Istanbuls erster botanischer Garten: türkische Geschichte mit allen Sinnen erspüren

von Arnisa Halili

Istanbuls erster Botanischer Garten inmitten der Stadt, drohte bislang vergessen zu werden. Als Teil der Ausstellung „The Futureless Memory“ im Kunsthaus Hamburg rufen Architektin Dilşad Aladağ und Künstlerin Eda Aslan mit „The Garden of (Not)Forgetting“ den Ort in Erinnerung. Ein Interview über die Anfänge des Projekts, politische Herausforderungen und die Bedeutung des Botanischen Gartens für die europäische Geschichte.

Der Titel „The Garden of (Not)Forgetting“ könnte nicht treffender von den Freundinnen Dilşad Aladağ und Eda Aslan für ihre Ausstellung gewählt sein: Der erste Botanische Garten von Istanbul – Alfred Heilbronn Botanik Bahçesi“ – ist sowohl auf deutscher als auch auf türkischer Seite weitgehend unbekannt. Er wurde 1935 von den vor dem Nazi-Regime geflohenen deutsch-jüdischen Professor Alfred Heilbronn und deutsch-österreichisch-jüdischen Professor Leo Brauner in der Nähe der Süleymaniye-Moschee gegründet.

Unter dem säkularen Staatsgründer Mustafa Kemal Atatürk hatte die Türkei in den 1930er Jahren viele jüdische Akademiker*innen aufgenommen und für seine große Universitätsreform rekrutiert. Die damalige Regierung bot jüdischen Proffesor*innen ausgezeichnete Unterkünfte und gute Gehälter.

Die Geschichte hinter Alfred Heilbronns Botanischem Garten im Exil präsentieren sie nun in „A sequence from the Garden of (Not)Forgetting: Whispers, Seeds and Traces“ im Rahmen der Ausstellung „The Futureless Memory“ im Kunsthaus Hamburg. Die Ausstellung ist vom 19. September bis 22. November zu sehen. Treffpunkteuropa.de traf eine der Ausstellerinnen, Dilşad Aladağ, und sprach mit ihr darüber, wie sie und Eda Aslan das deutsch-türkische Erbe interpretieren.

Die Frauen hinter „The Garden of (Not)Forgetting“: Eda Aslan und Dilşad Aladağ. Istanbul, 2019. Foto zur Verfügung gestellt von: Fikret Can Kuşadalı

treffpunkteuropa.de: Wie habt ihr von dem Garten erfahren? Wie habt ihr diesen Ort entdeckt?

Dilşad Aladağ: Ich arbeitete als Assistentin des Künstlers und Fotografen Ali Taptık, der vor allem moderne türkische Architektur dokumentiert und lernte den Ort kennen. Im nächsten Semester meines Architekturstudiums begann ich, an einem Projekt für einen Botanischen Garten zu arbeiten. Ich besuchte den Garten jede Woche. Dann erfuhr ich über die Medien, dass der Garten von der Universität Istanbul an die Religionsverwaltung der Türkei übertragen wurde. Dies bedeutete, dass die Pflanzen und die Geschichte dieses Ortes gefährdet sein könnten. Ich sprach mit Eda und fragte sie, ob sie den Ort gerne sehen möchte. Wir besuchten den Garten ohne konkrete Projektideen. Wir dachten uns: Dieser Ort wird bald geschlossen, wir sollten ihn noch sehen.

Ein einzigartiger Botanischer Garten

Gewächshaus von Alfred Heilbronn. 2017. Foto zur Verfügung gestellt von: The Garden of (Not)Forgetting Project

Wie ist der derzeitige Zustand des Gartens? Wann war er das letzte Mal für die Öffentlichkeit zugänglich?

Bis 2018 war der Garten öffentlich zugänglich. Im Jahr 2015 wurde der Garten heimlich an die Religionsverwaltung der Türkei übertragen. Aufgedeckt wurde dieser Skandal von der Oppositionspartei. Dennoch wurde im Jahr 2018 ein Brief von der Religionsverwaltung an die Universität Istanbul geschrieben, in dem es hieß, dass die Botanische Fakultät in nur zwei Monaten ausziehen müsse. Der Garten wurde geschlossen.

Im Jahr 2019 verkündigte die Religionsverwaltung öffentlich, dass sie nicht den Garten, sondern nur das Institutsgebäude zerstören werden. Das lag unter anderem an den Gegenstimmen in der türkischen Gesellschaft, den vielen Briefen der deutschen Botschaft und verschiedenen deutschen und türkischen Professor*innen, die zum Schutz aufrufen. Jetzt kümmert sich die Religionsverwaltung um den Garten, aber er ist für die Öffentlichkeit geschlossen.

Was geschah mit dem Ort im Laufe der Zeit?

