Utopien: „Eine gesunde Portion Größenwahn“

von Leonie Ziem | Collagen: Marit Brunnert

Geht das überhaupt – utopisch Denken, ohne dass jemand im Raum die Augen verdreht? Manchmal schon: In einem Seminar an der Freien Universität Berlin versammeln sich Woche um Woche Politikstudierende wie ich, die über Utopien und große Erzählungen nachdenken wollen. Der Dozent des Seminars ist Aaron Bruckmiller – er glaubt an Utopien. Er mag, dass sie Gedankenräume eröffnen, die es ermöglichen, über das Bestehende hinaus zu denken. Ich treffe den Dozenten in einem kleinen Café am Görlitzer Bahnhof in Berlin.

Ist das Kriterium der Utopie ihre Unerreichbarkeit?

Aaron Bruckmiller:
Nein. Ich glaube, dass man eine gesunde Portion Größenwahn an den Tag legen muss, wenn man sich aktuellen Problemen und ihren Lösungen widmen will. Angesichts der Klimaerhitzung, den immer wiederkehrenden Wirtschaftskrisen oder des globalen Vormarsches der extremen Rechten täuscht man sich selbst, wenn man glaubt, es reiche heutzutage kleine Brötchen zu backen. Wenn man dagegen versucht, positive, optimistische Gesellschaftsentwürfe ins Spiel zu bringen, dann sind das Perspektiven, bei denen man meiner Meinung nach eigentlich sagen müsste, dass es mindestens Utopien für das gesamte dritte Jahrtausend sein müssen.

Wer die Macht hat, eine Utopie umzusetzen, verwandelt sie in den Status Quo. Was haben Utopien mit Machtfragen zu tun?

Aaron Bruckmiller: Ich glaube sehr viel. Und zwar ist das, was als möglich gilt, immer eine Machtfrage. Zum Beispiel der Neoliberalismus: Er organisiert seine Herrschaft wesentlich dadurch, dass er sagt, es wäre keine andere Herrschaftsform möglich. Das hat die gute alte Margret Thatcher damals im TINA-Prinzip formuliert: There is no alternative. Was als möglich gilt und was nicht, ist immer herrschaftlich abgesteckt. Ich würde diesem TINA-Prinzip ein TAMARA-Prinzip entgegensetzen, also:  There are many and real alternatives. Wenn wir über emanzipatorische Politik reden, dann – so denke ich – versucht diese nicht nur aktuellen Missständen etwas entgegenzusetzen, sondern auch andere Gesellschaftsformen anzustreben. Emanzipatorische Politik muss immer den Möglichkeitsraum – den Raum des Denkbaren, aber auch den Raum des Wünschbaren – erweitern. Das ist der utopische Moment in diesen Auseinandersetzungen. Das heißt zum einen natürlich, dass wir da über Dinge sprechen, die noch nicht möglich sind, Dinge, die vielleicht auch erst mal so verrückt klingen, dass sie nie verwirklichbar scheinen und dann doch verwirklichbar sind. Andere Dinge werden in diesem Prozess verworfen. Aber gleichzeitig müssen diese utopischen  Perspektiven  sich an bestehende Tendenzen anschmiegen. Das  kann als „konkrete Utopien“ bezeichnet werden, die eine Brücke schlagen zwischen dem Hier und Heute und dem Utopischen in der Zukunft.

Glaubst du, dass es an konkreten Utopien mangelt?

Aaron Bruckmiller: Ich glaube, es mangelt an ihrer Sichtbarkeit. Zum einen gibt es Orte wie Rojava in Nordsyrien oder Chiapas im Südosten von Mexico, wo versucht wird, auf  relativ großem Maßstab eine andere Form des Zusammenlebens zu praktizieren, die über kleine Gemeinschaften hinaus geht. Da kann man durchaus von Gesellschaften sprechen, die versuchen, auf eine basisdemokratische, emanzipatorische, antipatriarchale Art und Weise ihr gesellschaftliches Zusammenleben zu organisieren. Allerdings sind die Experimente, die dort stattfinden, im Mainstream nicht sehr bekannt. Oft ist es ja auch eine Machtfrage, wer Sichtbarkeit herstellen kann für seine Ideen und Experimente.

Geht mit konkreten Utopien nicht etwas an Inklusion verloren?

Aaron Bruckmiller: Wie meinst du das?

Wenn man eine konkrete Utopie skizziert, dann hat diese automatisch Grenzen und schließt somit Dinge oder Menschen aus.

