Keep it in the ground – Auf den Barrikaden und unter der Erde für Lützerath

Text und Fotografien: Celine Giese

Es ist der 16. Januar 2023 als Pinky und Brain ihren selbstgegrabenen Tunnel unter Lützerath verlassen. Vier Tage waren die beiden unter der Erde. Ihr Ziel: die Räumung des Dorfes zu verhindern. Jetzt leben dort keine Aktivisti mehr, die Kohlebagger von RWE können wohl bald mit der Abgrabung des Dorfes beginnen. Tausende versuchen das zu verhindern – trotz Lebensgefahr und Polizeigewalt.

Baum- und Stelzenhäuser, Holzgerüste, aufgerissene Straßen, Löcher und Berge aus Bäumen, zu Türmen zusammengebundene Baumstämme, Schrott und Pflastersteine – wer in den letzten Wochen durch Lützerath lief, sah wie kreativ sich Aktivisti den Sicherheitskräften von RWE und der Polizei entgegenstellten. RWE hat die Häuser und Grundstücke in Lützerath gekauft, um die Kohle aus dem Boden abzubaggern. Viele junge und alte Menschen stellten sich dagegen. Sie sagen, dass für die Profitinteressen des Großkonzerns RWE Dörfer verschwinden und Verbrechen am Klima begangen werden. Lützerath wurde für die Klimagerechtigkeitsbewegung zu einem Symbol im Kampf für soziale Gerechtigkeit und im Kampf gegen die Braunkohle. RWE meint, dass nur so die Energiesicherheit in Deutschland gewährleistet werden kann.

Schilder am Ortseingang des verbliebenen Dorfes Keyenberg erinnern an den Kampf ums Bestehen

Mehr Kohle = Mehr Energiesicherheit?

Seit dem Angriffskrieg Russlands auf die Ukraine beschäftigt Deutschland vor allem die Frage der stabilen Energieversorgung. Die Energiesicherheit des Landes soll unabhängig von russischem Gas gewährleistet werden. In dieser Zeit werden sowohl Nordrhein-Westfalen, als auch der Bund von Bündnis 90/Die Grünen regiert, die sich selbst als politischen Arm der Klimagerechtigkeitsbewegung verstehen. Gewonnen haben sie die letzten Wahlen mit dem Versprechen, den Kohleausstieg vorzuziehen und die Pariser Klimaziele zu verfolgen. Nun wollen auch sie das Dorf am Rande des Tagebaus Garzweiler II für die Kohle weichen lassen.

Am 4. Oktober 2022 gaben Vizekanzler Habeck (Grüne), Grünen NRW-Wirtschaftsministerin Neubaur und RWE-Chef Krebber eine Einigung zwischen RWE, dem Bund und dem Land Nordrhein-Westfalen bekannt. Demnach möchte RWE den Kohleausstieg um acht Jahre auf 2030 vorziehen. Fünf Dörfer sollen erhalten bleiben, die Braunkohle unter dem Dorf Lützerath soll laut RWE jedoch gefördert werden. Ein Gutachten des Ministeriums für Wirtschaft, Industrie, Klimaschutz und Energie Nordrhein-Westfalen kommt zu dem Schluss, dass die Kohle unter Lützerath für die Deckung des Braunkohlebedarfs nötig sei. Vor allem 2023 käme es aufgrund der Gasknappheit zu einem Mangel, so das Ministerium.

Weitere sieben Jahre soll hier Kohle abgebaggert werden, im Tagebau Garzweiler II

Berechnungen des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung (DIW) zufolge sei die Energieversorgung in der Krise jedoch auch ohne die Kohle unter Lützerath möglich: „Ab Beginn des Jahres 2022 bis zum Ende der Kohleverstromung im Jahr 2030 steht in einem [Szenario der maximalen Auslastung der Braunkohlekraftwerke] ein Bedarf von insgesamt 271 Millionen Tonnen Braunkohle, einem Kohlevorrat von circa 301 Millionen Tonnen gegenüber. Folglich ergibt sich ein Überschuss von rund 30 Millionen Tonnen Braunkohle, der in dem bereits genehmigten Bereich des Tagebaukomplex Hambach und Garzweiler II zurückbleiben würde, bei Erhalt von Lützerath.“

Der vorgezogene Braunkohleausstieg Nordrhein-Westfalens bis 2030 bringe zudem gar keinen Vorteil gegenüber dem ursprünglichen Ausstiegsplan bis 2038, da durch den vorgezogenen Ausstieg höchstens 64 Millionen Tonnen Kohle eingespart würden. Es gebe also gar keine Ersparnis gegenüber dem ursprünglichen Ausstiegsplan. Die Forscher:innen nehmen an, dass der Kohlebedarf ab April 2024 wieder zurückgehen wird. Insbesondere der geplante Zubau erneuerbarer Energien werde die Kohleverstromung weiter verdrängen. Kurzum: Die Versorgungssicherheit in Deutschland ist auch bei einem Kohleausstieg 2030 und bei Erhalt Lützeraths nicht gefährdet. Das bestätigen auch das Politiklabor Agora Energiewende sowie das Fraunhofer Institut.

