Männlichkeit zum Zittern bringen – Teil 1

Text: Leon Lobenberg | Fotografie: Julie Mathées

Beben, surren, stampfen, ächzen. Ich laufe an einer Baustelle vorbei. Kratzen, biegen, brechen, zittern. Neben einem Container steht ein Mann1. Er zittert. Ich schaue ihm in die Augen. Das Zittern hängt zwischen uns in der Luft, bewegt sich auf mich zu. Dann stellt der Mann den Presslufthammer ab. Sein Körper hört auf zu zittern. Doch innerlich zittert er weiter.

Woher ich das weiß? Sicher nicht wegen meinen Erfahrungen auf einer Baustelle. Vielmehr wegen meiner langjährigen Erfahrung als Cis-Mann. Denn ich zittere auch. Es ist ein Zittern, das sich durch mein eigenes und durch jedes cis-männlich sozialisierte Leben zieht.

Männer zittern nicht, weil ihnen zu kalt ist!

Nicht der Cis-Mann an sich zittert, sondern seine männliche Identität – also das Bild, das er von sich und die Gesellschaft von ihm hat: Der Mann als unabhängig und stark. Der Mann als autonomer Einzelkämpfer.  
Doch wie kann ein Mann autonom werden? Der Männerforscher Klaus Theweleit untersuchte Männerbilder im Faschismus und kam zu dem Ergebnis, dass männliche Autonomie hergestellt wird, indem eine starre Grenze zwischen Männlichkeit und Weiblichkeit gezogen wurde. Das binäre Geschlechtersystem wurde genutzt, um soldatische Männer hervorzubringen: Weiblichkeit wurde mit dem Feind assoziiert, Männlichkeit hingegen mit dem eigenen Land – dem Vaterland. Dadurch wirkte Weiblichkeit immer bedrohlich auf den soldatischen Mann, der daher alles Weibliche aus sich verbannen musste. Unter anderem, indem er sich körperlich stählte und geistig disziplinierte. Theweleit prägte hierfür das Bild des männlichen Körperpanzers, der alles, was als schwach gilt, zerstört, weil es ihn selbst zerstören würde2.

© Julie Mathées

Das ist bis heute spürbar: Schwach-Sein ist immer noch mit „weiblich“ verbunden; erst vor ein paar Jahren habe ich den Ausdruck „pussy“ aus meinem Wortschatz verbannt.
Die dadurch fortwährend reproduzierte Hierarchie zwischen Mann und FLINTA*, aber auch zwischen Männlichkeiten selber, stellt vermeintliche Unabhängigkeit durch Überlegenheit her. Auch wenn selbsternannte Alpha-Männer ein immer kleineres Phänomen werden, ist die Logik noch dieselbe: Wer am meisten weiß, am meisten kann und generell der Fels in der Brandung ist, steht in der Nahrungskette ganz oben und ist damit unabhängig. Schwäche adieu.

Hier setzt das Zittern ein. Denn Cis-Männlichkeit benötigt anscheinend Weiblichkeit, um sie dann dominieren und ausschließen zu können. „Der Mann muss stark sein“ kann auch als „Der Mann darf nicht weiblich sein“ gelesen werden. Das führt zu einem Paradox: Die cis-männliche Identität behauptet von sich selbst autonom zu sein, aber benötigt für das Gefühl der Autonomie zuerst die Weiblichkeit. Weiblichkeit stellt die Cis-Männlichkeit also immer wieder in Frage. Der psychoanalytische Männerforscher Rolf Pohl nennt dieses Paradox „Männlichkeitsdilemma“: Cis-männliche Identität zittert immer zwischen dem Gebot, unabhängig sein zu müssen, und dem Bewusstsein, von Weiblichkeit abhängig zu sein, hin und her.

