von Merlit Vetter
Und ein Blick zurück – weltwärts
Hey du, was machst du so? Jetzt gerade, in deinem Leben. Und was hast du im vergangenen Jahr gemacht? Was hast du nächstes Jahr vor? – Alltägliche, normale Fragen. Menschen fragen einander nach ihren Erlebnissen und Plänen, um Bescheid zu wissen und um zu verstehen. Wenn Leute mich fragen, was ich letztes Jahr gemacht habe, in der Zeit zwischen Schule und Studienbeginn, weiß ich nicht, wie ich das mit Worten beantworten soll.
Ich habe in Ho gelebt.
Ich habe einen entwicklungspolitischen Freiwilligendienst geleistet.
Ich bin an einen Ort geflogen, an dem mich niemand kannte. Habe dort ein Jahr lang gelebt. Ich habe gegessen, gearbeitet, gelernt, gezweifelt, gelacht, geweint, geliebt. Und dann bin ich wieder ins Flugzeug gestiegen und zurückgeflogen.
Das hört sich doch total absurd an, hörte ich immer und immer wieder von der Arzthelferin, die mich wöchentlich mit neuen Impfdosen versorgte. Wie geht sowas? Warum sollte man so etwas tun? Und dann auch noch freiwillig? Aber ich wollte das. Und ich würde es jederzeit wieder tun. Und ich möchte versuchen zu erklären, warum. Und wer weiß, vielleicht möchtest du es ja auch.
Es gibt da dieses Programm, weltwärts
Das fernwehweckende Programm weltwärts für entwicklungspolitische Freiwilligendienste wird vom Bundesministerium für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (BMZ) gefördert. Es ermöglicht Menschen zwischen 18 und 28 Jahren einen Lerndienst in einem Land des globalen Südens zu leisten. Mit dem globalen Süden wird keine geographische Lage bezeichnet, sondern Länder, die sich (häufig begründet durch den Kolonialismus) in einer benachteiligten Position im Weltgefüge befinden. Bei weltwärts geht es darum, ein Jahr im Ausland zu verbringen. Je nach Organisation sind auch Zeiten von sechs Monaten bis zwei Jahren möglich. Der Freiwilligendienst wird von Seminaren der jeweiligen Organisation vor, während und nach dem Auslandsaufenthalt begleitet.
Ein Jahr voller Ungewissheit
Ein Jahr voller neuer Bekanntschaften. Ein Jahr mit einer anderen Sprache in deinem Mund und Ohren. Ein Jahr mit Bananen, die nicht tausende Kilometer bis zu dir gebraucht haben und mit Trommelmusik, zu der dutzende Menschen in bunten Kleidern tanzen. Ein Abenteuer, es wartet auf dich.
So stellt man sich weltwärts vor, so wird es einem häufig vorgestellt.
Und nun – rückblickend – kann ich sagen: Ja, so war das. Ich habe einen neuen Fleck dieser Welt kennengelernt, bin in eine neue Lebenswelt eingetaucht. Das war aufregend und toll. Ich durfte viele wunderschöne Orte sehen und so viele schöne Momente erleben. Ich habe viel Zeit in einer kleinen Privatschule am Rande der Stadt Ho verbracht und bin nachmittags zweimal die Woche ans andere Ende der Stadt zu einem Kinder- und Jugendprojekt gefahren. Ansonsten war ich viel in der Gemeinde involviert, habe eine Idee davon bekommen, wie es ist in einem Land zu leben, in dem über 90 % der Gesellschaft angibt religiös zu sein. Ich habe eine andere Art der Gemeinschaft erlebt, es zu schätzen gelernt zusammen zu kochen und meine Hände mehr zu benutzen. Und ich habe Gemeinsamkeiten mit Menschen entdeckt, die mich vergessen ließen, dass ich 5.000 Kilometer entfernt aufgewachsen bin. Ich habe Freund*innen gefunden. Am Ende hatte ich das Gefühl, mein Zuhause zu verlassen. Es war ein Abenteuer. Aber da ist noch so viel mehr.
Abenteuer. Dieses Wort ist gefährlich
Dieses Wort bedient die Fantasie so sehr, verzaubert etwas und verzerrt die Realität. Ein Abenteuer bedeutet etwas Außergewöhnliches erleben. Das trifft zwar auf meinen Freiwilligendienst zu, aber anders, als ich es gedacht hätte. Natürlich habe ich viel Neues kennengelernt. Ich bin einen Schritt in die Welt hineingegangen, ins Unbekannte. Aber das mindestens genau so große Abenteuer war der Blick zurück. Auf das, was ich meinte zu kennen. Auf mich, meine Familie, die Gesellschaft in der ich immer gelebt hatte, ein neuer Blick auf globale Zusammenhänge. Plötzlich war nichts mehr selbstverständlich, obwohl es das immer gewesen ist. Ich blickte anders auf meine, auf unsere, auf diese Welt.
Etwas Neues zu erleben, eine neue Lebenswelt kennenzulernen ist vor allem deshalb so prägend, weil sie einem bewusst macht, dass die Eigene nicht alternativlos ist.
Weltwärts ist eine Möglichkeit, jungen Menschen Erfahrungen zu ermöglichen und mit Menschen in Kontakt zu kommen. Es gibt viel Kritik an diesem Programm. Und das zurecht. Junge Menschen dafür zu bezahlen, dass sie weit weg ihre Freiheiten ausleben. Und das auf Kosten anderer Menschen, anderer Länder und unter dem vermeintlichen Ziel kulturellen Austausch zu fördern und Grenzen abzubauen. Es ist wichtig, sich damit auseinander zu setzen und diese Kritik ernst zu nehmen. Gerade dann, wenn du dich für einen Freiwilligendienst entscheiden solltest. Es ist eine Menge Freiheit, die mit Verantwortung einhergeht. Aber es ist auch eine riesengroße Chance. Eine Chance für uns privilegierte, junge Menschen, die wir nutzen können. Und die viel Gutes hervorbringen kann.
Für mich hat sie das getan, und ich hoffe und glaube auch für andere Menschen.
Für Edward, einem Schüler aus der fünften Klasse, der weiß, dass Deutschland nicht ist, wie er es im Fernsehen sieht, dass nicht jede*r einen BMW fährt. Für mich, weil ich nun jemanden fragen kann, wenn ich wissen möchte, wie es sich anfühlt eine Sprache zu benutzen, die vor nicht allzu langer Zeit mit Gewalt kam. Für Pat, die weiß, dass es auch weit weg viele Menschen gibt, die an sie denken. Für Nelson und mich, weil uns eine Freundschaft verbindet, die uns glücklich macht. Und auch für eine Vielzahl an Menschen in Deutschland, dessen nun bewusst ist, dass es ein Problem ist über „Afrika“ mit einer Undifferenziertheit zu reden, wie es dem globalen Norden nie einfallen würde über sich selbst zu sprechen. Und hoffentlich auch für viele Menschen, die ich während meines Jahres kennengelernt habe. Weil sie nicht an die Weiße denken, sondern an mich, Merlit. Und weil das nicht mehr das Gleiche ist.
All das ist weltwärts für mich. Und noch mehr.
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