Beauvoir wird Beauvoir

von Leonie Theiding von Treffpunkt Europa| Illustrationen: © Anne Meerpohl

Szenen einer jungen Simone und ihrer „Gefährtin“

„Memoiren einer Tochter aus gutem Hause“ ist der erste Band von Simone de Beauvoirs Autobiographie. Darin analysiert sie ihr junges Ich, sowie ihre Familie und Freunde – alles zu einer Zeit, in der Simone-Lucie-Ernestine-Marie Bertrand de Beauvoir (1908–1986) noch keine berühmte feministische Philosophin und Schriftstellerin war. Im Kontrast zu den Prinzipien ihres erwachsenen Ichs wächst Simone de Beauvoir in einem Elternhaus auf, das sich als fromm, traditionell und angepasst an das bürgerliche Leben beschreiben ließe. Außerdem besuchte sie eine katholische Mädchenschule, das Cours Désir in Paris.

Mich interessiert immer, wo Menschen herkommen, was ihre Erlebnisse in jungen Jahren waren, was sie eventuell zu den Persönlichkeiten gemacht haben könnte, die sie sind. Deswegen skizziere ich hier schriftlich und anhand des eben genannten Buches das Leben der jungen de Beauvoir. Einige Details und Beispiele werden eher fiktiv beschrieben. Die Farbe der Kleider beispielsweise, die kann ich natürlich nicht mehr erfragen und stelle sie mir lediglich vor. 

„Solange ich mich zurückerinnern kann, war ich stolz darauf, die Ältere und damit die Erste zu sein.“ (S. 7)

Das Elternhaus der jungen de Beauvoir befindet sich am großbürgerlichen Boulevard Raspail. Ein roter Moquette Teppich schmückt den Boden und antike hölzerne Möbel zieren den Raum:

Zwei Mädchen, die eine kleiner, zierlicher und mit blonden Haaren, die andere mit schnellerem Schritt und schwarzhaarig, wurden von ihrem Kindermädchen Louise in fast identische rote Kleider gesteckt. Sie laufen schreiend den Flur der großräumigen Wohnung entlang. Die Zierliche versucht ihrer älteren Schwester zu entkommen. Im Treppenhaus angelangt ruft sie: „Lass uns etwas Anderes spielen.“ Simone überlegt kurz: „Hier! Nimm Mutters neuen Hut, sei die Verkäuferin, wie als wir vorhin im Laden waren, ich bin eine reiche Madame und kaufe bei dir ein!“. Die kleine Hélène, die auf Grund ihrer bleichen, zarten Haut und der wasserblauen Augen auch Poupette genannt wird, nickt erfreut. Sie macht gerne, was ihre Schwester sagt.

© Anne Meerpohl

„Um die Geschichten, die ich erfand, lebendig werden zu lassen, brauchte ich eine Gefährtin.“ (S. 58)

Die sechsjährige Simone diskutierte, ganz im Wahn ihrer Rolle als reiche Madame, mit ihrer zweieinhalb Jahre jüngeren Schwester. Hélène, die Hutverkäuferin, hört dabei nickend zu: „Ja, der Hut ist eindeutig etwas zerfranst an den Seiten. Ja, natürlich, Sie dürfen sich einen anderen Hut aussuchen.“ Simone antwortet gekünstelt nasal und mit hochgehaltener Nase, ganz so wie sie das zuvor bei der hutkaufenden Madame beobachtet hat: „Ich möchte aber diesen Hut kaufen, jedoch bezahle ich diesen Preis nicht für einen zerfransten Hut. Einen Rabatt bitte!“

Am nächsten Morgen toben die Schwestern erneut im Flur herum: Simone entscheidet, dass sie wieder „Das“ spielen würden, was so viel heißt wie: Wir machen da weiter, wo wir das letzte Mal aufgehört haben.

Man hatte mich dazu erzogen, das, was sein soll, mit dem zu verwechseln, was ist; daraufhin prüfte ich nicht, was sich hinter den Konventionen der Worte verbarg.“ (S. 124)

Die junge Simone sitzt inmitten schick gekleideter Menschen und versucht genauso aufrecht und fehlerfrei zu sitzen wie ihre Mutter. Sie beobachtet, wie ihre hochgeschätzte beste Freundin Zaza auf die Bühne tritt – ihr blau schimmerndes Taft Kleid schwingt im Rhythmus von Zazas Leichtigkeit hin und her. Simone bewundert das Selbstbewusstsein ihrer besten Freundin, als diese sich vor all diesen für Simone wichtig scheinenden Menschen verbeugt, und in die Menge lächelt, bevor sie dann zum Hocker vor dem schwarzen Flügel geht. Das Mädchen beginnt ihre Finger über die Tasten des Flügels schweben zu lassen und tatsächlich spielt sie dieses Lied heute zum ersten Mal fehlerfrei. Zazas Mutter, die neben der Mutter Simones sitzt, schaut begeistert. Obwohl sie noch vor wenigen Minuten versucht hat, Zaza zu überzeugen ein anderes, leichteres Lied aufzuführen, wippt ihr Fuß nun behutsam im Takte der Melodie und ihre Mundwinkel sind weit hochgezogen. Zaza beendet ihr Spiel, lächelt schelmisch in Richtung ihrer Mutter, streckt die Zunge raus – Simone wusste, dass Zaza genau das wollte, ihrer Mutter beweisen, dass sie dieses Lied spielen konnte – doch durch den Saal huscht ein entsetztes Lufteinziehen, dann Stille. Simone jedoch ist entzückt von ihrer besten Freundin. Zaza läuft hopsend auf ihre Mutter zu, gibt ihr einen Kuss auf die Wange – das Rauschen im Saal wird langsam leiser. Simones Mutter schüttelt den Kopf hin und her: „Ungezogen“, murmelt sie dabei. Die junge Beauvoir jedoch wäre gerne so ungezwungen wie ihre beste Freundin, sie ist stolz darauf, dass sie Zaza, die sich inzwischen kichernd neben ihre Mutter gesetzt hat, ihre beste Freundin nennen darf.

