»Libanon – der Elefantenfriedhof meiner Träume«

Text: Frieda Teller| Beitragsbild: © Nora Boiko

Im Januar 2019 zog die 24-jährige Ginan Osman von Deutschland in den Libanon, um dort Middle Eastern Studies an der American University in Beirut zu studieren. Seitdem lebt sie in einer Art andauernden Ausnahmezustands aus Wirtschaftskrise, Pandemie und den Folgen der katastrophalen Explosion im Beiruter Hafen.

Zu Beginn des Jahres dachte Ginan Osman noch, dass ihre Masterarbeit zu schreiben ihr größtes Problem dieses Jahr werden würde. Inzwischen fällt es ihr an vielen Tagen schwer, sich überhaupt auf ihre Arbeit zu konzentrieren. Zu viel ist passiert in diesem Jahr 2020. 

Wie so oft in diesen pandemischen Zeiten blicken wir uns in digitalen Zoom-Rechtecken an. Unsere universell weißen Wände im Hintergrund verraten nicht, wo wir sind. Es sind zwei Stunden Zeitunterschied, die sich zwischen mir in London und Ginan in Beirut erstrecken. Während sich ganz Europa gerade auf einen neuen Lockdown vorbereitet, befindet sich die libanesische Hauptstadt seit Monaten in einem anhaltenden Ausnahmezustand aus Wirtschaftskrise, Zerstörung und Pandemie.

Ginan Osman ©Privat

Die Explosion via Sprachnachricht

Gigantische Rauchwolken steigen hinter einem hellen Gebäude am Hafen in den hellblauen Abendhimmel, plötzlich lodern Flammen auf, ein Knall und ein dampfender Kreis begräbt die Häuser der Stadt unter sich, die Erde bebt und die Aufnahme wackelt – diese Bilder gingen um die Welt. 

Am 4. August 2020 explodierten in der libanesischen Hauptstadt 2750 Tonnen Ammoniumnitrat. Die libanesische Regierung wurde zwei Wochen vor der Explosion vor der Gefahr gewarnt. Das kristalline Salz ist hoch explosiv und wird zur Herstellung von Dünger und Sprengstoff verwendet. Es lagerte dennoch jahrelang im Beiruter Hafen ohne die notwendigen Sicherheitsvorkehrungen. Ginan besucht zum Zeitpunkt der Explosion gerade ihre Familie in Deutschland, sie hört den Knall der Explosion über die Sprachnachricht einer Freundin, weil diese denkt, sie würde gleich sterben. 

Wenige Tage später kehrt Ginan in eine traumatisierte Stadt zurück. Nicht nur ihre beste Freundin hat ihre Wohnung verloren, ganze Stadtviertel rund um den Hafen wurden in Trümmerhaufen verwandelt. Mehr als 200 Menschen verstarben bei der Explosion, über 6500 Menschen wurden verletzt und 300.000 Menschen schlagartig obdachlos. Dennoch verweigert der Staat Soforthilfen. Die Bevölkerung reagiert mit Massenprotesten und die Regierung mit ihrem Rücktritt sechs Tage später.

Studieren während der Revolution

Doch die Proteste gegen die Regierung und die herrschende politische Klasse, sowie das Staatssystem des Konfessionalismus begannen bereits im Oktober vergangenen Jahres. Schon damals trieb die Wirtschaftskrise im Land viele Menschen in die Armut, es wüteten verheerende Waldbrände und die Politiker:innen verfehlten es, geeignete Maßnahmen zu treffen, um die Bevölkerung zu schützen. 

Mitte Oktober 2019 kündigte das Kabinett stattdessen an, eine absurde Steuer von bis zu sechs Dollar monatlich auf die Nutzung von WhatsApp zu erlassen. Als Reaktion auf diesen Vorschlag begannen landesweite Streiks und Straßenblockaden. Die Menschen forderten ein Ende der Korruption, riefen „Bildung, Freiheit, soziale Gerechtigkeit!“ und versuchten nichts Geringeres als eine Revolution. Unter den zeitweilig mehr als eine Millionen Demonstrant:innen war auch Ginan; die Essays für ihr Studium schrieb sie zum Teil am Straßenrand. In Videoaufnahmen der Proteste tanzen junge Menschen zu Techno-Musik, heben entschlossen die Landesflaggen und ihre Fäuste in den Himmel. 

