Anpassungsfähigkeit und der Arbeitsmarkt im 21. Jahrhundert: Gedanken einer Liberal Arts Absolventin

Text: Henriette Reinhardt | Illustrationen: Marit-Helen Brunnert

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Wenn ich einer Person zum ersten Mal begegne, liegt manchmal ein unbehagliches Schweigen in der Luft. Um dem zu entkommen, fragt mich mein Gegenüber üblicherweise „Also… und, was machst du so?“ Diese Frage ist ein guter Gesprächsbeginn, aber sie kann auch beklemmend wirken. Denn die Frage suggeriert, dass wir immer etwas Produktives oder Sinnvolles tun müssen. Dabei gibt es auch Phasen, in denen wir dies aus den berechtigten Gründen eben nichts tun können oder wollen. Vielleicht haben wir unseren Job verloren, gerade unseren Abschluss gemacht oder uns bewusst dazu entschieden überhaupt nichts zu tun (z.B. Sabbatical oder Burn-out). Manche Menschen haben auch eine komplexere Antwort auf eine solche Frage als andere. In der Regel wird eine übermäßige Informationsflut zur Beantwortung der Frage jedoch auch nicht unbedingt begrüßt.

Mich erinnert die Frage an die verdutzten Gesichter, wenn ich den Menschen von meinem Studiengang erzähle. Genau gesagt erinnert sie mich daran, dass die meisten Menschen mein Studiengang nicht kennen. Und auch daran, dass ich nicht die Voraussetzungen erfülle, um in eine Kategorie auf der Grundlage meines Studienfachs eingeordnet zu werden. Als Liberal Arts Studentin haben mir alltägliche Fragen wie die oben genannte in der Vergangenheit viele Selbstzweifel bereitet. Wenn mich jemand fragt, was ich mache, und ich antworte, dass ich Liberal Arts studiere, wird mir meistens eine zweite Frage gestellt. Eine solche Frage ist höchstwahrscheinlich inzwischen auch schon in deinem Kopf aufgetaucht (schon in Ordnung, dafür liest du ja gerade diesen Artikel). Bestimmt lautet mindestens eine deiner Fragen wie folgt:

„Ah, du studierst Kunst?“

„Oh, interessant“ – in einem etwas verächtlichen Tonfall – „was bedeutet das also genau?“

„Uff, und was für einen Abschluss hast du damit dann?“

„Und… was willst du damit werden?“

Meine Antwort ist ungenügend. Denn es ist nicht ausreichend zu sagen: „Ich studiere Liberal Arts“. Entgegen vieler Studierender klassischer Studiengänge muss ich auch eine Antwort auf die darauffolgenden Fragen parat haben. Diese haben meist einen Unterton, der zeigt, dass mein Gegenüber mich wortwörtlich in Frage stellt. Deshalb habe ich manchmal darüber nachgedacht, bei dem, was ich studiere, zu lügen, nur um es bei einer Frage belassen zu können. Um das Schweigen gebrochen zu haben, ohne in die Tiefe zu gehen. Natürlich weiß ich, dass Fragen, die sich auf mein Studiengang beziehen, nicht mit einer negativen Intention, gestellt werden. Dennoch verunsichern sie, weil ich plötzlich das Gefühl vermittelt bekomme, dass ich mich rechtfertigen muss. Und das ich zeigen muss, dass das was ich tue, Sinn macht und „nichts Wertloses“ ist. Es reicht nicht aus, einfach nur zu sagen, was ich studiere. Ich muss erklären, was Liberal Arts ist, und Menschen davon überzeugen, dass es ein einzigartiges Programm ist, und dann zu erklären was mein größerer Lebensplan ist.

Ich verspreche aber hoch und heilig, dass ich genauso einen Plan habe, wie jede andere 24-Jährige: Das Einzige, was ich mit Sicherheit weiß, ist, dass ich nach dem Aufwachen jeden Morgen einen Kaffee trinken werde, mit ein bisschen Milch.

Abgesehen davon, was können wir schon wirklich wissen? Selbst wenn wir diesen einen perfekten Plan ausgearbeitet haben, kommt es eben auch nicht nur auf uns selbst an, ob wir ihn tatsächlich in die Tat umsetzen können. Denn täglich kann uns ein Schicksalsschlag treffen oder die Gesundheit uns an unsere Sterblichkeit erinnern.

