von Paul Stegemann
2017 war das Jahr der Europäischen Rechten. Auf der Suche nach dem „Warum?“ radelte unser Autor Paul im darauffolgenden Sommer als Reisestipendiat von Deutschland nach Spanien.
Kurze Erinnerungsstütze für den Fall der erfolgreichen Verdrängung des politischen 2017: In Österreich wird Wunderwuzzi Kurz durch die rechtsnationalistische FPÖ zum Bundeskanzler gewählt, in Polen arbeitet die PiS an der Abschaffung des Rechtsstaates und die AfD zieht mit 12,6% der Stimmen in den Deutschen Bundestag ein. Der Brexit und Donald Trump waren schon beschlossen, die Wahlen in Italien und Ungarn stehen noch bevor.
Warum ist scheinbar so vielen Unionsbürger*innen Nationalismus wichtiger als offene Grenzen? Warum investieren sie ihre Energie lieber, um Unterschiede aufzuzeigen, anstatt nach Gemeinsamkeiten zu suchen? War die Europäische Integration der Mitgliedsstaaten mit ihrem freien Binnenmarkt nicht unter dem Strich ein ökonomischer Erfolg für alle?
Ein Reisekonzept
Ich wollte Menschen aus verschiedenen europäischen Ländern treffen und herausfinden, was sie auf diese Fragen antworten. Dabei wollte ich nicht spezielle, auf irgendeine Art besonders wichtige Menschen treffen, sondern solche, die ein „ganz normales“ Berufsleben führen, es schon hinter oder noch vor sich haben. Wie wird ihr Berufsalltag durch offene Grenzen beeinflusst? Nehmen sie die Union als einen bereichernden, positiven oder doch als einen negativen Einfluss wahr?
Mein Plan, um diese Menschen zu treffen: Mit dem Fahrrad von Hannover nach Spanien fahren und somit in fünf verschiedenen Ländern Gesprächspartner*innen finden. Ich wollte persönliche Einzelgeschichten kennenlernen und die Menschen individuell portraitieren, um einen Erklärungszugang für die Effekte des Europäischen Binnenmarktes zu bekommen. Dabei werde ich den größten Vorteil des Schengen-Raums bei vier kontrollfreien Grenzüberquerungen hautnah erleben.
Zu meinem Glück gibt es Stiftungen, die ungewöhnliche, politische Reiseideen wünschenswert finden und sogar finanziell unterstützen. Die Schwarzkopf-Stiftung Junges Europa fördert seit 1971 das Engagement junger Menschen zwischen 16 und 28 Jahren „mit dem Ziel der Stärkung des europäischen Gedankens, der gesamteuropäischen Völkerverständigung und der Bekämpfung von Rechtsextremismus, Antisemitismus und Rassismus.“ Die Stiftung schafft Räume, in denen sich junge engagierte Europäer*innen begegnen können, vermittelt Dialoge zwischen jungen Menschen und politischen Entscheidungsträger*innen, betreut das European Youth Parlament und: vergibt europaweit Reisestipendien für Menschen ab 18 Jahren. Finanziert werden die Stipendien über Geldgeber wie die Bundeszentrale für politische Bildung, Airbnb, die Deutsche Bahn, die Bundesvereinigung der Deutschen Arbeitgeberverbände (BDA) und die Kreuzberger Kinderhilfe. Die Förder*innen geben die konkretere Themenrichtung innerhalb des Europäischen Gedankens für das Reiseprojekt der Stipendiaten vor. In meinem Fall kam das Stipendium der BDA zur „Bedeutung offener Grenzen für den Europäischen Binnenmarkt“ in Frage.
Viele Erkenntnisse
Die Eindrücke zur europäischen Arbeitswelt, die ich während meiner Reise sammeln durfte, waren sehr unterschiedlich. Da war Koos, der in einem wunderschönen abgelegenen Landhaus in den Niederlanden lebt und arbeitet, während sein Mann 4 Tage die Woche in Deutschland sein Geld verdient. Oder Charles, der für die NATO in mehreren europäischen Ländern gewohnt hat und sich jetzt auf dem Marktplatz in Tilburg Sorgen über die Zukunft Italiens macht. Aber da war auch Natalie, die Gärtnerin, die sich über die vielen überflüssigen Regularien aus Brüssel ärgert und die Agrarpolitik der Union für das Insektensterben auf den Feldern verantwortlich macht.
