Ein Plädoyer für den Weltschmerz

von Daniel Cohen | Illustrationen und Bilder:  © Lena Leitner   

Die Utopie vor Augen – die Realität im Nacken

Achtung Klischee! Stell dir den idealen Sonnenuntergang an einem einsamen Strand vor.  Du sitzt im warmen Sand, lauschst dem Rhythmus der Wellen und lässt dich von der ganzen Schönheit dieser Welt überwältigen. In Gedanken summst du Louis Armstrongs „What a Wonderful World“. All deine irdischen Probleme geraten in Vergessenheit. Ach, sind es nicht diese Momente, für welche es sich zu leben lohnt?

Doch etwas stört diesen Zustand absoluter Sorglosigkeit. Eine im Meer treibende Plastikflasche kratzt an der Tür deiner aufgebauten Illusion einer perfekten Welt. 

Ein stechender Gedanke an Umweltverschmutzung befällt schlagartig dein noch kurz zuvor so friedliches Bewusstsein. Es ist zwar nicht deine Plastikflasche, aber sie steht doch sinnbildlich für alle Plastikflaschen, die du bisher konsumiert hast.

Hast du diesen unbequemen Gedanken erst den nötigen Raum verschafft, ist es fast unmöglich sie wieder verschwinden zulassen. Noch schlimmer: Du gehst ihnen weiter nach.

 
Herzlichen Glückwunsch! Du wurdest bei deiner Flucht vor der Realität geschnappt und stehst nun genau dieser wieder gegenüber. Dir wird wieder bewusst, dass die Welt nun mal keine Utopie ist. Doch kann man bei diesen Gedanken tatsächlich seelischen Schmerz empfinden? Ja, es ist möglich! Und ja, wie du dem Titel bereits richtig entnommen hast, der Begriff dafür lautet Weltschmerz.

Dieses Wort beschreibt das Gefühl von Trauer und Melancholie, welches wir empfinden, wenn uns die Unzulänglichkeit des Ichs und der Welt bewusst werden. Neben diesem Gefühl macht sich ein weiteres Gefühl in uns breit – nämlich das der Ohnmacht, dass wir an besagter Unzulänglichkeit kaum etwas ändern können.

Welt und Schmerz. Zwei monumentale Wörter, die nur in der deutschen Sprache durch ihre Fusion eine solch mächtige Bedeutung erlangen können. Der Begriff stammt vom deutschen Schriftsteller Jean Paul, welcher ihn im 19. Jahrhundert, dem Zeitalter der Romantik, zum ersten Mal verwendete. Mittlerweile hat sich der Weltschmerz zu anderen bekannten Germanismen wie „Wanderlust“ und „Waldeinsamkeit“ gesellt. Schriftsteller*innen wie Jean Paul, Thomas Mann und Heinrich Heine benutzten den Begriff des Weltschmerzes um den Genuss am Leid zu verdeutlichen.

Weltschmerz ist allgegenwärtig, aber irgendwie auch wieder nicht

Doch der Begriff kann auch eine noch größere Bedeutung einnehmen. Anstatt wie damals lediglich den Genuss am Leid zu verkörpern, könnte er heute auch als Alltagsbegriff für das Leid am großen Ganzen verstanden werden. Nämlich immer dann, wenn wir an den bestimmenden Themen unserer Zeit in besagter Weise leiden. Klimakrise, Globalisierung und das Erstarken rechtspopulistischer Politik zum Beispiel.

Trump verlässt das Pariser Klimaabkommen – Weltschmerz. 
Ein Schiff mit hunderten Geflüchteten versinkt im Mittelmeer – Weltschmerz. 
Die AFD erhält immer mehr Zuspruch – Weltschmerz. 

© Lena Leitner   

Wir leiden mit, selbst wenn wir manchmal nur indirekt oder auch gar nicht betroffen sind. Durch das globale Nachrichtennetz können wir uns heutzutage über jeden Vorgang in der Welt informieren. Dadurch bekommen wir umso häufiger mit, sobald eine Entscheidung entgegen unserer Ansichten getroffen wird. Und mit jeder neuen Meldung wird wieder in unsere Weltschmerzwunde gestochen. Heute ist der Weltschmerz fast vollständig aus dem gebräuchlichen Wortschatz verschwunden. Aber das Gefühl, welches er in der Moderne beschreiben kann, sollte in Anbetracht des kritischen Zustands der Erde und den düsteren Zukunftsaussichten bei der gesamten Weltbevölkerung sehr präsent sein. Bei der gesamten Weltbevölkerung? Nein, der moderne Weltschmerz ist wohl ein Luxusproblem. Denn Menschen, die existentielle Sorgen haben, beschäftigen sich weniger mit den globalen Problemen unserer Zeit.

