Erinnern heißt Verändern

Text: sai:kollektiv | Illustrationen: Nora Boiko

Am 19. Februar 2020 wurden neun Menschen Opfer eines rassistischen Attentats. Wir trauern um und erinnern an:
 


Erinnern heißt auch, nach dem Verstummen, nach dem Trauern, dem Innehalten, zu sprechen: Erinnern heißt verändern.

Hanau war kein Einzelfall. Hanau wurde ermöglicht durch das Versagen von Polizei, Staatsanwaltschaft, der Landesregierung und Behörden und dem Versagen von uns als Gesellschaft. 

Der Zusammenschluss Initiative 19. Februar aus Angehörigen der Opfer klagten am 14. Februar 2021 an. Sie zeichnen die Kette des Versagens nach:

Das Versagen begann damit, dass ein rechtsextremer Mensch, gegen den verschiedene Strafverfahren liefen, 2013 eine Waffenerlaubnis erhalten hatte. Diese wird einige Zeit später sogar verlängert und erweitert auf europäische Feuerwaffen.

Der Täter nahm an Gefechttrainings in den Monaten vor dem Anschlag teil, er galt auch bei diesen als “auffällig”. Auch als im März 2017 nur wenige hundert Meter vom Wohnort des Täters ein bewaffneter Mann in militärischer Kleidung eine Gruppe Jugendlicher bedrohte und rassistisch beleidigte, hätte den zuständigen Behörden etwas auffallen müssen.
Seine Worte, “Hier wird es Tote geben”, waren den ermittelnden Beamt:innen nicht Grund genug, im unmittelbaren Umfeld des Ortes der Bedrohung nach Verdächtigen zu suchen. Der Täter war der Staatsanwaltschaft bekannt. Zuletzt hatte er im November 2019 ein 24-seitiges Schreiben an die Staatsanwaltschaft geschickt, es folgte keine Gefährder:innenprüfung. Die Website des Täters, auf welcher dieser das rassistische Bekennerschreiben und Videos veröffentlichte, war bereits im Oktober 2019 online gestellt worden. So wie der Täter von Hanau verfügen 1.200 behördlich bekannte rechtsextreme Menschen in Deutschland 2020 legal über Waffen. Das sind 35% mehr als noch 2019. 

Wir schließen uns der Forderung der Initiative 19. Februar an:

Rassist:innen entwaffnen. 

Hanau war kein Einzelfall. Um 21:57, 21:58, 21:59 versucht Vili Viorel Păun die Polizei zu rufen, doch diese nimmt nicht ab. Bis heute erfolgt bei dieser Polizeibehörde keine Notrufweiterleitung.

Es ist also nicht unwahrscheinlich, dass ein Mensch bei der Polizei anruft und diese nicht ans Telefon geht – fast so als sei dies tatsächlich eine Option, als könne man sonst später zurückrufen.

Vili Viorel Păun wollte den Täter stoppen und wurde deshalb ermordet.
Die Eltern des 22-Jährigen erfuhren erst am nächsten Nachmittag von dem Tod ihres Sohnes. 

Sie wurden wie viele der Angehörigen mit ihrer Trauer allein gelassen. 

Als Piter Minnemann, ein Überlebender des Anschlags, die Polizist:innen, die kurz nach der Tat vor der Arena Bar stehen, dazu auffordert endlich zu kommen, weil dort drinnen gerade Menschen sterben würden, lassen sich diese Zeit. Kurz darauf wird er, während der Täter noch auf freiem Fuß ist, von der Polizei dazu aufgefordert, drei Kilometer zur nächsten Polizeiwache zu laufen, um Anzeige zu erstatten. 

Andere Angehörige werden am Tatort kriminalisiert und nicht zu den Opfern gelassen.

