…oder: Einsamkeit neu denken.
Text von Leon Lobenberg | Bilder von Julie Matthées und Justin Adam
Das Dach der Tankstelle irgendwo an der Autobahn spendet wohltuenden Schatten. Das Einzige, was neben dem Wind der vorbeirasenden LKWs der ungnädigen Sonne die Stirn bietet. Im Flimmern der Luft über dem Asphalt verschwimmen die entfernten Autos zu sonderbar amorphen Massen, bevor sie einzeln für ein paar Sekunden mein Blickfeld durchkreuzen. Der Aufschrei der Sprit-Leuchte hat mich die nächste Ausfahrt ansteuern lassen. Während sich der Tank des Autos langsam füllt, verspüre ich den Drang, meine Blase schnell zu leeren. Ich gehe hinter die Tankstelle.
Vor mir liegt ein staubtrockenes Feld, auf dem anscheinend nur noch Müll eine Wachstumserlaubnis hat. Unbeobachtet von sinnstiftenden Blicken flattern zerfetzte Plastiktüten mit den Blättern der Bäume im Wind der LKWs um die Wette. Keine Menschenseele weit und breit. Die tummeln sich eher im Tankstellenshop. Was sollte sie auch an so einen Ort locken? Er wirkt abstoßend, seelenlos und schon lange vergessen. Ich aber bin plötzlich ruhig und lasse meinen Blick schweifen. Ohne an die noch zu fahrenden Kilometer oder die Sorgen zu denken, die mir sonst in manchen Momenten meine ganz persönliche Hölle bereiten. Hier scheinen die Zeit und das Leben stehen geblieben zu sein. Eine Oase der Ruhe, inmitten von Müll und Staub. Ein seltsames Paar, dieser Seelenfrieden, der anzieht, und die rohe Verwahrlosung, die abstößt.
Einsamkeit zum Anfassen
Für mich sind solche Orte, hinter Tankstellen, neben Gleisanlagen, auf dem Dachboden der Großeltern, eine Manifestation der Einsamkeit. Ein Gefühl des Verlassenseins oder des Nicht-Verstandenwerdens, egal wie sehr man sich bemüht. Viele Menschen meiden dieses Gefühl eher, als es zu umarmen. Wartet man zum Beispiel im Café auf eine*n Freund*in, wird automatisch das Smartphone gezückt. Wie um den anderen Gästen (und wahrscheinlich auch sich selbst) zu versichern: Ich sitze hier zwar allein rum, einsam bin ich aber noch lange nicht. Einsamkeit könnte man also auch als das einsamste Gefühl beschreiben. Warum identifiziert sich niemand mit ihr?
Die Einsamkeit der Einsamkeit
Um zu verstehen, warum die Einsamkeit in so einem miesen Licht steht, muss danach gefragt werden, warum sie von Menschen als Teil der eigenen Identität abgelehnt wird. Die Frage der Identitätsfindung also.
Mir fallen zwei Möglichkeiten ein, dem eigenen Ich näher zu kommen: Über andere oder über sich selbst. Betrachte dich durch die Augen anderer und du nimmst die Urteile von außen als selbstkonstituierend war. Dein eigener Blick auf die Welt gerät ins Hintertreffen und du begibst dich in ein Gefängnis der Abhängigkeit. Die Definitionshoheit über dein eigenes Glück und Unglück befindet sich irgendwo außerhalb von dir.
Die zweite Möglichkeit: Betrachte dich durch deine eigenen Augen. Du schaffst dir deine eigenen Begriffe von Gut und Schlecht, machst dich unabhängig von vorgegebenen Rollen. Das ist das ewige Lied der unbedingten Freiheit, gesungen von den französischen Existenzialisten.
Es muss als Loblied auf das Alleinsein interpretiert werden: Denn ist eine unabhängige Selbstkonstruktion möglich, wenn die noch schlaftrunkene Hand am Morgen als erstes das Handy sucht, um Insta-Storys abzuchecken? Diskussionswürdig. Normen und Ideale überall. Man müsste sich schon irgendwie frei machen von äußeren Vorstellungen oder sie wenigstens nicht als Urteile über sich selbst verstehen.
Zumindest temporär ist das möglich an vergessenen Orten. Sie sind ein Kontrastpunkt zum ästhetischen Verständnis der Gesellschaft. Müll, Unkraut, Unordnung, Verkommenheit. Ein Ort, der mit seiner Hässlichkeit das Alleinsein garantiert und jede Vorstellung vom richtigen Leben lächerlich klein und unwichtig erscheinen lässt. Eine Utopie für jede*n Freiheitsliebende*n. Eine, die ihren Ort gefunden hat.