Um aber nun deine Frage zu beantworten: Die Bildungstradition von Liberal Arts hat ihren Ursprung im Konzept der Artes Liberales. Das Konzept stammt aus der Antike, in der das Studium der septem artes liberales, also der sieben freien Wissenschaften, die wichtigste Voraussetzung für die Erziehung autonomer Individuen darstellte. Der Studiengang vermittelt heute das Ideal einer humanistischen Bildung. Studierende der Liberal Arts können ihr eigenes Studienprogramm entwerfen und müssen nicht einem vorgefertigten Standardprogramm folgen. Oftmals gibt es trotzdem einige Pflichtkurse, die das Ziel haben, Studierenden eine gewisse Allgemeinbildung zu vermitteln. Liberal Arts Programme sind im Bildungssystem der USA und der Niederlande populär. Im eher disziplinär ausgerichteten deutschen Hochschulsystem kennt man das Programm aber eher nicht.

Ein Schwerpunkt von Liberal-Arts-Programmen, bildet die persönliche Entwicklung. Die Studierenden werden in ganzheitlichem und interdisziplinärem Denken geschult und lernen anpassungsfähig zu sein. Es werden ebenfalls Fähigkeiten wie das analytische und reflektierte Denken und das Argumentieren trainiert. Liberal Arts hat auch zum Ziel die Freude am Lernen zu behalten, verantwortungsbewusstes Handeln und Entscheidungsfähigkeit zu trainieren.

Es gibt Generalisten und Spezialisten in der Welt. Liberal Arts Studierende können beides sein. Studierende können Liberal Arts entweder nutzen, um zu erforschen, wofür sie sich interessieren und dann ein Thema finden auf das sie sich spezialisieren wollen, oder sie können verschiedene Disziplinen zusammenbringen. Ich habe mich auf Nachhaltigkeitswissenschaften spezialisiert , aber immer noch viele andere Interessen wie Recht, Politik, Unternehmertum oder Kommunikation in meinem Studienplan verfolgt. Ich kenne einige aus meinem Studiengang, die sich bereits in ihrem Bachelor auf ein bestimmtes Thema konzentrieren konnten. Andere Studiengänge konnten oft nicht den Grad der Spezialisierung anbieten, die diese Personen gesucht haben. So konzentrierte sich eine Freundin von mir zum Beispiel auf das Thema der digitalen Menschenrechte.

Für alle diejenigen, die jetzt Liberal Arts studieren wollen, habe ich noch ein paar abschließende Bemerkungen. Trotz des gesellschaftlichen Drucks habe ich wirklich die Freiheit genossen, die mir als Liberal-Arts-Studentin zuteil wurde.

An der Leuphana Universität in Lüneburg, an der ich studiert habe, wird über Studierende der Liberal Arts oft behauptet, dass „sie immer diejenigen sind, die sich als Erstes melden“. und dass sie „immer die meisten Fragen stellen“. Denn Studierende von Liberal Arts besuchen ein Seminar, weil sie es wollen, nicht, weil sie es müssen.

Manchmal habe ich Kurse in Disziplinen belegt, für die ich nicht viel Vorwissen vorweisen konnte. Zum Beispiel habe ich im dritten Semester Umweltrecht belegt, ein Kurs des Studiengangs Rechtswissenschaften.  Der Kurs wurde für Studierende der Rechtswissenschaften im sechsten Semester angeboten. Innerhalb weniger Wochen musste ich mich also an eine neue Disziplin gewöhnen und eine neue Methodik erlernen.

Dennoch gibt es Schwächen, auch bei Liberal Arts. Zum Beispiel kann es schwieriger sein, an der Universität Freundschaften zu knüpfen. Ich belegte nur ein Seminar pro Semester mit Studierenden meines Studiengangs. Normalerweise kam ich mir immer zu Beginn jedes Semesters in allen Kursen wie „die Neue“ vor. Oft kannten sich auch nicht alle anderen Leute in meinen Seminaren untereinander, aber einige von ihnen. Sie hatten einen größeren Gemeinschaftssinn, weil sie wussten, dass sie alle z.B. BWL-Studierende sind. Ich weiß, dass das bei anderen Studiengängen der Liberal Arts anders ist, aber im Studium Individuale der Leuphana- Universität fehlte es mir persönlich an gemeinschaftsbildenden Aktivitäten. Manchmal wurden zwar einige angeboten, aber sie waren nie obligatorisch. Das Fehlen einer solchen Gemeinschaft hat es mir jedoch ermöglicht, für Menschen offen zu sein. Heute blicke ich auf eine sehr inspirierende Zeit an der Universität zurück, denn ich habe viele unterschiedliche Menschen kennengelernt. Ein weiterer Kritikpunkt ist, dass es an einem umfassenderem Beratungsprogramm fehlt. Ein solches hätte vielen Studierenden dabei helfen können, sich in dem komplexen Studiengang Liberal Arts besser zurechtzufinden.

