Ideen neu denken

von Salar Pashai | Illustrationen: Marit Brunnert

Ein Interview mit Professor Dr. Frieder Otto Wolf über ein paar grundlegende Themen der politischen Philosophie

Durch neue Interpretationen schafft man neue Bedeutungen. Es gibt immer noch Ideen in der Geschichtsphilosophie, die nach Dekaden, sogar Jahrhunderten neu interpretierbar sind. Jede*r Einzelne kann mit und für sich denken und – wie Hanna Arendt sagt – einen inneren Dialog mit sich selbst führen. Aus dem Dialog mit sich selbst können neue Ideen entstehen. Auf der Ebene der politischen Philosophie gibt es einen großen Bedarf zum gemeinsamen Denken verschiedener Generationen – einen Bedarf nach gemeinsamen Dialog. Unser Autor Salar Pashai versteht das sai Magazin als einen Versuch, diesen Bedarf zu decken und die heutigen politischen, wirtschaftlichen und sozialen Krisen unserer Welt neu zu interpretieren. Dafür tritt er mit dem Professor Frieder Otto Wolf vom philosophischen Instituts der Freien Universität-Berlin in den Dialog. Willkommen bei der Reise durch die politisch philosophische Ideengeschichte.

Dr. Wolf, Sie beschäftigen sich seit mehr als 50 Jahren mit der politischen Philosophie und der marxistischen Tradition. Traditionell ist die Arbeiterklasse das Subjekt im Klassenkampf – das einzige Subjekt für die Emanzipation. Was denken Sie – wer ist das eigentliche Subjekt?

Wolf: Erst einmal würde ich sagen, dass diese vereinfachte Sicht nicht die von Marx ist. In den politischen Schriften, in denen Marx konkrete Kämpfe und Machtverhältnisse analysiert, hat er kein einfaches Verständnis von Klassen. In seinem Buch „Der achtzehnte Brumaire des Louis Bonaparte“ gibt es zum Beispiel viele Klassen: „die Mittelklassen“ und ähnliches. Er fragt sich: Was sind die Emanzipationsperspektiven, die aus der Sicht unterschiedlicher Klassen vorstellbar sind? Daher denke ich, dass diese Vorstellung, dass es die emanzipatorische Perspektive nur aus der Sicht vom Proletariat gibt, eine übermäßige Vereinfachung. Dem liegt wahrscheinlich die Vorstellung zu Grunde, dass wenn es darum geht, die Herrschaft des Kapitals zu überwinden, das Proletariat dazu aufgerufen wird. Aber die Vorstellung, nach der die Kapitalherrschaft die einzige Art von Herrschaft ist, ist bereits bei Marx schon nicht konkret so aufzufinden und auch deshalb wenig plausibel.

Heißt das, dass man aus politischer Perspektive sagen kann, dass es gerechtfertigt sei, wenn linksorientierte Aktivist*innen oder Parteien alle unterdrückten und marginalisierte Klassen zu einem gemeinsamen politischen Kampf aufrufen?

Wolf: Ich denke schon. Es gibt ein paar grundlegende Herrschaftsverhältnisse, zum Beispiel ein Kapitalverhältnis, ein Verhältnis der internationalen Unabhängigkeit, und ein Geschlechtsverhältnis. Dann gibt es Herrschaftsverhältnisse, die sehr komplex sind. In diesem Fall kann man den Gedanken stark machen, dass Kämpfe zur Überwindung dieser Herrschaftsverhältnisse sich mit einander verbinden und solidarisieren sollten. Aber dafür würde ich noch mal betonen, dass auch die sozial tiefsitzenden strukturellen Herrschaftsverhältnisse nicht der einzige Gegenstand von Kämpfen sind. Auch staatliche Unabhängigkeit in den ehemaligen Kolonien und Emanzipation sind selbstverständlich der Gegenstand der Kämpfe. Wenn zum Beispiel das kurdischen Volk dafür kämpft, die politische Selbstbestimmung zu erreichen. Die politische Selbstbestimmung zu erkämpfen ist der erste Schritt. Soziale, strukturelle Herrschaftsverhältnisse entgegenzutreten der Zweite.

Die Geschichte war immer ein strittiges Thema in der politischen Philosophie: Wer darf die Geschichte wie schreiben? Walter Benjamin will durch den Fokus auf die unterdrückten Klassen die Geschichte neu erzählen. Michel Foucault versuchte die Geschichte zu analysieren, indem er eine reine Beschreibung von unterschiedlichen Diskursen zusammenträgt. Sind beide gegen eine Kontinuität der Geschichte?