„Heute vor einem Jahr“, erinnert sich Ginan, „war es zu gewaltsamen Ausschreitungen zwischen Protestierenden und Anhängern der schiitischen Amal Miliz gekommen. In Gruppenchats und von meiner Professorin wurde ich an diesem Tag gewarnt, den Protesten besser fernzubleiben, während ich auf dem Weg genau dorthin war“. Ginan kehrte dennoch nicht um. „Etwas hat sich an diesem Tag grundlegend verändert. Es wurde erstmals gewalttätig und trotzdem sind die Leute zurückgekommen. Nach diesem Tag war die Angst weg“, erzählt mir Ginan. 

Wenn die Hoffnung nicht bis morgen reicht

Die Armutsrate im Libanon hat sich im vergangenen Jahr mehr als verdoppelt. Die UN warnt, dass aktuell über die Hälfte der Bevölkerung unter der Armutsgrenze lebt. Die ohnehin ungleiche Wohlstandsverteilung im Land verstärkt sich dramatisch: „Wir sind alle constantly on edge“, beschreibt Ginan die katastrophale Situation, die seit Monaten andauert. Alles ist zu viel. Die politischen und globalen Ereignisse haben dabei auch ganz persönliche Konsequenzen und ziehen für viele schwere psychologische Folgen nach sich.

„Wir sind in einem Zustand kollektiven Traumas seit der Explosion, der auch persönliche Beziehungen verändert“, erzählt mir Ginan. „Die Paare in meinem Freund:innenkreis trennen sich, Freund:innenschaften zerbrechen, wir wissen nicht, wie wir den heutigen Tag überleben sollen.“ Die ersten Wochen habe Ginan viel Zeit einfach damit verbracht, Menschen in den Arm zu nehmen. „Meine Freund:innen haben teilweise ihre Jobs und ihre Wohnungen verloren“, sagt sie. Inzwischen fangen wir an Bewältigungsstrategien zu entwickeln. Ginan selbst hat angefangen Oud zu lernen, eine Art orientalische Gitarre, erklärt sie und lächelt fast.

Viele wollen von Ginan wissen, was ihr in dieser Situation Hoffnung gibt – auch ich habe sie im Vorfeld danach gefragt – aber sie ist genervt davon. „Ich habe keine Hoffnung gerade“, sagt sie. Alle ihre Freund:innen suchen gerade nach Wegen das Land möglichst schnell zu verlassen, nach Jobs und Studienplätzen im Ausland, auch solche, die nie aus dem Libanon weggehen wollten. Aber wegen der anderen globalen Krise, der Covid-19-Pandemie, haben viele Staaten, wie die USA und die EU, einen Visa-Stopp verhängt. Visa, die mit einer libanesischen Staatangehörigkeit ohnehin nicht leicht zu bekommen sind. 

„Es gibt layers und layers und layers und layers des Problems“, meint Ginan. Marginalisierte Gruppen sind besonders hart von der Explosion getroffen wurden. Gerade Geflüchtete oder queere Menschen verloren durch die Wirtschaftskrise und die Explosion ihre Existenzgrundlagen. Auch Gastarbeiter:innen, die in sklavenartigen Abhängigkeitsverhältnissen zu ihren Arbeitgeber:innen stehen, durch das sogenannte Kafala System, sind von den Folgen besonders betroffen. 

