Text: Inga Niedersberg | Illustrationen: Julie Mathées
Es ist der Morgen des 24. April 2013. In Savar, nahe der Hauptstadt Bangladeschs, stürzt der achtstöckige Fabrikkomplex Rana Plaza in sich zusammen. Tausende Menschen werden unter den Trümmern begraben. Bei dem bis heute größten Unglück in der Geschichte der Textilindustrie sterben 1.136 Arbeiter*innen, über 2.000 werden verletzt. Schon am Vortag des Unglücks wurde auf Risse im Gebäude aufmerksam gemacht. Dennoch wurden die Menschen gezwungen, ihre Arbeit in der Fabrik zu verrichten. In der Fabrik wurde hauptsächlich Kleidung für den europäischen Markt produziert. Unter den Auftraggebern befanden sich Modefirmen wie Primark, Mango, C&A und auch deutsche Unternehmen wie Kik oder Adler.
Globalisierungsprozesse erhöhen unseren Lebensstandard und bereichern unseren Alltag in vielerlei Hinsicht. Viele Rohstoffe und Produkte werden im Auftrag europäischer Großunternehmen in sogenannten „Billiglohnländern“ unter untragbaren Arbeitsbedingungen gefördert und produziert. Weltweit sterben laut der International Labour Organization (ILO) jeden Tag 6400 Menschen am Arbeitsplatz. Weltweit werden 152 Millionen Kinder zur Arbeit gezwungen und 25 Millionen Menschen gelten als moderne Sklaven. Möglichkeiten, die verantwortlichen Unternehmen zur Verantwortung zu ziehen, gibt es bis heute nur in Einzelfällen. Auch deutsche Unternehmen haften nicht dafür, wenn innerhalb ihrer Lieferketten grundlegende Menschenrechte verletzt werden. Dies sollte sich Anfang diesen Jahres eigentlich ändern.
Mit dem von Bundesarbeitsminister Hubertus Heil (SPD) und Entwicklungsminister Gerd Müller (CSU) geplanten Lieferkettengesetz sollten deutsche Unternehmen durch gesetzlich geregelte Sorgfalts- und Haftungsregeln verpflichtet werden, auf allen Stufen der Wertschöpfungskette menschen- und arbeitsrechtliche Mindeststandards zu garantieren. Laut Redaktionsnetzwerk Deutschland wollten die Minister ihre Eckpunkte für ein solches Gesetz am 10. März 2020 vorstellen. Diese Pläne wurden jedoch kurzfristig von Bundeskanzleramt und Bundeswirtschaftsministerium auf Eis gelegt. Als Begründung wurden die weltwirtschaftlichen Auswirkungen der Corona-Pandemie angeführt und damit der Unwillen, der deutschen Wirtschaft weitere Belastungen aufzubürden.
Dem Gesetz schlug jedoch von Anfang an heftige Kritik von Seiten der Wirtschaftsverbände entgegen. Und der erschreckend große Einfluss der Wirtschaft auf die Politik ließ sich ja erst kürzlich bei der Verabschiedung des Milliarden-Hilfspakets für die Lufthansa bestaunen. Auch wenn die Gesetzesinitiative an sich eine positive Nachricht ist, ein tatsächlich ideologisches Motiv als treibender Motor dahinter bleibt zu bezweifeln. Dies wird umso deutlicher, wenn man den größeren, internationalen Kontext dieses Gesetzes und seine bisherige Entwicklung genauer betrachtet.
Die Thematik der extraterritorialen Menschenrechtsverletzungen durch transnationale Unternehmen wird auf völkerrechtlicher Ebene bereits seit geraumer Zeit diskutiert und stellt bis heute eine ungeklärte Lücke im internationalen Menschenrechtsschutz dar. Staaten sind völkerrechtlich zwar dazu verpflichtet, sich auf ihrem eigenen Territorium befindliche Individuen vor Menschenrechtsverletzungen durch private Akteure zu schützen. Diese Verpflichtung besteht jedoch nicht bei extraterritorialen Menschenrechtsverletzungen, also wenn nationale Mutterunternehmen Menschenrechtsverletzungen im Ausland durch ihre Tochterunternehmen oder innerhalb ihrer Lieferkette in Kauf nehmen und davon profitieren.