Als Alfred Heilbronn mit einem anderen deutsch-österreichisch-jüdischen Botaniker namens Leo Brauner, in die Türkei kamen, fanden sie ein altes Institutsgebäude vor. Sie schrieben einen Brief an das Bildungsministerium und forderten ein modernes Gebäude, in dem Wissenschaftler*innen experimentieren können. Das Bildungsministerium reagierte auf ihre Wünsche und baute das Botanische Institut und den Botanischen Garten zwischen 1935 und 1937. Der Architekt des Gebäudekomplexes war Österreicher. Hier zeigt sich, dass das ganze Gebäude einen europäischen Bezug aufweist.

Heilbronn blieb lange Zeit in der Türkei und heiratete die Botanik-Professorin Mehpare Heilbronn. Durch die Heirat nahm er die türkische Staatsbürgerschaft an und verlor Chancen, die sich ihm als deutscher Wissenschaftler im Exil boten. Heilbronn wünschte sich, seine Tätigkeiten in der Türkei fortsetzen zu können, aber dies klappte nicht und er kehrte mit seiner Familie zurück nach Deutschland.

Der Garten fand sich immer in einer schwierigen Situation wieder, weil er sich in einem teuren Stadtviertel befindet. In den 1950er Jahren wurde Adnan Menderes der erste Ministerpräsident, der aus freien Wahlen hervorgegangen ist. Menderes entschied zusammen mit dem französischen Architekten Henri Prost, dass das Institut des Botanischen Gartens ein unschönes Gebäude ist. Zudem versperrte es den Blick auf die Süleymaniye- Moschee und musste deshalb abgerissen werden. Demonstrant*innen überzeugten die Stadtplaner*innen, zumindest die ersten zwei Stockwerke des Institutsgebäudes zu behalten, so dass der Blick auf die Moschee nicht verschlossen blieb.

Der letzte Gärtner im Botanischen Garten in Istanbul. Foto zur Verfügung gestellt von Dilşad Aladağ

The Garden of (Not)forgetting: ein Projekt aus eigener Kraft

Eda und dir ging es in erster Linie darum, den Garten und das Wissen dahinter wieder öffentlich zu machen. Vor eurer Ausstellung in Hamburg hattet ihr bereits Jahre zuvor Veranstaltungen durchgeführt und interessante Begegnungen gehabt. Kannst du uns davon berichten?

Im Mai 2017 begannen wir mit der Dokumentation der physischen Gestalt des Gartens. Wir versuchten, Stimmen, Videos, so gut wie alles aufzunehmen, denn es handelt sich um einen Ort, an dem man mit allen Sinnen spürt: Man riecht die Blumen, man hört die Boote auf dem Bosporus, Vögel und Pflanzenstimmen, man sieht lebendige Farben und die Schatten der Pflanzen.

Eines Tages im Sommer 2017 machten wir eine Internetrecherche zu Alfred Heilbronn und entdeckten, dass er einen Sohn namens Kurt Heilbronn hat. Im September 2017 stießen wir auf die Nummer der psychologischen Klinik in Istanbul, in der Kurt Heilbronn von Zeit zu Zeit arbeitet.

Kurt Heilbronn stand unter Schock, als wir ihn kontaktierten. Er dachte: „Warum wollen sich diese Frauen mit mir treffen?“. Er nannte uns bei unserem ersten Treffen zwei Namen von engagierten Professor*innen im Garten.

Auf einer unserer Studierendenführungen trafen wir zufällig auf einen der Botanik Professor*innen, die Kurt Heilbronn erwähnte. Dieser lud uns in sein winziges Büro ein und zeigte uns Schätze, die er über die Jahre im Botanischen Institut gerettet hat. Briefe von Alfred Heilbronn an das Bildungsministerium, der erste Samenkatalog des Botanischen Gartens und Postkarten, auf denen der Garten vom Bosporus aus zu sehen ist, präsentierte er uns.

Eda und ich trafen uns weiterhin mit Kurt Heilbronn und kamen sogar im Herbst 2018 und Februar 2019 nach Deutschland, um ihn zu besuchen. Er entdeckte mit uns ihm unbekannte Dokumente in seinem Keller, die seine Mutter Mehpare Heilbronn gesammelt hatte. Im Jahr 2018 erhielten wir den „Salt Research Fund“. Dieser Moment war unbeschreiblich. Wir stellten fest, dass wir die einzigen Stipendiat*innen ohne Master-Abschluss waren. Seitdem arbeiteten wir strukturierter und konzentrierten uns auf die Frage, wie die Vergangenheit des Ortes die gegenwärtige Entscheidung des Abrisses beeinflusst hat. Eda und ich fanden heraus, dass progressive und konservative Seiten im Laufe der Jahre ihre Konflikte am Ort des Gartens ausgetragen haben. Somit beeinflusst die Vergangenheit des Gartens den Ort bis heute.