Zittern zwischen Bettgeschichte und rape culture

Wenn der Cis-Mann Weiblichkeit benötigt, um sie auszuschließen, bedeutet das, dass Weiblichkeit logischerweise auch immer im Cis-Mann vorhanden ist. Das heißt aber auch, dass sie immer wieder ausgeschlossen werden muss. Dies geschieht unter anderem durch Heterosex. Denn wenn wir die Idee eines biologischen Mannes hinter uns lassen, müssen wir uns auch von der Idee verabschieden, dass männlich gelesene Personen immer Sex wollen. Dass sie Sex wollen, ist eben nichts Natürliches, sondern gibt der cis-männlichen Identität einfach nur Handlungsmöglichkeiten, wie die Abhängigkeit von der Frau überwunden werden kann: Wortwörtlich durch ihre „Eroberung“ – also in den meisten Fällen eben durch Heterosex. Heterosexuelles Begehren kann dadurch als die Umwandlung des „Männlichkeitsdilemmas“ in sexuelles Begehren verstanden werden. Und eben nicht mehr als: „Der Mann kann halt nicht anders“.
Diese Erkenntnis ändert an der Wirkung des Männer-wollen-Sex-Mythos jedoch nichts. Denn das sexuelle Begehren zerrt immer noch an der Autonomievorstellung des Cis-Mannes. Dadurch kann der patriarchale Mann wirklich nicht anders, als immer wieder Sex zu wollen – denn dieser ist grundlegend für die Aufrechterhaltung seiner eigenen „autonomen“ Identität.
Sex und Sexualisierung sind damit nur Ventile für die innere Spannung der cis-männlichen Identität – für ihr Zittern. Die Spannung kann sich aber auch extremer entladen: In Vergewaltigungen oder einem Feminizid. Rolf Pohl fasst das so zusammen: „Bei allen Formen von sexueller Gewalt wird die Frau für das Begehren bestraft, das sie im Mann auslöst“3. Die patriarchale Gesellschaft erklärt das gewaltvolle Verhalten jedoch weiterhin mit dem Mythos des männlichen Sextriebes. Und liefert damit die Grundlage für das tagtägliche Aufrechterhalten der rape culture.

© Julie Mathées

Zitternde Antifeministen…

Ein extremes Beispiel für sexuelle Gewalt sind Incels, eine antifeministische Internetbewegung, die für Anschläge weltweit die Ideologie liefert. Ihr Frauenhass resultiert aus der Ansicht, dass Männer ein naturgegebenes Recht auf Sex hätten, Frauen ihnen diesen jedoch verweigern4. Übersetzt bedeutet dies: Incels begreifen sich als autonome Männer – also Subjekte – die deshalb davon ausgehen, mit Frauen tun und machen können, was sie wollen. Frauen sind für sie Objekte. Die Feminismen werden innerhalb dieser Logik als Angriff auf die Autonomie des Mannes verstanden: Den Männern wird angeblich etwas weggenommen. Durch den Wandel der Frau vom Objekt zum Subjekt – durch die Feminismen – wird diesen Cis-Männern jedoch nur ihre innere Abhängigkeit aufgezeigt. Diese war davor nicht sichtbar, weil geschlechtliche Machtverhältnisse als „natürlich“ galten, also der Mann als Subjekt und die Frau als Objekt. Der Antifeminismus äußert sich deshalb immer gewaltvoll. Er muss die Frau wieder in die Rolle des Objekts drängen, das dominiert werden kann. Dies zeigt sich im Fall der Incels z.B. in der Bewertung der Attraktivität von Frauen durch Skalen oder in der Bezeichnung der Frauen mit dem Pronomen „es“5. Frauen sollen wieder ein stabiler Rettungsring sein, an dem sich zitternde Cis-Männer festhalten können.

…rangeln sich männlich.

Incels sind dabei nur eine extreme Ausprägung des Patriarchats. Dieselben, aber schwächeren Mechanismen können auch in anderen Bewegungen beobachtet werden – wie etwa in der mythopoetischen Männerbewegung: In den 80er Jahren als Gegenbewegung zur zweiten Welle des Feminismus entstanden, wollten diese Männer ihr Zittern lindern, indem sie sich auf eine ursprünglich freie männliche Identität besinnen – auf einen männlichen Archetypen. Und der steht einem Steinzeitmenschen in nichts nach. Die Idee ist, dass die ursprüngliche männliche Energie durch die Frauenbewegung verschüttet wurde. Es gilt, diese wieder auszugraben. Rezept dafür: Finde dich mit anderen Männern zusammen, mach Dinge, wie Rangeln, Jagen oder Lagerfeuer-sit-ins und verbinde dich durch körperintensive Arbeit mit deiner ursprünglichen Männlichkeit6 . Nicht selten gehört auch eine abendliche Kuschelsession mit dazu, bei der die Steinzeit-Männer auch ihre männlich-zarte Seite zeigen können. Klingt eigentlich harmlos.

