‚Moria‘ ist in den letzten Jahren zu einem Buzzword geworden. Das Camp auf der Insel Lesvos wurde in den letzten Jahren zum Bildnis katastrophaler Bedingungen für die Flucht in die EU. Es steht für eine schlechte Versorgungslage in Camps an den EU-Außengrenzen und für eine europäische Asylpolitik, die Menschen isoliert, in Kategorien einsortiert und ihnen die Würde nimmt. ‚Moria‘ steht aber auch für Widerstand und Selbstorganisation. Es steht für Menschen, die versuchen die Menschenrechtsverletzungen sichtbar zu machen und gemeinsam laut zu werden. Der türkisch-griechische Grenzraum, insbesondere der Moria-Komplex, der Moria/Moria2.0 sowie Kara Tepe/Tepe2.0 miteinschließt, wurde somit zu einem Raum, in dem (Un-)Sichtbarkeiten und ‚(Un)hörbarkeiten‘ verhandelt werden. Dieser Raum ist wie ein Netz, in das Geflüchteten, NGOs, Regierungen und privaten Firmen eingebunden sind. Alle Knotenpunkte spinnen sich ihre eigenen Fäden durch das Netz und versuchen darin ihre eigenen Interessen durchzusetzen: Alle wollen sprechen, alle wollen sichtbar werden und ihre eigene Agenda setzen. Doch, wer hat wann und wie die Möglichkeit sich oder andere abzubilden? Wer hat die Möglichkeit Bedürfnisse auszudrücken, zu formulieren und darzustellen? Wer spricht wann für wen? Wer wird ernst genommen? Und wer nicht? Und warum?
© Sena Karadeniz
‚Wir‘ und ‚die Anderen‘
Wenn in den letzten Jahren über Moria geschrieben wurde, klang das meistens so: „Babys in griechischem Flüchtlingslager von Ratten gebissen“ (t-online, 19.2.2020). Oder so: „Schreckensberichte über das Flüchtlingscamp Moria“ (Cicero, 23.12.2020). In der Anthropologie wird diese Art, andere Menschen zu betrachten, der „pornographische Blick“ genannt: Der Blick, der auf das Leid der ‚Anderen‘ schaut. Das entscheidende dabei ist, dass ‚der*die Andere‘ dabei erst zum ‚Anderen‘ gemacht wird. Das heißt, dass mit dem Ziel, sich zu solidarisieren, ein ‚Wir‘ und ‚die Anderen‘ geschaffen wird. Ein Bild europäischer Menschen, die helfen und Geflüchtete, die als Opfer verstanden werden. So führt vermeintliche Solidarisierung zu einem punktuellen Aufschrei, der aber nicht wirklich etwas verändert.
Dies wurde besonders anhand der Medienrepräsentation um Aylan Kurdi deutlich. Fast täglich werden Verstorbene aus dem Mittelmeer geborgen. Täglich versuchen Stimmen das laut und deutlich kundzutun und so auf die Agenda der EU-Regierung, der nationalen und lokalen Regierungen und der Zivilgesellschaft zu bringen. Und dann sind plötzlich alle ‚überrascht‘ und ‚geschockt‘, wenn sie das Bild des verstorbenen Jungen sehen. Ohne Frage, sein Tod muss betrauert werden und bedarf somit auch der Aufmerksamkeit. Doch nicht nur für ihn. Und nicht nur Trauer und Beileid. Wir haben es nicht mit einer humanitären Katastrophe, sondern mit einem strukturellen, politisch beabsichtigten Leid zu tun.