Ein Liberal-Arts-Bachelor-Studiengang eignet sich also für all jene, für die eine Fachdisziplin nicht ausreicht, die viele verschiedene Interessen haben und diese frei kombinieren wollen. Liberal Arts ist perfekt für Menschen, die neugierig sind. Ich würde sogar argumentieren, dass die meisten Liberal-Arts-Studierenden sogenannte Multipotentialites sind. Dieser Begriff wurde von Emilie Wapnick geprägt. Multipotentialites sind Menschen, die viele Interessen und Talente haben. Sie interessieren sich in der Regel nicht nur für ein Fachgebiet, wirken auf andere unkonzentriert und probieren oft mehrere Berufe aus, oder kombinieren diese.

Einen breiteren Fokus oder keinen spezifischen Studiengang zu studieren, wie es bei Liberal Arts der Fall ist, wird oft als etwas angesehen, das eingegrenzt werden muss. Viele Male bin ich von Recruitern gefragt worden: „Was ist denn Ihr Schwerpunkt?“ Es passt noch nicht in die Köpfe der Menschen, dass wir mehr als einen Fokus haben können. Studierende der Liberal Arts sollten nicht vergessen, dass Anpassungsfähigkeit ihre besondere Fähigkeit ist, damit sind sie vielseitig einsetzbar. Das mag eine gute Antwort auf eine solche Frage bei einem Vorstellungsgespräch sein.

Vielleicht ist es an der Zeit, dass wir das Chaos des Lebens akzeptieren und Raum für Authentizität und Individualität lassen. Wapnick, die immer das Gefühl hatte, zu viele Interessen zu haben, dachte oft über eine berufliche Veränderung nach, hatte aber das Gefühl, dass etwas mit ihr nicht stimmte. Infolgedessen fühlte sie sich in dem Karriereweg, den sie gewählt hatte, festgefahren. Sie befürchtete, dass sie einfach Angst vor Verpflichtung hatte. Dann erkannte sie aber, dass die Erwartung, eine bestimmte Karriere zu machen, ein „kulturelles Konzept“ ist, das „uns einschränkt, eine Sache zu sein, anstatt von allem zu träumen, was man sein kann“. Stattdessen sollen wir „ein hochkonzentriertes Leben führen“. Mehrere Karrieren zu haben oder für mehrere Karrieren zu planen, trotz der Projektionen, dass wir uns dafür in Zukunft rüsten müssen, ist immer noch nicht unsere derzeitige Definition von Erfolg. Wir stecken in der Vorstellung fest, dass die Menschen einen perfekten Lebenslauf haben müssen, in dem das eine zum anderen führt, geradlinig. Das Leben ist kein klarer Weg. Das Leben ist chaotisch und das Gegenteil eines linearen Weges und das darf sich auch im Lebenslauf widerspiegeln.

Mit diesem Artikel möchte ich alle, die etwas Einzigartiges studieren, dazu ermutigen, genauso zu bleiben, wie sie sind. Wir brauchen mehr Leute, die sich trauen, Fächer zu studieren, die sich nicht leicht erklären lassen oder einzigartig sind, aber dennoch Sinn machen – für sie.

P.S.: Bei den Recherchen für diesen Artikel bin ich auf Puttylike gestoßen, ein Blog und eine Community, die Emilie Wapnick aufgebaut hat. Auf dem Blog fand ich weitere interessante Ressourcen zum Thema Multipotentialites; falls es dich interessiert (https://puttylike.com/start-here/). Sie macht drei Punkte dazu, was Multipotentialites brauchen und bearbeiten sollten, die du hier im Detail nachlesen kannst: https://puttylike.com/3-things-i-didnt-have-time-to-say-in-my-ted-talk/

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