Spenden damit der Moment noch bleibt

Wenige Stunden nach der Explosion wollte Ginan diesen Menschen ganz direkt helfen und startete mit Anna Fleischer eine Spendenkampagne. Binnen acht Tagen sammelten sie so mehr als 31.000 Euro Spenden. Dabei aktivierten sie gezielt ihr politisiertes Umfeld in Deutschland, um 15 verschiedene Initiativen schnell und unkompliziert finanziell zu unterstützen. Einige, wie „Beit Beit“, eine Initiative junger Ingenieur:innen, wurden direkt nach der Explosion gegründet, um zerstörte Wohnungen wiederaufzubauen. Andere, wie die feministische NGO „Egna Legna“, die von äthiopischen Frauen gegründet wurde und sich besonders für die Situation von Gastarbeiter:innen einsetzt, nutzen ihre bereits bestehenden Strukturen für humanitäre Soforthilfe in Form von Nahrungsmitteln, Medikamenten und Unterkünften.

„Libanon- der Elefantenfriedhof aller Träume, die je gewagt haben zu existieren“, tweetet Ginan am 5. Oktober 2020, ein Jahr nach dem Beginn der Revolution, acht Monate nachdem im Libanon die erste Person an Covid erkrankte und zwei Monate nach der Explosion im Beiruter Hafen. „Ich weiß, mein Twitter liest sich gerade wie das Tagebuch einer depressiven 16-Jährigen,“ erklärt Ginan, „aber das war dann wohl einer dieser dunklen Tage, an denen ich sehr traurig war“. Es sind noch einige dunkle Tage des Jahres 2020 übrig. „Es wäre gut, wenn die Zeit mal für einen Moment stehen bleiben würde“, wünscht sich Ginan, „denn es verändert sich alles jeden Tag, aber es gibt keine gute Veränderung, es wird immer schlimmer.“  


Das Gespräch wurde am 29.10.2020 geführt.
Ab dem 14. November 2020 bis zum 29. November wurde für den Libanon ein erneuter Lockdown verhängt, welcher voraussichtlich die wirtschaftliche Krise im Land weiter verschärft.



Eine Übersicht aller unterstützen Initiativen

Beit Beit
Initiative junger Ingenieure die Wohnungen nach der Explosion reparieren. Die Fortschritte kann man auf Instagram nachverfolgen:
https://www.instagram.com/beitbeit_beirut/ 

Syrian Eyes
Eine von jungen Freiwilligen geführte gemeinnützige Organisation, die vertriebenen syrischen Flüchtlingen in den informellen Zeltsiedlungen im Libanon und den bedürftigsten Menschen aus der libanesischen Gesellschaft Hilfe leistet. 
https://www.syrianeyes.org/ 

Anti Racism Movement
ARM ist eine NGO, die von Gastarbeiter*innen und Feministinnen gegründet wurde. Ihre Arbeit richtet sich spezifisch gegen rassistische Diskriminierung und Missbrauch im Libanon. Nach der Explosion hat ARM im großen Umfang Nahrung verteilt, Wohnraum zur Verfügung gestellt und es geschafft, einige äthiopische Gastarbeiterinnen die Rückreise in ihre Heimatländer zu ermöglichen. 
https://armlebanon.org/donate 

Haven for Artists
HfA ist eine NGO, gegründet und geführt von queeren Frauen, die an der Schnittstelle von Kunst und Aktivismus arbeitet und kreative und humanitäre Methoden kombiniert, um vor allem Aktivist*innen, Künstler*innen einen Raum für den Austausch von Informationen, Werkzeugen und Fähigkeiten zu bieten. Als Reaktion auf die Explosion baute die HfA ihre Büros in eine Unterkunft um und versorgte Hunderte von Menschen, vor allem Gastarbeiter*innen, Queere Menschen und Familien, mit Lebensmitteln, Medikamenten und Bargeld.
https://havenforartists.org 
https://www.instagram.com/havenforartists/?hl=de 

LGBT Relief Funds
Der LGBT Relief Funds wurde ins Leben gerufen, um queere Menschen, die besonders stark von der Explosion betroffen wurden zu unterstützen. Die Organisator*innen sind eine Gruppe queerer Aktivist*innen, die schon seit Jahren community-Arbeit leisten.
https://de.gofundme.com/f/funds-for-lgbtq-victims-of-beirut039s-explosion 

