Mit 600 Euro und einer Frage im Kopf durch die Welt
Ich packe meinen Koffer und dann packe ich alles wieder aus und hole meinen Rucksack aus dem Schrank. Ein Notizbuch und meine Kamera, 600 Euro und ein Busticket, passen da auch gut rein. Im Hintergrund läuft portugiesischer Rap und ich verstehe kein Wort. Als ich dann meinen Rucksack aufsetze, geht es los…
Aber das ist gelogen, eigentlich begann es schon viel früher und war gar nicht so einfach. Damals im Februar, als noch keine Blätter an den Bäumen und sehr viel Fernweh in meinem Kopf war, da habe ich mich bei zis beworben. Zis ist eine Stiftung für Studienreisen, welche seit 60 Jahren junge Menschen bis 21 Jahren bei ihrer Reise finanziell und ideell unterstützt. Für vier Wochen, ohne Flugzeug, allein und mit nur 600 Euro sind die Bedingungen, um zu einem Thema deiner Wahl auf die Reise zu gehen. Dabei werden die Stipendiat*innen von einer der reiseerfahrenen 30 Mentor*innen auch bei der Planung und Konzeption unterstützt. Schon 2000 Menschen reisten so, oft viel länger als einen Monat, durch die Welt. Ob nach Ungarn zur Rolle der Frau, zur Filmszene in Frankreich, nach London zu Reflexionen der Kolonialgeschichte oder nach Finnland zum Thema Sauna – der Fantasie sind kaum Grenzen gesetzt.
Mit meinem Thema Poesie wollte ich nach Portugal aufbrechen. Neugierig kontaktierte ich Ende März, nach der ersten Zusage von zis, Künstler*innen, Aktivist*innen und Aussteiger*innen um sie zu fragen, was dieses abstrakte unverschämt schöne Wort für sie bedeutet.
Mindestens 73 Mails habe ich monatelang geschrieben an alle Menschen, deren Ideen ich im Internet finden konnte. Darauf kamen wenige Antworten, einige Weiterleitungen und ein paar sehr freundliche Einladungen.
Während des Maitreffens in Schloss Salem begegnen sich Mentor*innen, Gereiste und zukünftige Reisende. Sie besuchen Workshops dazu, wie man Ansprechperson findet, ein Reisetagebuch schreibt und erzählen natürlich ganz viele Geschichten. Surreal schwebte dabei die Vorstellung, dass auch ich bald für einen Monat alleine unterwegs sein würde, durch den Raum. Aber dann wurden meine Fantasien zum Glück endlich von der Realität überschrieben.
1.Woche
Im Bus, für 40 Stunden, durch drei Länder, Zwischenstation in Paris. Vor dem Fenster verschiebt sich die Normalität der Autobahnen langsam hin zu Pinien, die im Sonnenlicht leuchten. Dann bin ich angekommen in Porto, zu Besuch bei Vasco, unterwegs mit Pierre, einem Buchhändler aus Paris, im Gespräch mit Marina in dem selbstverwalteten vegetarischen Cafe und mit Juan in einem Hausprojekt. Blickwechsel und Brotkrumen, die wir den Tauben füttern, die alte Frau mit dem Tuch um die Haare auf der Bank neben mir und ich. Eine Bestandsaufnahme meiner Gefühle: Überforderung, Neugierde, Dankbarkeit. Und dann im Zug nach Lissabon am Tag danach, lese ich Nachtzug nach Lissabon erneut und grinse ekstatisch über die ironische Schönheit der Realitäten.
2. Woche
Wenn man während des Sonnenuntergangs mit dem Schiff über den Tejo fährt, hört man die wirren Geräusche der Stadt immer leiser werden. Wenn man durch die Gassen hinauf zur nächsten Eckkneipe in Bairro Alto läuft oder wenn man auf einem vollen Platz ein Volksfest feiert, dann ist diese Poesie spürbar. Wenn Fernanda, dann von ihrer Kunst erzählt und Pedro von seinen Kompositionen, Maria vom Übersetzen und Sarah vom Kochen, dann explodiert diese Reise vor Sinn und Augen leuchten. Dann ist alles rot – gold – azur und die Fragen finden endlich ihren Raum.
3. Woche
Die Wellen branden an die Klippen, in der Sonne liegend vergisst man fast Mensch zu sein. Die Hitze und die Brise, ist alles was ich spüre. Wenn Gedichte einen Ort erschaffen könnten, hat sich Nuno einmal gedacht und dann den Ort selbst gebaut. Hier, im Nationalpark bei Sessimbra, mit einem Baumhaus und einigen Caravans. Die Philosophie ist einfach, es ist schon genug da, es geht nur darum es auch zu fühlen.
4. Woche
In der Algarve in den Hügeln hinter Tavira gibt es keine Straßennamen und kein Netz. Dafür ein Steinhaus und einen Permakulturgarten. Hier wohnt Victoria und begrüßt jede Woche Gäste, die mithelfen zu gestalten und Unkraut zu jäten. Es gibt eine Hängematte zum auspendeln, verarbeiten und ordnen und einen großen Wasserfall in der Nähe. 60 Stunden und einmal um sich selbst herum sind es zurück in den Alltag. Es regnet als ich in Bordeaux ankomme, auf dem Bahnhof lerne ich vier Mädchen kennen und irgendwie kommen wir ins Gespräch und es gibt neue Fragen und so geht es einfach immer weiter. …
Aber das waren nur nostalgische Splitter. Es sind keine Orte, es sind immer die Menschen und viel mehr als diese Worte ist es das Gefühl dazwischen, das haben sie schon beim Maitreffen gesagt. Aber es klingt eben ein bisschen zu schön für die Realität: Geld für das Reisen bekommen, einfach loszufahren. Deshalb habe ich es selbst ausprobiert und sie sind wahr, diese pathetischen Phrasen. Mein Tagebuch, Projektbericht und das Quittungsbuch, welche ich der Stiftung nach der Reise zu schicke, sind der Beweis. Diese Dokumente werden Teil einer Ausstellung, welche auf dem Maitreffen im nächsten Jahr, neue Reisende hoffentlich zum Fantasieren anregt.
Ich verteile mich in meinen Geschichten und in meinem Kopf schwirren Bilder. Im Hintergrund läuft ein neues portugiesisches Lied .
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