So berichtet der Vater von Mercedes Kierpacz davon, nach mehreren Stunden des Ausharrens mit seiner Familie im Auto, von einer bewaffneten Polizeieinheit umstellt worden zu sein. Seine Erklärung, er sei ihr Vater,
der Vater eines Opfers, wurde nicht geglaubt und erst nach mehrfacher Aufforderung eines anderen Polizeibeamten hieß es: “Falscher Alarm.”

Sie dürfen nicht Abschied nehmen. Sie sehen die entstellten Leichen ihrer Kinder, Eltern, Verwandten erst nach der Obduktion. Viele ihrer Fragen bleiben bis heute unbeantwortet. So auch, warum der Notausgang der Arena-Bar, ein potentieller Fluchtweg, verschlossen war. Die Aufklärungsarbeit wird dabei zum Großteil von den Angehörigen selbst übernommen. Sie stoßen selbst Ermittlungen an, wie auch zu der Frage nach dem verschlossenen Notausgang. “Die problematischen Punkte sind nur in der öffentlichen Diskussion, weil sie von den Angehörigen dort hineingetragen werden. Sie sind diejenigen, die das öffentlich machen”, sagt die Anwältin Antonia von der Behrens, die die Familie Kurtović vertritt.

Der hessische Innenminister lobt exzellente Polizeiarbeit. Die Behörden geben keine Fehler zu. Die Mutter von Sedat Gürbüz sagt: “Durch Ihren Fehler, habe ich mein Kind verloren.”

Es folgt: Keine Entschuldigung. 

Wir schließen uns der Forderung der Initiative 19. Februar an:

Lückenlose Aufklärung. 

Hanau war kein Einzelfall. Als der Vater des Täters im März in die Nachbar:innenschaft des Anschlags zurückkehrte, erhielten die Angehörigen der Opfer von der Polizei sogenannte “Gefährderansprachen”, um den Vater zu schützen. Sie hingegen beklagen nur unzureichend vor dem Vater des Täters geschützt zu sein. Dieser äußert sich weiterhin offen rassistisch und verlangt aufgrund vermeintlicher Volksverhetzung die Entfernung sämtlicher Gedenkstätten an das Attentat, sowie die Rückgabe der Tatwaffen inklusive Munition. Er lebt noch immer in unmittelbarer Nachbar:innenschaft.

Hanau war kein Einzelfall. Der antisemitische und antifeministische Anschlag von Halle 2019 und der Mord an Walter Lübcke reihen sich ein in eine Chronologie rechter Gewalt, die seit der Wiedervereinigung schätzungsweise 198 Opfer gefordert hat. Aber auch rechte Strukturen in Behörden, Polizei und Bundeswehr werden seit dem NSU-Skandal immer sichtbarer. So wurde 2020 öffentlich, dass ein KSK-Soldat Sprengstoff und Munition entwendet hat. Es ist nicht auszuschließen, dass diese sich jetzt in den Händen rechtsextremistischer Gewalttäter befinden.

Wir schließen uns den Forderungen der Initiative 19. Februar an:

Erinnerung!
Gerechtigkeit!
Aufklärung!
Konsequenzen!

Erinnern heißt verändern
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Empfehlungen zum Weiterdenken und Weiterhandeln

Wie die Kommunikationswissenschaftlerin und Soziologin Natasha A. Kelly in der Sendung Die beste Instanz von Enissa Amani deutlich macht, gibt es genug Wissen über Rassismen. Sie sagt: »Die Arbeiten gibt es aus all‘ unseren Communities, aber die Mehrheitsgesellschaft nimmt es nicht an und das ist meine Realität als Schwarze Wissenschaftlerin in diesem Land mit meinem bald siebten Buch, das niemand kennt.« In ihrem Buch Schwarzer Feminismus – Grundlagentexte versammelt die akademische Aktivistin Debatten rund um Intersektionalität und Schwarze feministische Arbeit.