Somit kann Journalistin Franziska Grillmeier es nicht mehr hören, wenn Berichte über Camps wie Moria 2.0 immer nur von Ratten oder Schlamm handeln (im Gespräch mit F.J., 10.01.2021). Es sei natürlich wichtig, von Leid und Menschenrechtsverletzungen zu berichten. Dabei müssten Medienschaffende jedoch vor allem die „stillen Momente“, die in den Lagern täglich passieren, hörbar machen. Nur so können zusammenhanglose ‚Schnappschüsse‘ einer Situation zu komplexen Bildern werden. Nur so werden kurze, dramatische Berichte zu vielschichtigen Artikeln, die viele Perspektiven abbilden können, die den politischen Kontext sichtbar machen und Menschen mit Stimmen hörbar machen. Die „stillen Momente“ können das komplizierte Netz von Beteiligten verständlicher machen und so auch die strukturelle Dimension des Leids beleuchten.
Eigene Worte
In den letzten Jahren wurden in Moria und Kara Tepe die Einschränkungen für Journalist*innen zunehmend verschärft. Der Zutritt zu Kara Tepe ist beispielsweise nur mit Sondergenehmigung gestattet, wie Franziska Grillmeier berichtete. Zudem wurden in der aufgeheizten Lage im März 2020, nachdem die Türkei die Grenzen für Geflüchtete geöffnet hatte, Journalist*innen von rechten Mobs angegriffen und in ihrer freien Berichterstattung gehindert. Die selbstorganisierte Initiative Moria Corona Awareness Team (MCAT) und andere selbstorganisierte Gruppen und einzelne Bewohnende aus dem Camp füllten das Vakuum der Berichterstattung, das durch die Covid-19-Pandemie noch verschärft wurde. Sie begannen selbst damit, in ihren eigenen Worten zu berichten, wie sie die aktuelle Situation erleben und was sich ändern muss.
„We have to report“, berichtet Alphonse in unserem Gespräch. Er leitet die Instagram-Seite „The_humans_of_Moria“. Und er ist nicht der Einzige. Viele Geflüchtete posten über Instagram Fotos, um selbst zu berichten (z.B. „Now_you_see_me_Moria“). Zudem hat das Moria Corona Awareness Team gemeinsam mit „Moria White Helmets“ im letzten Jahr drei offene Briefe veröffentlicht, in denen sie berichten und klare Forderungen stellen.
© Moria Corona Awareness Team, 2. Offener Brief aus dem Camp, Facebook, 13.05.2020
Sichtbar ohne Stimme
Wenn die dominante Berichterstattung über Menschen auf der Flucht diese als passive Opfer darstellt, zeigt das, dass es nicht nur darum geht, sichtbar zu werden. Sichtbar ohne Stimme. Menschen müssen auch gehört und ernst genommen werden. Wenn die Stimmen der Betroffenen konsequent ignoriert werden und MCAT in ihrem Brief an Weihnachten schreiben (müssen): „Aren’t we human?“ weist dies erneut auf die strukturelle Dimension des Leids hin. Dass Stimmen der Bewohner*innen der Camps ausgegrenzt werden, ist Teil einer geplanten Abschottungspolitik der EU, die auf Rassismus beruht. Sie beruht auf der rassistischen Idee, manchen Menschen weniger Wert als anderen zuzuschreiben. Und sie beruht auf einer Klassifizierung von ‚good‘ und ‚bad migrants‘, durch die manche Menschen ins europäische System integriert werden und andere vor den Toren der Festung stehen gelassen oder mit Gewalt abgewiesen werden.
Stimmen laut machen
© Amanollah Husseini
Es reicht also nicht nur über (Un)sichtbarkeiten zu sprechen. Die Rassismen der aktuellen Flüchtlingspolitik machen es unmöglich gehört zu werden, wenn wir uns nicht aktiv für Veränderung einsetzen. Es gibt bereits unzählige Menschen, die aktiv sind. Auf Lesvos, auf dem griechischen Festland und in der EU. Unterstützt sie in ihrem Tun. Multipliziert ihre Stimmen! Setzt eure lokalen Politiker*innen unter Druck! Act now!
Zuhören und aktiv werden:
Instagramkanäle: Moria Corona Awareness Team, Latitude Adjustment Podcast Academy, The_Humans_of_Moria, Now_you_see_me_Moria, Try_4_Tomorrow
Netzwerke und Channels: Telegram Channel @Erik Marquardt, netzwerk medien.vielfalt!