Ein Magnet braucht immer zwei Pole
Vergessene Orte sind gleichzeitig Utopien und Dystopien des Lebens. Es sind Orte der Freiheit aber auch des Chaos in einem. Sie tragen zwar das inhärente Versprechen der Unabhängigkeit in sich, lassen aber gleichzeitig einen kurzen, abschreckenden Blick auf die Endlichkeit des Lebens und die Verwahrlosung der Einsamkeit zu. Positiv und Negativ – das unzertrennliche Paar.
Während ich hinter einer Tankstelle im Staub stehe, verwirrt mich diese Ambivalenz immer wieder: Ich fühle mich gleichzeitig abgestoßen und angezogen. Abgestoßen, weil Trost über die Existenzfragen des Lebens zwischen zerfetzten Mülltüten lange gesucht werden kann. Angezogen, weil sie dazu verleiten, die Frage zu stellen, wo die Antworten sonst zu finden sind. Vielleicht durch das Zusammensein mit anderen Menschen?
Einsamkeit umarmen?!
Ich denke, dass das Infragestellen der eigenen Identität die Kernfunktion der Einsamkeit ist. Immer mit dem Potential, sich selbst zu ändern oder zu festigen. Denn sie ist etwas, für das man sich entscheiden kann. Oder dagegen. Etwas, von dem ich sagen kann: „So will ich nicht sein“.1 Jedes Mal, wenn ich einen vergessenen und seltsam abstoßenden Ort, wie das unkrautüberwucherte Ende eines Bahnsteiges, sehe und die Möglichkeit der Einsamkeit zum Greifen nahe ist, stößt mich wieder etwas zurück in mein Leben. Gibt mir etwas wieder ein Bewusstsein für meine Liebe zu anderen Menschen. Für die Nähe, für die es sich lohnt, manchmal auch durch ein Meer aus Sorgen zu waten. Wichtig ist nur, dass ich mich entscheiden kann. An vergessenen Orten habe ich die Möglichkeit dazu.
Es hat sich etwas geändert: Mit einem Mal ist Einsamkeit nichts mehr, das zu bekämpfen wäre. Sie ist Teil der Idee von sich selbst als „nicht einsam“ und somit das erklärende Gegenstück der eigenen Identität. Ohne einsam gäbe es kein gemeinsam. Grund genug, Einsamkeit in ein neues Licht zu stellen, sich auf sie einzulassen und sich mit ihr zu beschäftigen. Sie wie eine tragische Liebe umarmen.
Das negative Selbst
Ich habe weiter oben gelogen. Mir fallen nicht nur zwei Möglichkeiten der Selbstkonstruktion ein. Hinter Tankstellen wartet eine dritte Option auf uns – eine, die es uns erlaubt, Dinge aus dem eigenen Leben auszuschließen und das was übrig bleibt als die eigene Essenz zu betrachten: Die negative Definition des Selbst. Denn genau wie einer der Protagonisten in Milan Kunderas Roman „Der Abschiedswalzer“ ständig eine Gift-Kapsel mit sich rumträgt, um die Freiheit zu haben, über den eigenen Tod zu entscheiden, ist die ständige Gradwanderung zwischen einsam und gemeinsam grundlegend für die Gestaltung des eigenen Lebens. Die Einsamkeit, die ich meine – nicht verstanden als Gegenspieler zum guten Leben, sondern, gerade durch die Entscheidung gegen sie – als Teil des Selbst.
Vergessene Orte ziehen mich an, weil sie die Möglichkeit bieten, sich gegen sie zu entscheiden. Es sind Grenzsituationen, in denen ich meinen eigenen Kurs immer wieder selbst bestimmen kann. Meist hin zu einem Leben mit anderen Menschen. Manchmal zu stillen Momenten nur für mich. Oder auch nur für die persönliche Erkenntnis, dass das intensive Gefühl der Leichtigkeit des Lebens meistens eins ist, das zusammen erlebt wird.
1 Das ist Michel Foucaults Idee des ausschließenden Einschließen. Die Möglichkeit zur Desozialisation gibt mir erst die Möglichkeit der Sozialisation. Ein Beispiel von Foucaults Logik: Nur durch die Abgrenzung zum wahnsinnigen Menschen kann sich die Gesellschaft als vernünftig inszenieren. Der Wahnsinn wird scheinbar ausgeschlossen, aber ist gleichzeitig fundamental notwendig zur Konstruktion der vernünftigen Gesellschaft.