Was ist eigentlich das syrische Virus?

von Mohamad Naanaa | Bilder: © Nora Boiko

Als das Covid-19-Virus ausbrach, fragte ich mich mit großer Angst, was passieren wird, wenn es mein Heimatland Syrien erreicht. Obwohl bis heute nur 58 Fälle in Syrien bestätigt wurden, ist das Land nicht in der Lage, einer solchen Pandemie verantwortungsbewusst und medizinisch zu begegnen. Wie geht es dem Patienten Syrien und meinen Freund*innen in Aleppo?

Insbesondere das Assad- Regime ist unfähig auf die Pandemie zu reagieren, da es sich nicht um seine Bevölkerung kümmert und dessen einzige Sorge darin besteht, seine eigene Macht aufrechtzuerhalten. Nicht zu vergessen, dass Syrien seit neun Jahren unter einem schweren Krieg leidet, der zwangsläufig zu einer erheblichen Schwäche des Gesundheitssektors geführt hat.

Am 10.  März, bevor ein Fall einer an Corona erkrankten Person bestätigt wurde, zeigte sich der syrische Gesundheitsminister in einem offiziellen Interview auf dem syrischen Haupt-Nachrichtensender. Er wurde gefragt, wie der syrische Staat reagieren wird, sobald das Virus Syrien erreiche. „Gott sei Dank!“, antwortete Nizar Jazghi , „Die syrisch-arabische Armee hat viele Viren auf dem syrischen Boden beseitigt, und wir haben noch keine Infektion mit diesem Corona-Virus!“

Mit den Viren meinte der Gesundheitsminister die Syrer*innen, die das Assad-Regime nicht unterstützen. Diejenigen die der Syrischen Armee in die Hände fallen, werden „beseitigt“, also gefoltert und ermordet. Die Aussage des Gesundheitsministers verdeutlicht das Verständnis der Regierung gegenüber Andersdenkenden und mit welchen Mitteln gegen sie vorgegangen wird.

Die Zahlen sagen nicht immer die Wahrheit!

Am 22. März wurde die erste COVID-19-Infektion in Syrien bestätigt. 146 weitere folgten, wovon sich bis zu dem heutigen Tag – dem 29.05 – 62 Menschen erholt haben, und sechs gestorben sind. Im Vergleich zu Deutschland gibt es also sehr viel weniger Fälle. Hierzulande wurden bisher 186,516 Fälle bestätigt, wovon sich 170,134 erholt haben und 8,831 gestorben sind. Aber mit Blick auf die wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Situationen in den Ländern stellt man fest, dass das Virus für Syrien eine weitere Katastrophe darstellt! Die Leute in Syrien sind noch nicht vom Krieg erholt und müssen jetzt auch noch gegen Corona kämpfen.

Seit 6 Wochen ist die Ausgangsperre in Syrien in Kraft, die täglich von 18.00 bis 06.00 Uhr, am Freitag und Samstag sogar von 12 Uhr bis zum nächsten Tag andauert. Diese Sperre kann zwar dabei helfen, die Ausbreitung des Virus zu begrenzen, hat jedoch auch gefährliche Nebenwirkungen. Seit der Einführung der Ausgangssperre ist der Preis für Lebensmittel dramatisch gestiegen und Menschenansammlungen können in den Schlangen vor den Supermärkten nicht vermieden werden. Außerdem sind individuelle Existenzen bedroht, weil sie aufgrund der strengen Freiheitseinschränkungen nicht mehr arbeiten dürfen. Auch Menschen in Deutschland sehen ihre berufliche Existenz in Gefahr, anders als hier können sich die Syrer*innen allerdings nicht auf ein Regime verlassen, das die von der allgemeinen Ausgangssperre Betroffenen entschädiget.

Tod durch Corona oder Hunger

Einer dieser Menschen ist Tariq*: Er ist 27 Jahre alt, verheiratet und hat eine Tochter. Vor der Krise arbeitete er in einem Friseursalon. Die meisten Kunden von ihm sind seine Freunde und Verwandten, seit der Ausgangssperre ist der Salon allerdings geschlossen und Tariq* wurde entlassen. Da er wie Millionen andere Syrer*innen nicht auf staatliche Entschädigungen warten kann, ist Tariq gezwungen, auf andere Weise zu arbeiten. Zum Glück kann er einige seiner Kund*innen zu Hause besuchen, um dort das Geld zu verdienen, mit dem er die Grundbedürfnisse seiner Familie sichern kann. Warum Tariq das Risiko eingeht, sich mit dem Virus zu infizieren, indem er noch viele Menschen kontaktiere? „Wenn ich nicht an dem Corona-Virus sterbe, werde ich ohne meine Arbeit an Hunger sterben“. 

