IHME-ZENTRUM. Als hätte ein Gebäude eine ganze Stadt verschluckt

sai – Buchtipp

Text und Illustrationen: Teresa Ruebel

Alle Hannoveraner:innen kennen es; aber nicht alle lieben es. Das Ihme-Zentrum, einst Hoffnungsträger für die Stadtentwicklung, säumt das Ihmeufer im hannoverschen Stadtteil Linden und ist längst zu einem Wahrzeichen geworden. Der neu gegründete Indie-Verlag Klassenbuch Verlag Hannover widmet sich in seiner ersten Veröffentlichung dem Ihme-Zentrum und all seinen Geschichten.

Am Anfang stand ein Schreibwettbewerb, ein Open Call zum Thema Ihme-Zentrum. Mehr Vorgaben gab es nicht, und das haben sich die Autor:innen zum Anlass genommen, ihrer Kreativität freien Lauf zu lassen. Herausgekommen ist dabei eine Anthologie aus 20 Texten, die von einer Jury aus 40 ursprünglich eingereichten Texten ausgewählt wurden. Da sich der Klassenbuch Verlag ein anti-diskriminierendes und vor allem anti-klassistisches Programm gegeben hat, wurden auch Vertreter:innen ganz verschiedener Interessengruppen miteinbezogen. Burkhard Wetekam vom Autor:innenzentrum Hannover Anette Hagemann vom Kulturbüro Hannover, die auch das Vorwort der Anthologie verfasste, Kadir Can Özdemir von den Postmig Writers Hannover und Jan-Philippe Lücke der Zukunftswerkstatt Ihme-Zentrum bildeten beispielsweise einen Teil der Jury. Vom Klassenbuch-Verlag selbst war Stefanie Kopetschke vertreten.

Das Buch feierte Premiere im Autor:innenzentrum Hannover, das im Ihme-Zentrum angesiedelt ist. Die prämierten Autor:innen Markus Witte, Naby Naïd Karimi, Lucie Kolb, Alexander Rudolfie und Lea-Sophie Stich lasen aus dem Buch vor. Autor Martin König fing die Stimmung unter den Besuchern in einem Instagram-Post ein: “Zur Begrüßung schon Klassiker gehört, wie ‘Aus einer bestimmten Perspektive geht’s’ und ‘Durch den richtigen Eingang ist es gar nicht so schlimm’”. Durch diese Äußerungen, aber auch wie ein roter Faden durch das ganze Buch, zieht sich die Frage nach dem Verhältnis der Hannoveraner:innen zu dem Gebäude.

In dem Drama von Markus Witte ist das Ihme-Zentrum kein Spekulationsobjekt, das passiv von Investorhand zu Investorhand wandert, sondern nimmt eine aktive Rolle ein und bleibt doch ein mysteriöser Ort, an dem man sich zu leicht verirren kann.

Die:der Autor:in Jonah Rausch setzt sich auf poetische Weise mit der sozialen Klassen auseinander und fragt: “Wer zieht her? Die lesbische Großmutter mit ihren zwei Katzen, in eine Zweizimmerwohnung im elften Stock. […] Wer zieht her? Paare, die in offenen Beziehungen leben und Co-Parenting betreiben. […] Wer noch? Menschen, die zu einem späteren Zeitpunkt in ihrem Leben mit ihren Armutserfahrungen angeben wollen.”

Bei Naby Naïd Karimi wird das Ihme-Zentrum zum Schauplatz eines postapokalyptischen Häuserkampfs, in dem BIPOCs gegen Weiße und ums Überleben kämpfen.

Und im Text von Barbara Schlüter kann die Geschichte des Orts zurückverfolgt werden; denn das Ihme-Zentrum ist noch nicht allzu alt, und dennoch kann man es sich nicht mehr wegdenken.

Gerade der lokale Fokus des Buchverlags ist interessant und nötig. In anderen Städten, so habe ich als Hannoveranerin das Gefühl, wird die Stadt Hannover nicht allzu ernst genommen, obwohl sie so lebenswert ist! Sie gilt immer noch als hässlich. Dennoch habe ich meinen Freund:innen, die nicht aus Hannover stammen, stolz das Buch gezeigt, auch wenn das Cover, auf dem das Zentrum in all seiner grauen Massivität abgebildet ist, dieses Argument vielleicht nicht gleich entkräften kann. Aber nach der Lektüre können vielleicht auch Nicht-Hannoveraner:innen verstehen, warum vielen das Ihme-Zentrum trotzdem ans Herz gewachsen ist, für was es steht, und dass es unglaublich tolle Literatur und Poesie inspirieren kann.

Das gute Stück ist auf der Website klassenbuch-verlag.de sowie in ausgewählten hannoverschen Buchhandlungen erhältlich. 153 Seiten, 15€. Support your local publicist 😉 Außerdem ist der Verlag immer auf der Suche nach Manuskripten, die ins Verlagsprogramm passen, die also Geschichten von Arbeiter:innen und marginalisierten Menschen erzählen und/oder einen lokalen Hannover-Fokus haben. Falls ihr zuhause also Texte in der Schublade schlummern habt, die auf diese Anforderungen zutreffen, zögert nicht, sie an folgende E-Mail-Adresse zu schicken: klassenbuch@posteo.de .

Anmerkung: Die Autorin des Artikels war als Layouterin an der Entstehung des Buchs beteiligt!

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert

Gefällt dir das sai-magazin?