Wie auch die Incels reagieren diese Cis-Männer jedoch auf emanzipatorische Entwicklungen mit einem Rückzug in homogene Gruppen, sogenannte Männerbünde7. Dort kann die männliche Autonomie wieder gespürt werden. Die männliche Identität darf sich in ihren Widersprüchen wieder voll entfalten, das Zittern hört endlich auf. Letztendlich wird aber nur Energie und Motivation gesammelt, um FLINTA* oder andere marginalisierte Männlichkeiten erneut zu unterwerfen8. Denn wird die Männergruppe wieder verlassen, fangen die Cis-Männer wieder an zu zittern – der innere und gesellschaftliche Druck, Heterosex zu haben und die dominierende Person zu sein, zerrt an der Autonomievorstellung. Diese muss deshalb immer wieder vor sich selbst, anderen Männern, sowie FLINTA* bewiesen werden.

© Julie Mathées

Alles nur extremes Zittern?

Cis-Männlichkeit ist nicht natürlich vorhanden. Sie muss sich durch Dominanz immer wieder selbst herstellen. Dies gilt für den Cis-Mann, der Frauen immer wieder ins Wort fällt, wie für den Cis-Mann, der Frauen nachts verfolgt oder das Messer zückt. Feminizide sind natürlich extreme Beispiele dafür, was Männlichkeiten hervorbringen können. Dennoch sind sie eben nur ein extremer Ausdruck einer männlichen Gewaltskala, die sich etwa durch Mansplaining auch weniger extrem zeigt.
Mansplaining, rape culture und Femizid sind unterschiedlich starke Ausprägungen derselben Sache: Herstellung und Sicherung der cis-männlichen Identität. Denn um autonom zu sein, muss Abhängigkeit und Verletzlichkeit negiert werden – das Zittern zwischen den Polen autonom/abhängig muss zum Stillstand gebracht werden. Der Kern der cis-männlichen Identität ist deshalb Gewalt. Und er kann nur mit noch mehr Gewalt stabilisiert werden. Wer versucht, Cis-Männlichkeit zu retten, hat dies noch nicht verstanden und macht sich im Zweifel mit schuldig.


Für die weitere Beschäftigung mit Männlichkeit:

Blog von Janosch, gut für eine Einführung in das Thema kritische Männlichkeit.

Blog von Kim Posster, der Männlichkeit aus einer marxistischen Brille kritisiert.

Zeitschrift „Männer und Geschlecht“ frei zum downloaden.

bell hooks „The will to change“ – gutes Buch zur Einführung ins Thema Männlichkeiten und wie Männlichkeit zu Menschlichkeit werden kann.


Anmerkungen

1Ich beziehe mich hier explizit auf ein binäres Geschlechtersystem, weil dieser Text die Produktion der cis-männlichen Identität innerhalb des Patriarchats untersucht. Dennoch probiere ich den Verweis auf die Binarität zu kennzeichnen, indem ich „Cis-Mann“ schreibe.

2https://www.deutschlandfunkkultur.de/klaus-theweleit-ueber-maennerphantasien-die-angst-vor-der.1008.de.html?dram:article_id=462394 & https://zeithistorische-forschungen.de/3-2006/4650

3https://www.sueddeutsche.de/kultur/metoo-interview-1.3801247

4Veronica Kracher in ihrem Buch „Incels: Geschichte, Sprache und Ideologie eines Online-Kults“ (2020, Ventil Verlag)

5https://jungle.world/artikel/2019/01/gekraenkte-maennlichkeithttps://jungle.world/artikel/2019/01/gekraenkte-maennlichkeit

6https://www.bpb.de/apuz/25500/geschlechterdemokratie-als-maennlichkeitskritik?p=all#footnodeid55-55

7https://christophmay.eu/wer-schweigt-stimmt-zu-rant-gegen-maennliche-abwehr-christoph-may/

8Übrigens wurde diese Strömung in der Y-Kollektiv-Doku „Männlichkeit unter Beweis: Männer auf dem Weg zu sich selbst“ durchweg positiv dargestellt und hat in diesem sehr populären Medium eine riesige Plattform bekommen. Für eine ausführlichere Kritik siehe hier.

  1. Pingback: Männlichkeit zum Zittern bringen – Teil 2: Männlichkeit ist immer »toxisch« – sai

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert

Gefällt dir das sai-magazin?