Aaron Bruckmiller: Ich glaube, dass die Utopien im 3. Jahrtausend nur im Plural bestehen werden. Bei den alten und abstrakten Utopien war es oft so, dass einzelne Intellektuelle, meistens waren es Männer, sich eine Idealwelt vorgestellt und diese den herrschenden Zuständen entgegengesetzt haben. Und das ist es, was man als abstrakte Utopien bezeichnen könnte. Konkrete Utopien sind dagegen im Hier und Jetzt verwurzelt und knüpfen an Verhaltensweisen an, die zum Beispiel nicht durch Konkurrenz oder patriarchale Denkmuster geformt sind, sondern darauf hinweisen, dass es einen anderen Umgang miteinander geben kann: in persönlichen Beziehungen, aber auch in gesellschaftlichen Verhältnissen. Dabei kann  eine Situation entstehen, in der die Utopie des Einen zur Dystopie des Anderen wird. Deswegen glaube ich, dass wir nicht von dem einen utopischen Idealzustand reden können, sondern von Utopien in der Mehrzahl. Mir schwebt eine Art „utopische Föderation“ vor.

Wann hältst du eine Utopie für legitim? Wie würdest du schlechte Utopien verbieten?

Aaron Bruckmiller: Utopien im Allgemeinen sind politische Fantasien. Ich glaube, dass es der herrschenden Utopielosigkeit erst einen Möglichkeitsraum entgegen zu stellen gilt, also eine Erweiterung der politischen Imaginationsfähigkeit. Dort müssen im ersten Schritt Fantasien verhandelt werden und im zweiten Schritt dann über die Umsetzungsmöglichkeiten diskutiert werden. Ich würde erst einmal in der Fantasie die Fantasie von allen Leuten gelten lassen. Theoretisch gesprochen sind Utopien in erster Linie Öffnungen und keine Schließungen.

Was magst du mehr: Utopien oder Revolutionen?

Aaron Bruckmiller: 
Für mich ist das kein Ausschluss und auch keine Geschmacksfrage. Konkrete Utopien zeichnen sich dadurch aus, dass sie einen Umsetzungsanspruch haben, dass sie nicht einfach nur ein abstrakter Entwurf eines Ideals sind, das nie umgesetzt wird. Wenn wir dagegen über Umsetzbarkeit sprechen wollen, dann muss man sich auch über Machtfragen unterhalten, über Transformationsstrategien, über das Verhältnis von Reform und Revolution. Daher wird auch über Aufstände und revolutionäre Brüche geredet werden müssen.

Nimmst du wahr, dass sich gerade mehr Menschen für Utopien interessieren?

Aaron Bruckmiller:
Ja. Und zwar aus guten Gründen. Ich glaube, viele hatten lange die Vorstellung, dass der Entwurf dystopischer Szenarien als Warnung – zum Beispiel vor dem drohenden ökologischen Untergang – es schaffen würde, die Leute wachzurütteln. Das hat sich als Irrtum herausgestellt. Viele Leute lassen sich nicht dadurch mobilisieren, dass etwas noch schlimmer wird. Es führt eher dazu, dass man sich im Hier und Jetzt einnistet und nochmal versucht, es sich möglichst gut gehen zu lassen, solange es möglich ist. Grundsätzlich ist das nicht verwerflich,  aber wenn wir versuchen wollen, im gesellschaftlichen Maßstab etwas zu ändern, dann brauchen wir diese positiven Zukunftsvorstellungen und auch utopische Fantasien, die wieder Möglichkeitsspielräume eröffnen. Dieser politische Imaginationsraum ist heute von Reaktionären besetzt. Das ist eine historische Konstellation, die sehr eigenwillig ist. Reaktionäre, also Leute, die eigentlich dafür eintreten, das Rad der Zeit zurückzudrehen, besetzen plötzlich auch die Vorstellung davon, wie es weitergehen kann. Die AfD redet zum Beispiel immer von den 50er Jahren, als die Welt angeblich noch in Ordnung war, und projizieren da eigentlich etwas nach Hinten, was damals auch nicht den Zuständen entsprach. Dadurch haben sie es aber geschafft, einen Gesellschaftsentwurf zu machen, der für einen bedeutenden Teil in Deutschland offensichtlich wünschenswert ist.

Wie alltagstauglich ist dein Glaube an Utopien?

Aaron Bruckmiller: Es geht darum, konkret utopisches Denken und Handeln wieder möglich zu machen, und das bedeutet für mich auch, dass man bei sich und den einem nahe stehenden Personen anfängt. Wir als Männer können im Umgang mit unseren Freundschaften, unseren Beziehungen, unseren Kindern versuchen, möglichst wenig scheiße zu sein, und das ist sowohl realistisch als auch utopisch. Darüber hinaus wäre ein „Sozialismus im 21. Jahrhundert“ ein guter Start in ein utopisches drittes Jahrtausend. Ich will ja noch etwas von dem großen Spaß erleben!

Du hast in der letzten Sitzung deine Studierenden gebeten, im Futur II zu erzählen, zu welcher Utopie sie in 50 Jahren beigetragen haben werden. Zu welcher Utopie wirst du beigetragen haben?

Aaron Bruckmiller: Ich will in 50 Jahren zu einer Utopie beigetragen haben, in der niemand zu Arbeiten gezwungen werden kann, die er oder sie nicht verrichten will – und jeder und jede ein Recht auf Faulheit hat.

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