© Anne Meerpohl

„[Poupette] begann sich gegen ihre Situation als Jüngere aufzulehnen, und da ich sie im Stich ließ, bezog sie mich in ihre Revolte mit ein.“ (S. 133)

Die de Beauvoirs ziehen gezwungener Maßen in eine kleinere Wohnung: Die Geschäfte des Vaters laufen nicht gut. Die neue Wohnung ist ähnlich aufgebaut wie die alte, jedoch ist alles kleiner, weniger gemütlich und kalt. Poupette sitzt auf dem Boden des Arbeitszimmers, Simone, die mittlerweile 11 Jahre alt ist, auf dem Sessel ihres Vaters. „Nun, du musst eben einsehen, dass Zaza und ich älter und belesener sind. Da kann ich dir auch nicht helfen, du musst eben auch mehr lesen und Übungen machen. Ich versuch dir ja schon zu helfen.“ Tränen laufen über die rotglühenden Wangen der kleinen Poupette, die mittlerweile 9 Jahren alt ist: „Weißt du. Ich habe es satt. Seit du so gut mit Zaza befreundet bist, behandelst du mich immer wie… wie jemand, der dumm und jung ist. Dabei dachte ich, dass wir beide Schwestern sind, die sich lieben und alles. Aber nun Folgendes: Ich glaube, ich liebe dich nicht mehr ganz so wie vorher, es ist einfach so passiert.“ Während Poupette sich mit starker Stimme erklärt, werden Simones Augen groß und rund, Tränen laufen nun auch ihr – stark, und dickflüssig – über die Wangen. Sie liebt ihre Schwester immer noch sehr, aber sie vergöttert eben Zazas selbstbestimmte, lustige Art. Zaza macht sich über alles und jeden lustig, was Simone toll findet, nur verschont sie die kleine Poupette natürlich nicht. „Ach, es war ein Scherz. Ein Scherz!“, entgegnet Poupette, die mittlerweile wunderschöne lange und blonde Haare hat. Sie kann ihre große Schwester nicht weinen sehen. Die Beiden umarmen und küssen sich gegenseitig auf ihre Wangen. „Wusst’ ich natürlich“, gab Simone wieder, während sie sich umdrehte und mit dem Ärmel ihres Kleides die Tränen unter ihren Augen trocknet.

„Nein, sagte ich mir, während ich einen Tellerstapel in den Wandschrank schob; mein eigenes Leben wird zu etwas führen.“ (S. 140)

Ein Nachmittag im Herbst – die Mutter der mittlerweile pubertierenden Simone bittet ihre Tochter beim Geschirrspülen zu helfen. Simone trocknet alles ab, was die Mutter wäscht und schaut mit großen Augen aus dem Küchenfenster in eine Feuerwehrkaserne und viele andere Küchen, in denen andere Frauen andere Kochtöpfe putzen. Die junge Simone ist ganz in ihre Gedanken versunken, triste Gedanken, verstörend wie sie findet: „Wenn das meine Zukunft wäre…? Teller trocknen? Wo ist denn da der Sinn? Die Mama und ihre Freundinnen sehe ich nur sehr selten lachen, nie spielen sie mit uns, nie haben sie Spaß bei irgendwas, meckern immer zu. Tee trinken und klatschen – über alles und jeden, aber nichts Wichtiges ist dabei. Jetzt gerade ist es so wunderbar – ich lerne jeden Tag etwas dazu, und schlafe immer schlauer ein, als ich am Morgen war.“ Vor ihren Augen entsteht ein Bild von einer nicht endenden Öde, die kein Ziel versprach, Teller um Teller stapeln sich vor ihren Augen. Jedoch weiß die junge Simone genau, dass ihr kein solches Leben bevorstand. Ihr Vater hatte ihr schon des Öfteren prophezeit, dass er ihnen keine Mitgift bescheren konnte – ihre finanzielle Situation erlaubte dies schlichtweg nicht mehr – und daher würden sie arbeiten müssen. Doch das stimmte die junge de Beauvoir eher glücklich, als – wie die Eltern – verdrießlich:

„Ich zog bei weitem die Aussicht auf einen Beruf der Verheiratung vor; das berechtigt doch noch zu Hoffnung. Viele Leute hatten große Dinge vollbracht, ich würde eben das Gleiche tun.“ (S. 141)

Alle Zitate aus: 
de Beauvoir, Simone; 1958: Memoiren einer Tochter aus gutem Hause. Rowohlt Taschenbuch; Auflage: 47. (1. Februar 1975)


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