Neben den Bestandsaufnahmen wurde mir mit der Kolibri-Metapher von Hélène und Jérémy auch Mut und Veränderungsvorschläge mit auf den Weg gegeben. Der Künstler-Halbtags-Gärtner und die Tänzerin arbeiten in ihrer unmittelbaren Nachbarschaft so, wie sie es auch machen würden, wäre die EU nie gegründet worden. Sie handeln lokal, denken global und sehen die größte Herausforderung der Europäischen Wirtschaft im Paradoxon des nachhaltigen Konsums. Allerdings nehmen sie auch jede*n einzelnen von uns in die Verantwortung.
We have to reflect on, what we produce, what we consume and if this is what we really need to feel good and happy.
Hélène und Jérémy
Alle von mir befragten Europäer*innen machten sich Sorgen über das Erstarken nationalistischer Kräfte bei Parlamentswahlen und über konkrete demokratiefeindliche Tendenzen einiger Länder. Diese seien eine Gefahr für die Werte, sowie für den wirtschaftlichen Wohlstand Europas. Es sei für alle liberalen, freiheitlich-demokratischen Kräfte, Menschen und Vereinigungen in Europa die wichtigste Aufgabe, dieser Entwicklung entschieden entgegenzuschreiten. Sie müssen aufzeigen, warum ein Weg gemeinsam in der Vielfalt der Union ein besserer, erfolgreicherer und sicherer Pfad ist, als der des nationalen Alleinganges.
Dafür muss sich die EU verändern. Europa könnte beispielsweise seine Mitgliedsstaaten in verschiedenen „Geschwindigkeiten“ integrieren, damit willige Staaten mehr Kooperationen eingehen können und andere, die sich vor nationalem Souveränitätsverlust fürchten, nach kurzer Zeit nachziehen. Europa könnte sich auch in die Richtung eines föderalistischen Bundesstaates entwickeln, der eine höhere Identifikation mit Europa bei den Unionsbürger*innen bewirken würde. Oder wir könnten damit beginnen Europa zu demokratisieren, die Wahl des Parlaments durch ein neues Wahlgesetz zu reformieren und ihm mit dieser Legitimation auch mehr Rechte sowie Pflichten zuzuschreiben. Es gibt verschiedene Wege zur Reform der EU. Wichtig ist, dass wir über diese diskutieren, um die beste Route zu finden.
Grenzenlose Motivation
Mein Reisestipendium hat mich bestärkt in der Überzeugung, dass es wichtig ist, sich für ein geeintes Europa zu engagieren. Die Römischen Verträge zur Gründung der EU sind erst 70 Jahre jung, was in historischer Betrachtung von Staatenbündnissen mit dem schwierigen Alter der Pubertät beim Menschen vergleichbar ist. Bis hierhin ist Europa aufgewachsen, sehr schnell größer geworden und hat zuletzt noch im Jahr 2013 ein paar Zentimeter dazu gewonnen. In der jetzigen Phase wird es keine großen Wachstumssprünge mehr geben, Europa muss sich überlegen, in welche Richtung es sich weiter entwickeln möchte, und wir können diesen Prozess mitbeeinflussen.
Im Sommer 2018 hat die Schwarzkopf Stiftung Junges Europa 110 weitere Stipendiaten aus diversen Ländern Europas gefördert, die sich teilweise ganz andere Schwerpunkte, Ziele und Möglichkeiten gesucht haben, um über die EU zu sprechen. Beeindruckend ist dabei vor allem die Vielfältigkeit der individuellen Reiseprojekte, die durch die Stiftung ermöglicht werden. Die Themensetzung, die Planung der Reise und die Orte, die die Stipendiaten besuchen möchten, liegen in der eigenen Planung. Die Fördersumme unterscheidet sich je nach Themenstipendium der Stiftung.
Ich denke gerne zurück an die ca. 1500 verschwitzten Kilometer, an die unterschiedlichen Landschaften und Orte, die ich aufsaugen durfte, und bin dankbar für die vielen, unterschiedlichen Menschen, die mit mir ihre Sicht auf Europa geteilt haben.
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