Europas Grenzen brennen

Von Paul Stegemann | Bilder: © Ali Cem Doğan

Moria brennt. Dabei loderte das Feuer nicht immer im haptischen Sinne, metaphorisch brennt Moria schon seit Jahren. Die Schutzsuchenden auf Lesbos leben nämlich schon lange im Dreck. Die Kinder sind nicht erst seit ein paar Wochen apathisch und haben die Hoffnung auf ein besseres Leben auf europäischem Boden vor Monaten verloren. „Warum behandelt ihr uns wie Tiere?“, fragen sich viele Menschen im Camp.

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Doch Moria ist nicht der einzige Brandherd unter der sogenannten Migrationsstrategie der Europäischen Union. Nicht nur auf Lesbos verkauft die EU das Recht auf Menschenwürde.

11 Fragen, welchen sich die EU und Deutschland jetzt stellen müssen.

1. Was passiert eigentlich auf Samos, Chios, Leros und Kos?

Lesbos beherbergt das größte, aber nicht das einzige, europäische Gefängnis für Schutzsuchende. Alle ägäischen Inseln zusammen beherbergen momentan 27.200 Asylsuchende. Auf Samos etwa leben momentan knapp 5.000 Menschen in einem Camp, das eigentlich nur für 650 Personen ausgelegt ist. Auch hier mangelt es an ausreichenden hygienischen Ressourcen, medizinischer Versorgung und Menschenwürde. Seit März wurde den Bewohner:innen das Leben unter dem Deckmantel der Pandemie-Bekämpfung noch einmal massiv erschwert. Neben der zwangsläufigen Nichteinhaltung der Hygieneauflagen werden sie von der Polizei drangsaliert und teilweise auch eingesperrt. Außerdem steht ein neues Camp außerhalb der Stadt bereit, das ihre Bewohner:innen weiter isoliert und in den nächsten Wochen von ihnen bezogen werden soll.

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Samos, © Samos Volunteers

2. Warum kommen so wenig Menschen auf den ägäischen Inseln an?

Die Zahlen könnten Gutes verheißen. Seit der Corona-Pandemie verzeichnet das Flüchtlingshilfswerk der UN in ganz Griechenland lediglich 2.290 neu registrierte Schutzsuchende. 2019 wurden im gleichen Zeitraum 25.453 Menschen registriert. Die Gründe hierfür liegen aber vermutlich nicht in einer sinkenden Anzahl an Menschen, die flüchten, oder gar an einer Verbesserung der Zustände in den türkischen Außenlagern, sondern an den zahlreichen illegalen Push-Back-Actions der europäischen Grenzschützer:innen. Es gibt Berichte von verschiedenen NGOs über Menschen, die auf offener See und teilweise sogar von den griechischen Inseln zurück in die Türkei geschleppt werden.

3. Was passiert mit den „Festlandtransfers“?

628 Menschen haben in der letzten Woche die ägäischen Inseln in Richtung griechisches Festland verlassen. Einige konservative Politiker:innen erinnern dieser Tage auch gern, dass in Moria zwischenzeitlich 23.000 Menschen gelebt haben und diese Zahl schon beeindruckend gesunken sei. Doch was passiert mit den Menschen, die die Insel verlassen? Wie viele lassen die Insel aus Verzweiflung auf eigene Faust hinter sich und verlieren damit die Ansprüche auf staatliche Unterstützung? Wie viele landen in anderen gefängnisähnlichen Unterkünften? Informationen über den Verbleib dieser Menschen gibt es zu wenig.

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Lesbos, © Ali Cem Doğan

4. What the fuck ist die deutsche See-Sportbootverordnung?

Der teuerste Minister der aktuellen Regierungskoalition, Andi Scheuer, hatte am 3. März eine schlechte Idee: Er änderte nach „schiffssicherheitsrechtlichen Erwägungen“ Definitionen in bestehenden Verordnungen, welche den Schiffsverkehr regeln. Was nach juristischer Kleinkariertheit klingt, ist tatsächlich der Versuch unter dem Deckmantel der Sicherheit, zivilen Seenotretter:innen zu verbieten, Menschen vor dem Ertrinken zu retten.

5. Wieso haben Handelsschiffe Angst, Menschen aus Seenot zu retten?

Anfang August rettete das Handelsschiff „Etienne“ 27 Menschen aus akuter Seenot in maltesischen Gewässern . Das EU-Mitglied Malta weigerte sich allerdings, das Schiff in den Hafen zu lassen. Erst am 13. September – nach 40 Tagen auf See – fand das Schiff in Sizilien einen sicheren Hafen. Handelsschiffe sind auf dem Mittelmeer oft die einzigen Schiffe, die retten können und nach geltendem Seerecht dazu auch verpflichtet sind. Durch die mangelnde Aufnahmebereitschaft der europäischen Länder entsteht für die Betreiber:innen von Handelsschiffen auch eine ökonomische Gefahr. Sie müssen sich davor fürchten, dem geltenden Recht nachzukommen, Menschen zu retten, um dann von der EU mit der Situation allein gelassen zu werden.