Wolf: Ich denke Sowohl Benjamin als auch Foucault sind erst einmal als Polemiken zu verstehen. Als Polemiken gegen eine lineare teleologische Geschichtsbetrachtung, gegen die Vorstellung von Adam und Eva. Sie wollen karikieren, dass Geschichte ein bestimmtes Ziel hat und dieses Ziel in Etappen erreicht wird. Ich glaube, dass dieser Vorstellung zu Grunde liegt, dass ein objektiver Zweck vorausgesetzt wird. Das macht in einer biblischen Perspektive Sinn, aber in keinem Rationalen. Damit kommen wir zu der schwierigen Frage: Wie ist überhaupt eine historische Richtung zu begreifen? Da würde ich Benjamin und Foucault recht geben. Das muss aus der Rekonstruktion bestimmter historischen Prozesse bestimmt und nicht im Allgemeinen auf die Geschichte projiziert werden. Man kann durchaus z.B. in 19.Jahrhundert und frühen 20. Jahrhundert, eine Geschichte der Emanzipation von Arbeitern oder eine Geschichte der Abschaffung der Sklaverei oder eine Geschichte der Erringung von nationaler Selbstbestimmung erzählen. Da gibt es solche Geschichten und sie zu rekonstruieren ist sinnvoll. Aber, wenn das dann in die Vorstellung umschlägt diese Erzählung als inneres Gesetz der Geschichte anzusehen, die letztlich zur Befreiung der Nationalen und klassenmäßigen Befreiung führt, ist das leider falsch.

Springen wir in der Geschichte: Demokratie wird seit der Antike verschieden ausgelegt. Die Anhänger der radikalen Demokratie wie Chantal Mouffe und Ernesto Laclao kritisieren seit Jahren die Liberale Demokratie. Sie fordern: Passive Steuerzahler*innen sollen zu aktiven, politischen Akteur*innen werden. Anderseits kritisieren viele gegenwärtige Philosophen wie Ranciere, Badiou und Zizek diese Auffassung von Radikaldemokrat*innen und finden, dass sie die politischen Ökonomieverhältnisse missachten.

Wolf: Demokratie bezieht sich erst einmal auf  moderne Staaten. Moderne Staaten unterscheiden sich als solche erst mal von den elementaren Herrschaftsverhältnisse wie dem Kapitalverhältnis, dem Patriarchalverhältnis oder internationale Dependenzverhältnis. Die Frage der Demokratie in modernen Staaten ist eben auch auf  die Begrenzung der Staatsform beschränkt. Die Vorstellung, dass sobald die Kapitalverhältnisse überwunden sind, sich keine Fragen der politischen Form mehr stellen, halte ich für falsch. Nach dieser Auffassung gibt es in einer befreiten Gesellschaft keine Politik mehr und deswegen keine Politischen Form! Das glaube ich nicht. Schon deswegen, weil es eben auch immer unterschiedliche Herrschaftsverhältnisse gibt, die zu überwinden sind – oder ökologische Bedingungen. Es ist nicht so, dass in einer vermeintlich befreiten Gesellschaft alles im Überfluss vorhanden ist. Es gibt vielfältig Formen von Knappheit, vielfältig Grenzen und deswegen glaube ich, müssen immer politische Entscheidungen getroffen werden. Da stellt sich die radikaldemokratische Frage: Wie kann die Menge der Vielen sich so organisieren, dass sie diese Entscheidungen selber fassen kann? Das verlangt bereits die Organisation der Entscheidungsfindung. Das sind anspruchsvolle Prozesse. Die Vorstellung, dass es keine Politik mehr gibt oder dass alles ganz einfach wird, halte ich es für wenig plausibel. Sondern das muss weiter Politik gemacht werden. Das ist für mich auch ein  Argument für die Pluralität von Gemeinwesen und zu unterschiedlichen Entwicklungen. Es kann nebeneinander unterschiedlich Entwicklungswege geben.

Unser Blick durch die Ideengeschichte erfolgt durch Sprache. Wenn man die Auffassungen von Hanna Arendt, Walter Benjamin, Michel Foucault und Wittgenstein verfolgt, stellen wir fest, dass Sprache eine Hauptrolle spielt.  Sie ist das Werkzeug, um eine Analyse der Geschichte vorzunehmen.

Wolf: Das ist stets schwierig: Wie kann man Begriffe entwickeln, die die Ideen artikulieren, die, wie man schön – oder falsch – sagt, die Massen ergreifen? Zunächst:  Das „Massenergreifen“ ist in zweierlei Hinsichten falsch. Erstens, weil es die Vorstellung einer indifferenten Masse suggeriert. Dagegen handelt es sich um viele einzelne, die alle unterschiedliche Vorstellungen haben. Zweitens ist das „Ergreifen“ falsch: Es geht vielmehr darum, dass viele der Einzelnen sich die Gedanken zu eigen machen, statt, dass sie von oben vorgegeben werden. Das ist ein umgekehrter Prozess. Das ist wichtig, weil der Versuch, die Massen zu ergreifen offenbar immer dazu führt, dass man dann, wenn die Massen sich irgendwie dumm anstellen, das Mittel einer Autoritären Pädagogik anwendet. Das ist politisch destruktiv. Das führt dazu, dass die Massen sagen: das ist nicht unser Ding. Dann ist die Chance, die Masse als Träger eines Prozesses zu aktivieren, vertan. Aber denken Sie daran, wie die kritischen Lektüre uns einen kritischen Umgang mit der Sprache ermöglicht. Philosophie kann helfen, durchschaubar machen, wie die Verhältnisse von Ideen, Begriffen und Slogans funktionieren.

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