Welche Herausforderungen stellten sich euch während des Projekts im Hinblick auf die politische Situation in der Türkei?

Der schlechte Zustand des Gartens ist nicht nur mit der gegenwärtigen Regierung verbunden. Es ist ein Ort, der im Laufe der Jahre ein Trauma durch Zerstörungen und Abrisse erlebt hat.

Es gab jedoch eine Situation, die uns bis heute berührt: Nach dem Putschversuch im Jahr 2016 konnte man aufgrund des Ausnahmezustands schnell verfolgt werden. Deshalb wollten wir Ärger umgehen, niemanden beschuldigen und hielten unsere Aussagen bewusst unpolitisch. Nachdem der Auszug des Botanischen Instituts im Jahr 2018 bekannt wurde, schrieben Eda und ich zwei Artikel in „Arkitera„, einem türkischen Architekturmagazin. Wir erzählten die ganze Geschichte. Ein Radiosender namens „Açık Radio“ lud uns in seine Sendung ein, um über die Geschehnisse zu sprechen. Die Produzent*innen der Sendung zeigten uns die Aufnahme noch einmal vor der Veröffentlichung. Wir baten sie, einen „wütend“ klingenden Teil herauszuschneiden. Danach weinten wir. Wir mussten unsere Gefühle verbergen, um unser Projekt zu retten. Wir fanden uns in einem kontinuierlichen Verhandlungsprozess wieder, in dem wir uns entscheiden mussten, politisch oder unpolitisch zu sein.

Einer von 1000 Pflanzenscans. Originaltitel: „A sequence from the Garden on (not) Forgetting: Traces”, archival print, 1/1000, 2020. Foto zur Verfügung gestellt von „The Garden of (Not)Forgetting Project“

Nun habt ihr die Gelegenheit, „The Garden of (Not)Forgetting“ in Hamburg auszustellen. Wie ist es dazu gekommen?

Eda und ich sind unabhängige Künstlerinnen und Forscherinnen. Deshalb haben wir erfahrene Kurator*innen und Künstler*innen aus der Türkei gefragt, wie wir den Garten am besten präsentieren können. Wir trafen uns mit Dilek Winchester, einer türkischen Künstlerin. Sie arbeitete mit Katja Schröder, der Geschäftsführerin und künstlerischen Leiterin des Kunsthauses Hamburg, zusammen und konzipierte die Ausstellung „The Futureless Memory. Die Art und Weise, wie wir den Garten interpretiert haben, gefiel ihnen. Sie luden uns ein, an der Ausstellung teilzunehmen, in der die Frage nach Zugehörigkeit von im Exil lebenden Künstler*innen, Wissenschaftler*innen diskutiert wird.

Unser Beitrag ist eine Kombination aus Archivdokumenten und Kunstinstallationen: Ausgestellt werden Soundinstallation, 1000 Scans der von uns gesammelten Pflanzen und die gesamten Samenkataloge des Botanischen Gartens von 1934 bis 2002, die zeigen, wie sich die Sammlung des Gartens im Laufe der Jahre entwickelt hat. Die Soundinstallation greift den Eröffnungsbrief des Gartens auf, der auf Französisch, Deutsch, Englisch und Türkisch verfasst wurde. Der Brief wurde von den Professoren an verschiedene Botanische Gärten auf der ganzen Welt geschickt, um nach Pflanzen zu fragen. Die Besucher*innen können Scans der Pflanzen mit nach Hause nehmen.

Wir wollen zeigen, dass der Garten für Alfred Heilbronn ein Zuhause darstellte und seine Arbeit durch den Garten wieder zu existieren begann.

Die Bedeutung des Gartens auf europäischer Ebene

Was wünscht ihr euch für die Zukunft des Botanischen Gartens?

Der Abriss des Institutsgebäudes hat bereits begonnen. Es besteht jedoch noch eine gewisse Unsicherheit, da das Heizsystem des Botanischen Gartens an das Heizsystem des Botanischen Instituts angeschlossen ist, was bedeutet, dass das Gebäude nicht komplett abgerissen werden kann. Wir hoffen , dass der Garten geschützt wird und eines Tages wieder öffentlich zugänglich ist. Der Botanische Garten ist nur eines von vielen Gebäuden in Istanbul, an dessen Geschichte man sich erinnern muss.


In Kooperation mit:


treffpunkteuropa.de schreibt aus junger und europäischer Perspektive und in mehr als sieben Sprachen über Europa(-politik) und die Welt. Das Onlinemagazin der Jungen Europäischen Föderalisten Deutschland e.V. wurde dafür bereits mit dem Europäischen Bürgerpreis und der Europa-Lilie für europäische Jugendarbeit ausgezeichnet.

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert

Gefällt dir das sai-magazin?