NGOs und lokale Gruppen: Seebrücke, See Eye, Sea Watch, medico international (Partner von MCAT), Stand by me Lesvos (vor Ort)
Zu mir: Ich habe selbst keine Fluchterfahrung, bin weiss und habe gewisse Diskriminierungserfahrungen meiner Forschungspartner*innen deshalb nicht selbst erlebt. Meine Worte sollen demnach nicht für sie sprechen, sondern versuchen einen Rahmen für ein Mosaik verschiedener Stimmen zu geben: Ein Mosaik unterschiedlicher Erfahrungen, Erzählungen und Forderungen.
Meine Forschung habe ich von Januar bis März 2021 durchgeführt im Rahmen eines Seminars durchgeführt. In meinem Artikel habe ich außerdem versucht, komplizierte Begriffe zu vermeiden und unvermeidbare Fachwörter zu erklären. Denn auch darin liegt die Macht des Sprechens: Sprache kann ein- oder ausschließen, je nach dem, welche Worte wir verwenden.
Profile der Interviewpartner*innen:
Franziska Grillmeier
Franziska Grillmeier ist freie Journalistin, die seit 2018 auf Lesvos lebt. Sie hat internationale Entwicklung und Konfliktstudien in Wien und London studiert. Sie arbeitet zu den Themen Flucht, Migration und Verfolgung weltweit, unter anderem zu den Camps Moria/2.0 auf Lesvos. Sie schreibt unter anderem für die ZEIT, die taz, The Guardian und ist aktiv auf Instagram und Twitter. Ich habe Franziska über Instagram kontaktiert, worauf wir Sprachmemos ausgetauscht haben und im Januar 2021 ein Telefoninterview durchgeführt haben.
Amanollah Husseini
Aman war der Photograph der selbstorganisierten Gruppe „Moria Corona Awareness Team“. Er ist Anfang 2019 mit seiner Familie auf Lesvos aus Afghanistan angekommen. Er hat im Camp fotografiert und die Fotos an die MCAT WhatsApp-Gruppe gesendet, woraus die Partner*innen von Stand by me Lesvos (lokale NGO) Fotos ausgewählt und sie gepostet haben. Die Subtexte stammen meist ebenso von ihm. Ich habe ihn über einen tag der Instagramseite gefunden und ihm geschrieben. Infolgedessen haben wir über von Januar bis Februar 2021 über Chatten auf WhatsApp ein Langzeitinterview durchgeführt. Aman hat während des letzten Jahres einen positiven Bescheid erhalten und lebt jetzt in einer Unterkunft in Düren.
Alphonse Ndayisaba
Alpha ist Oktober 2019 aus Burundi über die Türkei nach Lesvos gekommen. Er hat auf der Flucht begonnen, remote Internationale Entwicklung auf Coursera zu studieren. Auf Lesvos war er außerdem in der Medien-Schule der lokalen NGO Refocus. Er ist der Gründer der Instagram-Seite “The Humans_of_Moria“. Während meiner Instagram-Recherche habe ich die Seite angeschrieben, die von vier weiteren Bewohner*innen aus Lesvos geführt wird. Infolgedessen haben Alpha und ich im Zeitraum von Januar bis Februar 2021 ein Langzeitinterview über WhatsApp geführt. Aus dem Kontakt ist zudem ein Speech mit Diskussion bei der Mahnwache Bamberg (08.03.2021) zum Thema Selbstrepräsentation und Selbstorganisation Geflüchteter aus Lesvos entstanden. Aktuell planen wir gemeinsam die auch im Interview aufgeworfene Idee eines Podcastprojekts im Frühjahr 2022 durchzuführen. Alpha hat im März 2021 seinen positive Bescheid und im September einen Praktikumsplatz bei der deutschen Organisation „Migration miteinander“ erhalten. Seit Januar ist er in Wien in und hat dort begonnen, Sozial -und Kulturanthropologie zu studieren.
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