Ein weiteres Argument der DIW-Studie: Braunkohle kann Gas als Energiequelle gar nicht vollständig ersetzen. Gas wird größtenteils in der Industrie und zur Wärmeerzeugung eingesetzt, hier ist eine Umstellung auf andere Energieträger jedoch technisch schwierig, weshalb Braunkohlekraftwerke nur das Gas ersetzen können, das im Stromsektor gebraucht wird.  Zudem ist Kohle schon lange ein Verlustgeschäft. Bereits 2019 hätten 90 Prozent der Kohlekraftwerke rote Zahlen geschrieben, hätte es keine staatlichen Subventionen in Milliardenhöhe gegeben. Dies wird sich auch in Zukunft nicht ändern, denn durch einen rückläufigen Gaspreis und einen ansteigenden CO2-Preis im europäischen Emmisionshandel wird Kohle ab 2030 noch unwirtschaftlicher werden.

Lützerath – ein Ort zwischen Utopie und Dystopie

Während RWE und Polizei  dennoch mit Bauzäunen und Hundertschaften anrücken, versuchten Aktivisti:nnen das Dorf vor der Räumung zu verteidigen. Die Aktivisti sagen, dass in Lützerath die 1,5°C-Grenze verläuft; hier entscheide sich, ob Deutschland die Pariser Klimaziele einhalten will. Damit Deutschland diese einhalten kann, dürften im Rheinischen Gebiet schon seit Januar 2021 nur noch maximal 200 Millionen Tonnen Braunkohle gefördert werden. Anfang 2021 lag der Braunkohlevorrat des Tagebaukomplexes Hambach und Garzweiler bereits bei etwa 230 Millionen Tonnen. Deshalb, sagen die Aktivisti, liege eine größere Menge Braunkohle zu fördern lediglich in den Profitinteressen von RWE. Mit dem „Kompromiss“ dienen die Regierungen dem Großkonzern, statt die Klimaziele einzuhalten.

Nahe der Kohlegrube stellen sich Aktivist:innen mit Schildern auf, um ihren Unmut deutlich zu machen

Auf die Barrikaden

Als am 14. Januar circa 35.000 Menschen gegen die Räumung des Dorfes protestieren, herrscht bei den Demonstrierenden Entschlossenheit. Viele fordern ein Umdenken in der Politik und Neuverhandlungen mit RWE. Pinky und Brain verschanzten sich zu dem Zeitpunkt schon in ihrem selbstgegrabenen Tunnel. Sie wollten verhindern, dass die Räumung erfolgreich ist. Dafür nahmen sie großen körperlichen Stress in Kauf, die Polizei bezeichnete ihre Aktion als lebensgefährlich. Niemand in Lützerath versteht, wie die Grünen dem weiteren Kohleabbau zustimmen konnten. Seit Jahren ist das Dorf bereits besetzt; die Räumung hingegen dauert nur eine Woche und endet am 16. Januar mit dem Verlassen des Tunnels der letzten beiden Aktivist:innen.

Auch wenn die Räumung größtenteils friedlich verlief, kam es bei den Protesten immer wieder zu Eskalationen. Die Polizei kesselte immer wieder Aktivisti ein, griff zu Pfefferspray, verweigerte Krankenwagen und Sanitäter:innen aus den Reihen der Aktivist:innen den Zutritt zum Gelände und schloss auch die Presse immer wieder während der polizeilichen (Räumungs-)Maßnahmen aus. Auf Sitzblockaden reagierte die Staatsgewalt mit Schmerzgriffen, schubsen und quetschen. In Lützerath protestierten viele junge Aktivisti, einige auch minderjährig, die sich durch die Fridays For Future Proteste politisiert haben und in Lützerath teils traumatische Erfahrungen mit der Staatsgewalt sammelten. Sinnbildlich dafür ist wohl ein Video, das in den sozialen Netzwerken kursiert, in dem Greta Thunberg von uniformierten Polizist:innen abgetragen wird. Am Samstag setzte die Polizei nach Ankündigung Wasserwerfer gegen die Menschen ein, die versuchten, nach Lützerath zu gelangen. Viele Demonstrant:innen kamen mit Körperverletzungen ins Krankenhaus, einige davon schwer.

Mit Sekundenkleber und Farbe oder Glitzer präparieren Aktivist:innen ihre Hände

Lützi bleibt (?)

Trotz all der Entschlossenheit, die am 14. Januar herrscht, ist Flocke, die sich seit Jahren in verschiedenen Klimabewegungen und -organisationen fürs Klima einsetzt, pessimistisch was den Erhalt Lützeraths angeht: „Ich glaube nicht, dass es in Bezug auf die Kohle unter Lützerath noch irgendetwas bringt. Hier wurde ein Kompromiss eingegangen, der nicht zugunsten des Klimaschutzes ist. Nun ist es an uns, Druck auf die Grünen, auf die Bundesregierung auszuüben, damit sie sich in anderen Bereichen mehr für den Klimaschutz einsetzen.“ Auch wenn Lützerath mittlerweile Geschichte ist, so geht der Kampf junger Menschen gegen veraltete Strukturen und für eine gerechtere Welt weiter.

Weiterführende Literatur:


  1. Pertinenz (französisch pertinence, zu: pertinent = zu etwas gehörend, zu lateinisch pertinere = zu etwas, jemandem gehören)
    Kohleabbau in der Lausitz [watch?v=OwrX5kbycm0]

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert

Gefällt dir das sai-magazin?