Beit El Baraka
Beit El Baraka ist eine lokale NGO, die sich besonders auf die Bedürfnisse der älteren verarmten Bevölkerung konzentriert. Sie hat sich als Reaktion auf die Explosion in verschiedenen Bereichen der Nothilfe wie Nahrungsmittelhilfe, medizinische Unterstützung, Wiederaufbau von Häusern und landwirtschaftlichen Projekten stark engagiert. 
https://www.beitelbaraka.org 

Egna Legna
Egna Legna ist eine feministische NGO, die von äthiopischen Frauen gegründet wurde und geleitet wird, die sich für die Belange von Gastarbeiter*innen und für allgemeine Frauenfragen im Libanon und in Äthiopien einsetzt. Von der gegenwärtigen Wirtschaftskrise sind ausländische Gastarbeiter*innen im Libanon besonders betroffen. Als Reaktion auf die Explosion rief Egna Legna eine Spendenaktion ins Leben, um die Opfer des unmenschlichen Kafala-Systems mit Nahrungsmitteln, Medikamenten und Unterkünften für Tausende von Frauen zu unterstützen. 
https://www.gofundme.com/f/seh4y7-food-and-medicine-for-kafala-victims-in-lebanon 

Al Makan/ Jude Chehab
Al Makan ist ein spiritueller und kultureller Ort, der von AUB-Professorin Hiba Khodr gegründet wurde. Als Reaktion auf die Explosion begannen sie mit Hilfsaktivitäten in den betroffenen Gebieten. Die Aktivitäten umfassen Hilfe bei der Säuberung und dem Wiederaufbau von Familienhäusern und die Bereitstellung von Bargeld, Lebensmitteln, Medikamenten, Hygieneartikeln usw. 
https://www.paypal.com/paypalme/judechehab 

Marsa
Marsa ist eine lokale Nichtregierungsorganisation, die vertrauliche sexuelle Gesundheitsfürsorge für alle anbietet. Zu ihren Angeboten gehören medizinische Konsultationen sowie psychologische Unterstützung und Beratung.  
https://marsa.me/donate 

Minteshreen
Eine von jungen Menschen geleitete Initiative, die als Reaktion auf die Oktoberrevolution ins Leben gerufen wurde und in Bezug auf weibliche Hygiene, psychische Gesundheit und Nothilfe nach der Explosion Hilfe leistet.
https://www.instagram.com/minteshreen/ 
Für weitere Spenden: https://www.instagram.com/basecampbeirut/?igshid=wxa3puyjociy 

Byout Beirut
Eine Initiative von Freiwilligen, die Häuser in Beiruts am stärksten benachteiligten Stadtteilen reparieren.
https://www.instagram.com/byoutbeirutleb/ 

Beb w Shebbek
Wiederaufbau von Häusern mit besonderem Schwerpunkt auf traditionellen und handwerklichen Türen und Fenstern von 80.000 zerstörten Häusern nach der Explosion vom 4. August.
https://www.instagram.com/bebwshebbek/ 
Für weitere Spenden: https://www.ulyp.org/donate

Alpha Association
ALPHA ist eine libanesische gemeinnützige Organisation, die humanitäre Hilfe leistet und langfristig nachhaltige Projekte und Strategien umsetzt, die Individuen und ihre Gemeinschaften weiterbildet.
Für weitere Spenden: https://www.alpha-association.info/

Offre Joie
Offre Joie ist eine lokale humanitäre NGO, die 1985 gegründet wurde. Als Reaktion auf die Explosion begann sie mit verschiedenen Hilfsaktionen in den betroffenen Gebieten. 
https://offrejoie.org 

Lebanon’s Angels
Lebanon’s Angels ist eine lokale, gemeindebasierte und von jungen Menschen geführte NGO, die als Reaktion auf die Explosion in Beirut gegründet wurde. Ihre Aktivitäten umfassen die Bereitstellung von Nahrungsmitteln, Medikamenten, Kleidung und Unterkunft für Familien und Einzelpersonen in den stark betroffenen Gebieten.
https://www.paypal.com/pools/c/8rzhpGewMy/ 
https://www.instagram.com/lebanonsangels/ 

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