6. Wo gibt es noch sichere Häfen?

Die Organisation Alarmphone berichtet, dass Malta oft gar nicht mehr auf Kontaktanfragen reagiert. Auch andere EU-Länder im Mittelmeer sind nicht immer bereit, einen sicheren Hafen zu bieten. Sie weigern sich auch deshalb, weil sie in den letzten Jahren mit der Unterbringung und Verpflegung der Geretteten allein gelassen wurden. Die anderen EU-Staaten machten es sich bequem in der Haltung, dass die Geretteten auf dem Mittelmeer in der Verantwortlichkeit der Mittelmeer-Länder liegen würden. Das hat zur Konsequenz, dass sich Berichte über die Zusammenarbeit mit der libyschen Küstenwache häufen, mit deren Hilfe Flüchtende aus maltesischen Rettungszonen illegal nach Libyen zurückgeführt werden.

7. Was passiert in Libyen?

In den Lagern in Libyen drohen den Menschen drastische Menschenrechtsverletzungen, Folter und Tod.

8. Wo landet das ganze Geld?

In den letzten Jahren flossen immer wieder Milliarden aus der EU nach Griechenland, um die Aufnahme der Geflüchteten zu „bewältigen“. Doch nicht nur das. Auch in den Ausbau von FRONTEX und der griechischen Küstenwache investierte die EU. Allein im April 2020 mobilisierte die EU-Kommission 350 Millionen Soforthilfe für die griechische Regierung mit dem Ziel, dass die Menschen Europas Grenzen gar nicht erst überqueren. Ursula von der Leyen: „Griechenland ist das Schutzschild Europas.“ In diesem Abschottungs-Enthusiasmus an den Mittelmeerstränden scheint zudem das ein oder andere Milliönchen noch im Sande verlaufen zu sein.

9. Warum wird das Asylrecht immer menschenfeindlicher?

Die Geschichte des deutschen Asylrechts ist ein Armutszeugnis. Nach dem Zweiten Weltkrieg wurde das Recht auf Schutz für politisch Verfolgte als großes „Sorry“ der Deutschen an den Rest der Welt im Grundgesetz festgeschrieben. Ein paar Jahre später schränkte erst die Genfer Flüchtlingskonvention, dann die deutsche Asylrechtsreform 1993 dieses Grundrecht massiv ein. In den 90er Jahren zündeten Nazis Asylunterkünfte in Deutschland an und hetzten gegen ihre Bewohner:innen. Die Bundesregierung reagierte, indem sie das Asylrecht um ein paar Absätze verlängerte und auf Verfolgte beschränkte, die mit dem Flugzeug nach Deutschland fliehen. In der Debatte begründeten die Parlamentarier:innen von CDU/CSU, SPD und FDP ihre Zustimmung als eine Reaktion auf den zunehmenden „Fremdenhass“ in der Bevölkerung. Als sich 2015 die brennenden Flüchtlingsheime und die Zunahme rechtsextremistischer Gewalt wiederholten, verschlechterte die Bundesregierung abermals mit den Asylpaketen 1 und 2 die Lebensbedingungen für Asylsuchende in Deutschland. 2020 verfügt die Bundesregierung mit der deutschen Ratspräsidentschaft über alle notwendigen Hebel, um sowohl eine deutsche als auch eine europäische Koalition der Humanität zu bilden. Doch der nötige Wille fehlt offensichtlich, weshalb in Deutschland weiter Abschiebegefängnisse gebaut werden und auf eine nicht-existente europäische Lösung in der Asylpolitik vertröstet wird.

10. Wer spricht und wem wird nicht zugehört?

„Ist das Europa?“, fragte der 21-jährige Milad aus Moria am Mittwochabend auf ProSieben. In dem medialen Diskurs ist er dabei eine Ausnahme. Viele Zuschauer*innen haben sich längst in der Berichterstattung über die Grenztoten und Menschenrechtsverletzungen im Mittelmeer daran gewöhnt, dass Menschen zu Zahlen werden. Wenn über die Asylpolitik berichtet wird, wenn Kontingente und Obergrenzen für Schutzsuchende ausgehandelt werden, wird selten mit den Betroffenen gesprochen oder gar wirklich zugehört. Milad, die Arbeit von Pro-Asyl, das Moria Corona Awareness Team und etwa die Berichterstattung von Isabel Shayani bilden dabei seltene Ausnahmen. Wie wäre es, wenn Asylsuchende eine öffentliche Plattform bekämen, über die Arbeit von Frontex zu diskutieren oder die nächste Asylgesetzgebung erlassen würden? Wie wäre es, wenn die ganze Gesellschaft Einzelschicksalen zuhören würde.

11. Wovor hat Horst Seehofer eigentlich Angst?


Alle Zahlen wurden berechnet aus Veröffentlichungen des UNHCR.

Zur Petition #LeaveNoOneBehind

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