Weltschmerz = Traurigkeit ?

Die Personen, die für einen solchen Weltschmerz jedoch empfänglich sind, werden sich zu seinen Ursachen und den Fragen, die der Weltschmerz aufwirft, häufiger Gedanken machen. Sie werden sich über Auslöser, Einflüsse und Folgen informieren und so unvermeidlich zur Erkenntnis gelangen, dass der Mensch selbst, mit seiner Gier und Bequemlichkeit, die Wurzel allen Übels ist.  

Hat man dieses Bewusstsein erst erlangt, kommt man unweigerlich zu den Fragen: 
Wäre die Welt ohne mich besser dran? Muss ich mich schämen zu leben?

Denn wenn der Mensch die Ursache ist, wäre jeder Mensch weniger doch auch gleich ein Problem weniger. Diese Schlussfolgerung ist natürlich kein Argument für den nächsten Genozid, aber sie gibt Anlass, um über die eigene Existenz im weltlichen Geschehen mal genauer nachzudenken. Aber inwiefern bringt uns das weiter? Man sollte doch annehmen, dass alle Betroffenen solcher Überlegungen einer tiefen Traurigkeit verfallen oder zumindest zu unverbesserlichen Pessimisten werden. Schließlich hat niemand eine weiße Weste, egal wie gerne man sich auch als Weltretter*in aufspielen möchte. Sobald wir in dieses System hineingeboren werden, machen wir uns bereits unschuldig schuldig. Aber Ohnmacht und Pessimismus lassen uns auf dem globalen Spielfeld zu apathischen Spielfiguren werden. Suizid würde uns gar direkt aus dem Spiel nehmen. Deswegen leben die meisten von uns nach dem Prinzip der Verdrängung. Wie soll man diesen Wahnsinn denn auch aushalten?

© Lena Leitner   

Beide Varianten aber hindern uns daran genau die Probleme anzupacken, die unseren Weltschmerz überhaupt verursachen.
Abgesehen davon hat kein Mensch die Pflicht, die Schuld der gesamten Menschheit als psychische Last auf den eigenen Schultern zu tragen. Schließlich ist jede*r nur ein kleines Zahnrad im Getriebe – aber anders als jedes andere Zahnrad, eines mit Selbstbewusstsein.

Weltschmerz = Motivation !

Ein*e jede*r sollte sich allerdings dazu verpflichtet fühlen, die Schuld zu tilgen. Deshalb starte ich den Aufruf Weltschmerz nicht als etwas Negatives zu betrachten, das unserem persönlichen Glück im Wege steht. Im Gegenteil, wir sollten ihn als Kompass unseres sozialen und ökologischen Gewissens akzeptieren. Als unseren mit Moral betriebenen Motor, der uns immer weiter anspornt, um gegen die Missstände dieser Welt anzugehen. Oder um es mit den Worten aus H. G. Wells Werk „Die Zeitmaschine“ auszudrücken: „Wir werden auf dem Schleifstein des Schmerzes und der Not scharf gehalten“. Weltschmerz ist also ein Indikator dafür, dass du ein ehrlich empathischer Mensch bist. Dafür, dass dir diese Tugend in einer von Egoismus überfluteten Welt noch nicht abhandengekommen ist, darfst du dir auch ruhig mal selbst auf die Schulter klopfen.

Falls du das nächste Mal im Weltschmerz versinken solltest und er dir trotzdem noch unerträglich erscheint, versuche dir einen Anker zu suchen. Das können Familie, Freunde oder eben jene kleinen perfekten Momente sein, selbst wenn sie nicht für die Ewigkeit gemacht sind. Im Idealfall aber solltest du dir den Schmerz direkt zu eigen machen, indem du ihn in frische Energie umwandelst. Diese kannst du für das Kreieren einer besseren Welt verwenden, um in Zukunft weniger Weltschmerz zu verspüren. Denn vielleicht ist deine Ohnmacht gar nicht real, sondern auch nur eine Illusion? Lasst uns den Begriff Weltschmerz wieder zum Leben erwecken!

Denn kein anderer Begriff könnte den grünen und aufgeklärten Zeitgeist besser verkörpern und somit für das emotionale Empfinden einer ganzen Generation stehen. Und wäre Louis Armstrong ein Teil unserer Generation gewesen, würden seine Texte bestimmt weniger euphemistisch ausfallen.

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