Tariq* ist nur ein Fall von vielen Betroffenen der Anti-Corona-Maßnahmen in Syrien. Weil die Angestellten keine formelle Entschädigung erhalten, hat die Regierung mittlerweile genehmigt, unter Auflagen wieder zu arbeiten. Seit dieser neuen Regelung darf Tariq* mal einen, mal zwei Tage in der Woche arbeiten. Diejenigen, die gegen die Ausgangssperre oder das Arbeitsverbot verstoßen, werden hart bestraft und teilweise mehrere Tage im Gefängnis festgehalten.

Auch die Studierenden in Syrien sind sehr betroffen von der Corona Krise. Lara* studiert Architektur an der Aleppo Universität und auch sie hat ihren Job verloren und auf staatliche Hilfe braucht sie gar nicht erst zu warten. „Wenn die Corona-Krise vorbei ist, werde ich vermutlich mein Studium pausieren müssen, damit ich mich durch einen Vollzeit-Job finanziell absichern kann.“

In Deutschland können Studierende, die sich in finanziellen Notlagen befinden seit dem 8. Mai eine finanzielle Unterstützung in Form von Krediten beantragen. Außerdem stellen manche Universitäten auch Zuschüsse zur Verfügung, die nicht zurückgezahlt werden müssen, etwa für Studierende, die ihren Nebenjob verloren haben. Das gilt sowohl für deutsche Student*innen, als auch für Studierende aus dem Ausland!

Corona im Ramadan!

Im letzten Monat war Ramadan und eigentlich ist das für die Gläubigen der schönste Monat im Jahr. Aber mit Corona sah der Ramadan dieses Mal ganz anders aus! Die Menschen durften nicht zusammen das Fastenbrechen feiern, sondern dürfen wegen der Ausgangssperre die eigenen vier Wände nicht verlassen. Viele Syrer*innen glauben vielleicht auch deswegen nicht, dass diese Maßnahmen die beste Vorgehensweise sind, um die Verbreitung des Virus zu begrenzen! Tagsüber kommen die Menschen schließlich immer noch miteinander in Kontakt, da sie in Warteschlangen stehen und alle Einkäufe vor 18:00 erledigt haben müssen. Auch die Verlängerung der Bewegungsfreiheit auf 19:30 im Fastenmonat ändert daran nichts. Ich rufe meinen Onkel an und frage, was er dazu denkt. Er antwortet sarkastisch: „Corona schläft bei uns in Syrien am Morgen und wacht am Abend wieder auf, wenn die Leute wieder brav die Ausgangssperre befolgen.“

Schwäche des Gesundheitssystems

Was die Syrer*innen an dieser Pandemie am meisten beunruhigt, ist das schlechte Gesundheitssystem des Landes. Die Gesamtzahl der in öffentlichen und privaten Krankenhäusern in Syrien verfügbaren Betten beträgt 325. Die maximale Kapazitätsschwelle für die Betreuung von Corona-Patient*innen, die künstlich beatmet werden müssen, liegt bei 6500 in den syrischen Städten . Davon befinden sich die meisten von ihnen in der Hauptstadt Damaskus, während in der Stadt Deir Al-Zour im Osten des Landes beispielweise kein Bett ausgestattet ist.

Angesichts einer solch‘ miserablen Situation, wäre es auch für das menschenverachtendste Regime besser, in den eigenen Gesundheitssektor zu investieren, um seine Bevölkerung angesichts der Gefahr des Massensterbens so gut wie möglich schützen zu können. Dennoch setzt das syrische Regime weiterhin seine Politik der Folter und Unterdrückung ohne Rücksicht auf die Menschenrechte fort. Zum Vergleich, in Deutschland existierten bereits vor dem Pandemie 28.000 Intensivbetten und zurzeit sogar knapp 34.000. Das entspricht einem Anstieg von 34 bis 39 Intensivbetten pro 100.000 Einwohner innerhalb von zwei Monaten.

Die Syrer*innen, die noch unter der Herrschaft des Regimes leben, sind diesem schutzlos ausgeliefert, was sich im Angesicht der Pandemie mal wieder offenbart. Das Recht, seine eigene Meinung zu äußern und sich gegen die aktuelle Situation zu wehren, gibt es schon lange nicht mehr. Die Rechte auf medizinische Versorgung und auf Schutz vor staatlicher Willkür werden angesichts der Corona-Pandemie einmal mehr mit Füßen getreten.

Diese Pandemie betrifft alle Länder der Welt. Aber die Fähigkeit mit dieser Bedrohung umzugehen, unterscheidet sich stark zwischen den Regierungen dieser Erde. Ein demokratischer Staat wie Deutschland kümmert sich um seine Bevölkerung, klärt auf, schafft neue Intensivbetten und rekrutiert Reservist*innen für den Ernstfall. Eine Diktatur wie Syrien ist unfähig, sich um seine Bevölkerung zu kümmern. Ich schaue nach Syrien zu meinen Freund*innen und mach mir Sorgen. Sie leben immer noch unter dem Joch einer Diktatur, kämpfen, um die grundlegendsten Rechte zu erhalten und sind dennoch völlig schutzlos.


*Die Namen der Personen wurden zu ihrem Schutz geändert

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