Wir sind die Spielverderber*innen

von Friederike Teller | Beitragsbild: ©Julie Matthées

Lieber Mensch,

ich habe genug davon, den Endzügen des Kapitalismus zuzusehen, vielleicht geht es dir ja ähnlich. Es schmerzt, die Vielfalt an Leben und Lebensrealitäten beim Sterben zu begleiten. Kennst du dieses Bewusstsein, auf der Gewinnerseite der Erde geboren zu sein, welches sich nicht so leicht abschütteln lässt? Denn die Ausbeutungsstrukturen sind tief in unseren T-Shirts verwoben. Vielleicht kennst du ja auch diese grauen Tage, an denen sich diese Verantwortung so schwer anfühlt wie Blei. Zu wissen, dass man nicht einmal den eigenen Reisepass der unbegrenzten Möglichkeiten verdient hat, verdirbt jede Illusion von Freiheit. Selbst die Euphorie für Europa schmeckt inzwischen fad. 

Wir, das sind die Spielverderber*innen. Unser Ungerechtigkeitsbewusstsein macht es leider unmöglich, einfach nur jung, wild und frei zu sein. Selbst den Kaugummi trotzig auf die Straße zu spucken, fühlt sich falsch an, er braucht mehr als 5 Jahre, um dort zu verrotten. Was bleibt, sind komplizierte Diskurse über die hegemonialen Verflechtungen postkolonialer, kapitalistischer Weltsysteme. Wie verführerisch das schon klingt. Dabei vergeht jede Leidenschaft für ein Streitgespräch bei Rotwein (selten vegan und viel zu teuer) und Kerzenschein (Feinstaub). Aber wir müssen immer wieder damit anfangen, weil wir leben wollen. 

Wir haben die emotionalen, ökologischen und materiellen Kriege der Vergangenheit satt. Wir wollen uns einfach mal zuhören und respektieren – so als Menschen. Dies zwingt uns leider, unheimlich wachsam zu sein. Es sind nicht die Erwartungen unserer Eltern, an denen wir kaputt gehen, sondern unsere eigenen. Diese Konsequenz und jener Anspruch verleihen unseren Protesten Nachdruck. Sie bringen viele dazu, freitags seit fast einem Jahr zu demonstrieren. Dazu, Plastik zu fasten, Avocados zu meiden, Straßen zu blockieren und uns ständig selbst zu hinterfragen. Kritiker*innen ermutigt dieses individuelle Engagement aber, unsere konstruktiven Forderungen auf Persönlichkeiten zu reduzieren, auf individuelle Makel und Gesichter zu fokussieren, damit das große Ganze nicht so erschreckend relevant wird. 

©Friederike Teller

Wir dachten, wir hätten uns die stärksten Verbündeten seit der Aufklärung gesucht. Doch wir unterschätzten die egoistische Habgier der historischen Eliten: Sie leugnen die Wissenschaft. Diese Gleichgültigkeit gegenüber Fakten langweilt uns. Denn wir stehen hier nicht als Individuen, sondern für uns Menschen. Wir wiederholen, wir kämpfen für unser Überleben. Der Kapitalismus stattdessen vollführt seinen Taschenspielertrick: Der*die Einzelne muss sein*ihr Handeln ändern. Nur damit er*sie dann in der Überforderung der Möglichkeiten vergisst, dass es das System ist, dass ihn*sie in die Scheinheiligkeit der Alternativen entführt hat. Niemand lacht, Humor lenkt uns nicht ab: Wir brauchen ein anderes System. 

Natürlich gibt es dieses vollkommene, gerechte und nachhaltige System noch nicht. Wir glauben nicht an magische Formeln. Aber wir haben zusammen aus den Notwendigkeiten Forderungen formuliert, Prozessvorschläge aufgemalt und sind sogar dabei, einen Klimaplan von unten zu schreiben. Was vielen Angst macht, ist, dass es dann schnell konkret wird. Kritker*innen schreiben lieber weiter über unsere Kindheit und Kleidung. Politiker*innen danken dem demografischen Wandel und verstecken sich hinter einem Wahlalter ab 18.

Natürlich ist dieses ‚uns‘ hier rein fiktiv. Es gibt nicht die eine Stimme, mit der unsere Generation spricht. Es geht hier nicht um Geburtsjahre oder wessen Stimme im Mikrofon hallt. Es geht um dich und mich. Denn da auf den Straßen, Parkhausdächern und hinter den imaginären Barrikaden der sozialen Medien, da sind wir viele. Es ist nicht das Alter, das uns dabei verbindet, es ist die Notwendigkeit jetzt zu handeln, deshalb diskutieren wir auf Festivalwiesen. Darum teilen wir Essen und Kleidung und unsere Instagram-Stories. Wir schauen uns Reportagen über Krisen und Lösungsvorschläge fast so gerne an wie Netflix-Serien. Lasst euch nicht täuschen: Dass wir nach der Erkenntnis der Klimakrise nicht zerstört am Boden liegen und weinen, sondern gemeinsam tanzen, heißt nicht, dass wir es nicht ernst meinen. Im Gegenteil, wir lernen gerade aus dieser absurden Gleichzeitigkeit von Untergang und Lebensfreude, neue Gemeinschaften zu formen.  Wir sind die Veränderung. Wir stellen die Systemfrage, jetzt und immer wieder. 

Auch wenn die Entscheidungsträger*innen sich aus Verlustängsten die Ohren zu halten –  ja weißer alter Mann, wir meinen dich – kann uns das nicht aufhalten. Wir haben längst angefangen, selbst Antworten zu formulieren und sie zu leben, auch, weil wir es eben müssen.

Mit ehrlichen Grüßen,

eine Stimme dieser alterslosen Generation

  1. Das ist ein richtig guter Artikel, er spricht mir aus dem Herzen!

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