von Paul Stegemann
Heute vor 75 Jahren kapitulierte die deutsche Wehrmacht vor den Siegermächten des Zweiten Weltkrieges. 40 Jahre später bezeichnete der Bundespräsident Richard von Weizsäcker dieses Datum als „Tag der Befreiung“. Das heutige Selbstverständnis der deutschen Erinnerungsweltmeister baut auf dieser Idee. Nur fehlt dabei jegliche Selbstreflexion.
„Der 8. Mai muss ein Feiertag werden!“, fordert die jüdische Holocaustüberlebende Esther Bejarano und über 100.000 Menschen unterschreiben ihre Petition. Die 95-jährige Vorsitzende des Auschwitz-Komitees Deutschlands wandte sich bereits im Januar diesen Jahres in einem offenen Brief an den Bundespräsidenten und die Bundeskanzlerin. Der 8. Mai wird heute in Deutschland meist als „Tag der Befreiung“ bezeichnet.
Weizsäckers Täter-Opfer-Gleichsetzung
Das Narrativ eines „Tags der Befreiung“ hat der ehemalige Bundespräsident Richard von Weizsäcker geprägt. In seiner bis heute viel diskutierten Rede zum vierzigsten Jahrestag des Kriegsendes predigte er: „Der 8. Mai hat uns alle befreit von dem menschenverachtenden System der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft.“
Auf diesem Verständnis der „Befreiung“ von „uns allen“ baut die gesamte deutsche Erinnerungskultur auf: Weizsäcker versichert uns, dass die Deutschen von den Faschisten befreit und wieder zivilisiert wurden. Die barbarische Gewaltherrschaft und industrielle Vernichtung von Millionen Menschen werden in dieser Logik getrennt von der deutschen Bevölkerung betrachtet.
Dabei unterliegen wird allerdings dem staatswissenschaftlichen Anfängerfehler, die Verwaltung und die Regierung eines Landes als ein abgekapseltes Subsystem von seiner Bevölkerung zu verstehen. Tatsächlich stehen die Bürger*innen mit den Staatsorganen in einem interdependenten Verhältnis mit personellen Überschneidungen und bilden gemeinsam den Staat.
Auf dieses verdrehte Geschichtsbild folgte eine Erinnerungspolitik, die sich auf die Erzählung der Befreiten konzentriert. Dadurch identifizieren wir – die Nachfahren der NS-Täter*innen – uns mit den „befreiten Opfern“.
Erinnerungsweltmeister leiden unter Amnesie
Dieses kollektive Verständnis einer „befreiten Nation“ gepaart mit der Selbstgefälligkeit eines „erinnerungspolitisch aufgeklärten Volks“ verfälschen die Realität. Wir wähnen uns in einem aufgewachten Zustand, indem wir uns kritisch mit der eigenen Vergangenheit auseinandersetzen würden. Dabei romantisieren wir die eigenen Familiengeschichten, um uns emotional von diesen menschenverachtenden Täter*innen abzukapseln, und die individuelle Verantwortung aus der Schoah zu verdrängen.
Bereits 2002 erkannten die Autor*innen der Studie „Opa war kein Nazi“, dass in den Familienlegenden meist die Leiden der eigenen Angehörigen und Mythen über Widerständler dominieren. Die MEMO-Studie des Instituts für interdisziplinäre Konflikt- und Gewaltforschung der Universität Bielefeld erhebt seit 2018 jährlich die Folgen dieser Entwicklung. 2020 glaubten 32,2% der Befragten, dass ihre eigenen Vorfahren zum Widerstand gegen das NS-Regime gehörten. Mehr als Zweidrittel meinten, ihre Vorfahren seien nicht unter den Täter*innen gewesen. Und 35,8% erklären ihre Angehörigen gar zu Opfern des Nationalsozialismus. Diese Zahlen sind mit historischen Fakten nicht vereinbar: Tatsächlich gehörten schätzungsweise gerade mal 0,2% der Deutschen zum Widerstand gegen das NS-Regime.
Weizsäckers Verständnis von einem „Tag der Befreiung“, an dem wir „alle von dem menschenverachtenden System der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft“ befreit wurden, ist schlicht eine Verdrehung der Tatsachen. Sie funktioniert leider so gut, dass wir diesen Glauben abseits jeglicher rationaler Betrachtungen der Statistiken weiter pflegen.
Deutschland wurde nicht vom Faschismus befreit. Im Gegenteil: Die deutschen Bürger*innen bildeten den Körper des Nationalsozialismus. Dem sollten wir uns bewusst sein. Wir, das sind die Bundesrepublik und ihre Bürger*innen als Nachfahren der Täter*innen.
Diese Niederlage müssen wir feiern!
Opa war höchstwahrscheinlich ein Nazi und die Nachkriegsgeschichte Deutschlands ist geprägt von einer nachlässigen Entnazifizierung der Behörden, Parteien und Gerichte. „Plötzlich gab es keine Nazis mehr, damals, 1945 – alle waren verschwunden“, schreibt auch Esther Bejarano in ihrem Brief. Der Geist des Faschismus, Antisemitismus und Menschenhass findet seinen Weg durch die deutsche Geschichte auch in das Jahr 2020. Er zeigt sich in Parlamenten und rechten Terrornetzwerken, auf Todeslisten und durch rassistisch motivierte Taten.
Für die zivilisierte Welt bezeichnet der 8. Mai die Erinnerung an den Sieg über Nazi-Deutschland. Die Menschen, die verfolgt wurden und unter den Nationalsozialisten dem sicheren Tod geweiht waren, wurden 1945 befreit. Daher hat der Nazi-Opa von heute ausnahmsweise Mal Recht, wenn er meint, dass dies für Deutschland kein Freudentag war: Die Deutschen wurden besiegt. Und genau das sollten wir jedes Jahr feiern.
Der Artikel bringt es auf den Punkt, Kompliment. Dennoch kann und sollte man aus meiner Sicht vom Tag der Befreiung sprechen, denn es war auch die Befreiung von einem „System“, das die deutschen sich zu eigen gemacht haben und insofern eine Art Befreiung von oder vor sich selbst. Auf jeden Fall ist es auch eine Befreiung für die Zukunft nach 1945, auch wenn die Aufarbeitung ein Mythos war uns ist.