu lassen? Denn ja, wir haben eine beschränkte Perspektive. Mit jedem Einblick, den wir in eine bubble haben, gehen Tausende andere Perspektiven einher, die wir nicht kennen. Mit jeder bubble, die wir kennenlernen, können sich tausende andere vor uns verschließen.
Sind wir dann nicht alle beschränkt in unseren Perspektiven? Nicht nur wir bei sai, sondern in allen anderen Kontexten auch? Ist eine gewisse ‚Bruchstückhaftigkeit‘ von Wissen und Erfahrungen nicht normal? Und wäre es demnach nicht naiv zu denken, dass es möglich wäre, in einem einzigen Projekt allen Bedürfnissen dieser Welt gerecht zu werden?
Und zugleich müssen wir uns fragen, warum wir dann von Anfang an davon ausgehen, dass in unserem Kollektiv eine Geschichte der anderen gleicht? Warum gehen wir davon aus, dass wir alle ähnlichen gesellschaftlichen Kategorien angehören? Sind wir denn wirklich so gleich, wie das oft gesagt wird?
Viele beschränkte Perspektiven, viele verschiedene bubbles!
Jeder Mensch ist durch viele verschiedene Einflüsse vieler verschiedener bubbles geprägt. Sei es in der Schule, im Sportverein oder in Omas Strickgruppe. Mit der Erkenntnis im Gepäck, dass wir in diesen vielen bubbles auch gleichzeitig sein können, zeigt sich, dass es auch vom örtlichen und zeitlichen Kontext abhängt, zu welcher ich mich in der jeweiligen Situation zugehörig fühle.
Gerade bin ich im sai-Orgatreffen und somit Teil der sai-bubble. Doch es gibt da auch meinen familiären Kontext, meine Freundeskreise der Uni und vom Sport, denen ich mich in anderen Momenten zugehörig fühle. Dann tauche ich wieder in eine neue Welt ein. Dann denke ich, ich ließe alle meine anderen bubbles hinter mir. Doch ich bin, wer ich bin, weil ich Einflüsse vieler bubbles in mir trage. Sie sind nicht weg, nur weil ich den Ort wechsle.
Auch in unserem Kollektiv bringen die Menschen so viele verschiedene Geschichten und Erfahrungen mit sich. Es wäre daher anmaßend, alle Personen auf den ersten Blick auf eine einzige, anscheinend dominierende bubble zu reduzieren, die dann angeblich auch noch bei allen die Gleiche sei – nur um dann sagen zu können: Hey, eigentlich sind wir doch alle gleich!
Bubble – ja, nein, vielleicht?
Viel wichtiger als die Frage, ob wir nun eine bubble sind oder nicht, sind doch die Fragen, die sich daraus ergeben! Für wen sprechen wir also – spreche ich, wenn ich bei sai einen Artikel schreibe und veröffentliche? Wer ist dieses ‚Wir‘, von dem unsere Kollektivartikel sprechen? Was beziehungsweise wen meinen wir, wenn wir ,das Kollektiv‘ sagen?
Hinter jedem unserer Artikel stehen diese Fragen. Wir dürfen nicht aufhören, sie zu stellen. Denn im sai:kollektiv sind wir viele. Und es gibt keine ‚allgemeine Meinung des Kollektivs‘. Auch wenn wir allgemeine Leitlinien haben, die die Basis unseres Aktivismus sind, kommen bei uns viele unterschiedliche Ideen, Gedanken und Hintergründe zusammen. Jeder Sailing steht mit seiner Kunst für sich und bietet Einblicke in ein Kollektiv, welches sich aus den Fähigkeiten und Interessen seiner kreativ Schaffenden zeichnet.
Das Kollektiv ist die Summe seiner Mitglieder. We make sai and sai makes us!
Verwirrung? Zu viel ge-bubble im Kopf?
Daher ein erster Versuch, die Kerngedanken in leichte Sprache zu übersetzen, denn: Wenn wir uns noch diversere Perspektiven und mehr Austausch zwischen verschiedenen bubbles wünschen, bedeutet das, Sprache klarer verständlich zu machen!
Leichte Sprache zu übersetzen, mit allen Bedeutungsschattierungen, das ist eine wahre Kunst! Und eine wichtige Aufgabe!
(Meine Mama, Kommentar sai:magazin, 28.4.20)
Wir Menschen sind alle sehr verschieden. Die Menschen auf der ganzen Welt sind verschieden. Auch die Menschen im sai:kollektiv sind verschieden. Wir im sai:kollektiv denken oft: Wir sind alle ganz ähnlich. Aber eigentlich sind wir sehr verschieden.
Deshalb schreiben wir auch so verschiedene Texte und haben viele verschiedene Meinungen. Aber wir sind uns auch ähnlich. Wir alle kämpfen dagegen, dass viele Menschen schlechter behandelt werden als andere. Und wir alle kämpfen dagegen, dass die Erde immer heißer wird.
Wir wollen Menschen mit unseren Texten und Bildern glücklich machen. Und wir wollen die Menschen zum Nachdenken anregen.
Es reicht nicht, dass wir sagen, was wir wollen. Wir müssen auch etwas dafür tun. Das kann schwierig werden. Aber es kann auch Spaß machen.
Aber Achtung: Alle Menschen sehen die Welt anders. Wir wissen nicht, wie die anderen die Welt sehen. Deswegen wollen wir im sai:kollektiv aufpassen, für wen wir sprechen. Ich möchte ja auch nicht, dass jemand anderes für mich spricht.