Auf UN-Ebene gab es bereits in den 1960er und 70er Jahren erste Versuche zur menschenrechtlichen Regulierung von transnationalen Unternehmen. Die Blockadehaltung der Industrieländer bezüglich möglicher Regulierungspflichten hat dabei Tradition. Im Jahr 1972 beklagte der damalige chilenische Präsident Salvador Allende vor der UN-Generalversammlung die Ignoranz der internationalen Gemeinschaft und erhielt dafür minutenlangen Applaus. Hintergrund seiner Rede war das Bekanntwerden der Beteiligung des US-amerikanischen Telekommunikationsunternehmens ITT an einem geplanten – Allende geltenden – Putschversuch. Seit dieser Rede wurde auf UN-Ebene an der Ausarbeitung eines internationaler Verhaltenskodexes gearbeitet. Umso erschreckender ist es, dass sich die internationale Gemeinschaft erst 2011 mit den UN-Leitprinzipien für Wirtschaft und Menschenrechte auf gemeinsame Regeln einigen konnte. Diese Leitprinzipien wurden als großer Fortschritt gefeiert, statuieren aber keine verbindlichen Regeln, sondern legen, wie der Name schon andeutet, lediglich gemeinsame Leitlinien fest. Verbindlich war einzig die Ausarbeitung nationaler Aktionspläne (NAP).
Der von der deutschen Bundesregierung im Dezember 2016 vorgelegte NAP beließ es jedoch beim Prinzip der Freiwilligkeit und beschränkte sich auf unverbindliche Empfehlungen und eine im Juli 2019 durchgeführte Umfrage. Als einzige Bedingung für die weitere Abstinenz von gesetzlichen Maßnahmen galt, dass die Hälfte aller deutschen Unternehmen mit mehr als 500 Beschäftigten freiwillig menschenrechtliche Sorgfaltspflichten erkennbar in ihre Lieferprozesse integrieren müssten. Erst wenn diese Bedingung durch die Umfrage als nicht erfüllt bewiesen galt, sollten verbindliche Regelungen folgen. Das Ergebnis der Umfrage belegte, dass lediglich 20 % der befragten Unternehmen die freiwilligen Vorgaben umgesetzt hatten.
In der Folge wurde zunehmend Kritik auf internationaler und nationaler Ebene laut. Zahlreiche NGOs forderten eine gesetzliche und damit verbindliche Regulierung transnationaler Unternehmen. Auch fiel Deutschland, sich durchaus gerne moralisch erhaben gebend, im internationalen Vergleich merklich zurück. 2017 verpflichtete Frankreich als erstes Land überhaupt seine nationalen Unternehmen zu menschenrechtlichen Sorgfaltspflichten im Rahmen ihrer Auslandsgeschäfte. Länder wie die Niederlande haben immerhin Gesetze bezüglich einzelner Bereiche, z.B. der Kinderarbeit, verabschiedet.
Seit 2014 finden auf UN-Ebene Verhandlung für einen international verbindlichen Vertrag statt, welcher primär die Staaten, damit aber auch indirekt die Unternehmen, binden würde. Die europäischen Länder zeichneten sich bisher durch ihre Abwesenheit an den Verhandlungstagen aus. Allen voran Deutschland lehnt es bis heute ab, die ausgearbeiteten Vorschläge überhaupt zu kommentieren.
Der Entstehungsgeschichte des Lieferkettengesetzes verdeutlicht die Doppelzüngigkeit der deutschen Regierung und stellvertretend die der meisten westlichen Industriestaaten. Sie verkörpert das Ausmaß, in welchem nationalen Profitbestrebungen Vorrang gegeben wird vor einem national und international immer wieder bekräftigten, gemeinsamen Werteverständnis und Bekenntnis zur Würde jedes einzelnen Menschen.
Gepaart mit der durch die Corona-Pandemie wieder aufkeimenden Überzeugung zur Notwendigkeit eines – hinsichtlich globaler Themen, wie z.B. dem Klimawandel – gänzlich ignoranten Kapitalismus, sind Zweifel bezüglich einer tatsächlichen Umsetzung des geplanten Lieferkettengesetzes durchaus berechtigt. Es ist daher umso wichtiger geworden, sich individuell und im Rahmen politischer Initiativen deutlich für dieses Gesetz auszusprechen, um so Wirtschaftsverbänden gegenläufigen Interessen eine Stimme zu geben. Nennenswerte Beispiele sind hier unter anderem die Initiative Lieferkettengesetz oder die Petition des WWF, welche sich vor allem für die Haftung von transnationalen Unternehmen bezüglich im Ausland verursachter Umweltschäden einsetzt.
Vom 2. März bis 29. Mai 2020 fand eine zweite Befragungsrunde deutscher Unternehmen statt. Deren Ergebnisse sollen im Sommer 2020 veröffentlicht werden. Laut Auswärtigem Amt plant die Bundesregierung anhand dieser, „mögliche Folgemaßnahmen in dieser Legislaturperiode zu beraten und zu beschließen“. Über einen möglichen Zeitplan für einen Gesetzesentwurf gibt es noch keine Auskunft.