1. Sammelband: Texte nach Hanau

Stolzeaugen.books! ist nach eigenen Angaben der erste Verlag von und für Menschen mit Rassismuserfahrung in Deutschland. Ein Jahr nach Hanau gibt die Verlagsgesellschaft den Sammelband Texte nach Hanau heraus, der durch 50 Autor:innen entstand. Sie erzählen von ihren Enttäuschungen und Erwartungen nach dem rassistischen Anschlag in Hanau. In der Beschreibung des Verlags heißt es: »Während anderswo Karnevalsfeste das Geschehen bestimmten, litt ein großer Teil der Bevölkerung unter dem kollektiven Schock, sowie dem lapidaren bis ignoranten Umgang der Medien – vielfach auch des weißen Freund:innenkreises und Umfelds.«
Stolzeaugen.books!, 2021. 24,90 Euro.

2. Kübra Gümüsay: Sprache und Sein
Sprache beeinflusst unser Denken und um Hass und Gewalt zu überwinden, müssen wir unsere Sprache überdenken. Leseprobe gibt es hier: https://files.hanser.de/Files/Article/ARTK_LPR_9783446265950_0001.pdf
Hanser Berlin, 2020. 18 Euro.

3. Hashtag #einrassismuskritischesAlphabet
Unter diesem Hashtag lassen sich auf Instagram Keywords des Antirassismus nachschlagen.

4. Initiativen unterstützen

a) Der Zusammenschluss Initiative 19. Februar aus Angehörigen der Opfer

b) Bildungsinitiative Ferhat Unvar

»Unsere Kinder dürfen nicht umsonst gestorben sein. Ihr Tod muss das Ende sein, das Ende rassistischer Angriffe. Ihr Tod soll ein Anfang sein von etwas Neuem. Von Schulen ohne Rassismus und von einem Zusammenleben, in dem wir alle gleiche Rechte haben. Keiner entscheidet sich mit welcher Nationalität er geboren wird. Keiner entscheidet sich für schwarze oder blonde Haare. Wie kann es sein, dass das ein Grund dafür ist zu morden?«

Zitat der Website von der Bildungsinitiative Ferhat Unvar

c) KOP Berlin Kampagne für Opfer rassistischer Polizeigewalt

Eine Initiative, die über polizeilichen Rassismus informiert und diesen bekämpft, indem sie rassistische Übergriffe dokumentiert und aufarbeitet, Betroffenen jedoch auch Anwält:innen, Psycholog:innen und Beratungsstellen vermittelt oder sie finanziell unterstützt.

d) Initiative Keupstraße ist überall

Eine Initiative, die sich mit der Aufklärung des NSU-Anschlags in der Keupstraße (Köln) 2004 befasst und Angehörige in ihrem Kampf gegen systemischen und polizeilichen Rassismus unterstützt. Der Hastag #Hanauistüberall wurde durch diese Initiative Inspiriert.

e) Tribunal “NSU-Komplex-Auflösen”
Das Tribunal ist eine Theateraktion des Aktionsbündnisses “NSU-Komplex auflösen”. In sogenannten Tribunalen bieten sich eine Plattform den von rassistischer Diskriminierung Betroffenen, durch die systemische Gewalt mit erlebten Erfahrungen greifbar gemacht wird. 2020 wurde eine Anklageschrift veröffentlicht, die im bewussten Widerspruch zur Anklage der Bundesstaatsanwaltschaft steht und den NSU-Komplex als ein systemisches Problem analysiert. Download hier: https://www.nsu-tribunal.de/anklage/

5. Mehr Informationen über das Attentat in Hanau in diesem Podcast Nachhören.


Am 19. Februar 2020 wurden neun Menschen Opfer eines rassistischen Attentats. Wir trauern um und erinnern an: 

Ferhat Unvar             Gökhan Gültekin            Hamza Kurtović

Kaloyan Velkov         Mercedes Kierpacz        Said Nesar Hashemi

Sedat Gürbüz             Vili Viorel Păun              Fatih Saraçoğlu

Erinnern heißt auch, nach dem Verstummen, nach dem Trauern, dem Innehalten, zu sprechen: Erinnern heißt verändern.

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