von Jale Pakhuylu | Bild: Nora Boiko
Warum das Modewort der letzten Jahre Bauchschmerzen und Fremdscham verursacht
Kaum eine*r kann sich mittlerweile vor der spirituellen Welle, die unsere Generation Y zu weiten Teilen überrollt, retten. Achtsamkeit, persönliche Weiterentwicklung und Empowerment sind die großen Schlagworte, die diese Welle mittreibt. Befasst man sich näher mit der Thematik, wird einem das Wort „Selbstliebe“ – die Patentlösung für alles – förmlich entgegengeschrien: „Wenn du eine erfüllte Partnerschaft wünschst, musst du dich zuerst selbst lieben.“ „Wenn du dich selbst liebst, dann brauchst du nicht mehr abzunehmen.“ „Wer sich selbst liebt, ist sich selbst der beste Freund.“ „Wenn du dich selbst lieben würdest, würdest du ständig wundervolle Dinge anziehen und dein Leben wäre nicht mehr so beschissen.“
Wenn du auch ein Mensch bist, der sich schon mit persönlicher Weiterentwicklung auseinandersetzt, wirst du wahrscheinlich ebenso wie ich schmunzelnd vor deinem Rechner oder Smartphone sitzen und dich an die Überforderung erinnern, die solche Sätze anfangs in dir ausgelöst haben.
Als ich vor einiger Zeit entschied, dass ich aus meiner „das Leben ist immer gegen mich“-Haltung herauskommen und in das „Ich erschaffe mir mein Traumleben“-Mindset hineinwachsen möchte, fühlten sich die oben genannten Aussagen wie kleine Messerstiche an. Schon allein bei dem Wort „Selbstliebe“ stieg ein Schamgefühl ohne gleichen in mir auf. Ich befand es zutiefst befremdlich, wie man so egoistisch sein konnte, sich selbst bedingungslos lieben zu wollen. Ich assoziierte Hippie-Sekten mit diesen Aussagen, die im Kreise am Feuer sitzen und sich bei einer Rauchpfeiffe einer Gehirnwäsche unterziehen. Oder Narzissten, die mit toxischem Blick ihre Spiegelbilder küssen.
Meine erste Reaktion war natürlich Ablehnung. Ich stieß die Behauptung, ich müsse mich selbst lieben, von mir weg und ging den Weg meines Egos trotzig weiter. Ich schaute weiterhin schamerfüllt anstatt liebevoll in den Spiegel. Ich verurteilte mich selbst für jeden kleinen Fehler. Ich hielt lieber den Mund, anstatt meine Meinung auszusprechen. Bei jeder Auseinandersetzung mit anderen Menschen gab ich nach, um bloß wertgeschätzt zu werden. Zu hundert Prozent war ich in dem „Wenn…, dann“-Dilemma gefangen. Wenn ich abnehme, DANN liebe ich mich. Wenn ich die Klausur mit einer guten Note bestehe, DANN liebe ich mich. Wenn ich allen anderen gefalle, DANN liebe ich mich. Wenn ich irgendwann in Zukunft besser bin als jetzt in diesem Moment, DANN liebe ich mich – hoffentlich.
Der Witz und gleichzeitig das Traurige an dieser Haltung ist: Es wird nie ein „DANN liebe ich mich“ geben. In dieser Negativspirale ist der einzige Weg der Weg nach unten. Durchbrechen kann man ihn nur, indem man aktiv eingreift.
Bekanntlich ist ja Einsicht der erste Schritt zur Besserung: Der kleine Samen, der sich durch aufploppende Botschaften über Selbstliebe, die mir immer wieder vor die Füße fielen, gesät wurde, begann langsam zu keimen. Nach einigen Wochen des Hinsehens, der Konfrontation mit meinem Inneren in Form von Meditationen, konnte ich nicht mehr vor der Erkenntnis weglaufen, dass sich ein riesiger Berg an selbstzerstörerischen Gedanken in meinem Unterbewusstsein tummelten.
Liebe dich selbst und du bist erst fähig, andere zu lieben.
Stimmt das so? Ich schaute in die Vergangenheit, in meine alten Beziehungen. Mich selbst geliebt habe ich, so weit ich zurückdenken kann, eigentlich nie. Vielleicht noch im Kindergarten. Ich bemerkte, dass es dennoch Dinge in meinem Leben gab, in denen mein Selbstwertgefühl eigentlich schon früh ausgereift und verfestigt war. Nicht umsonst wurde mir immer unterstellt, ich sei ja so selbstsicher und von mir überzeugt. Ich erkannte, dass gerade dieses äußere Von-sich-überzeugt-sein meine eigene Schutzhaltung war, um mein jämmerliches Selbstwertgefühl zu überdecken. Nach Außen tat ich selbstsicher, gar dominant, kritisierte Menschen ohne Rücksicht. Ging es aber um mich, erlitt mein Herz jedes Mal schwere Verletzungen, die ich krampfhaft zu verstecken versuchte.
Ich redete mir ein, dass ich stark sein muss. Dass es falsch ist, Schwäche zu zeigen. Dass ich nur respektiert werde, wenn ich unerschütterlich bin. Meinen Kummer fraß ich in mich hinein. Auch mein Körper zeigte mir somatisch in regelmäßigen Abständen, welche Selbstzerstörungsmechanismen am Laufen waren. Wenn das Fass dann doch mal voll war, konnte ich meine Tränen für Stunden nicht mehr zurückhalten, was gerade für mein Umfeld große Schwierigkeiten und Überforderung bedeutete. Wirklich was an meiner Situation ändern konnte ich jedoch nicht.
Gerade in meinen vergangenen Beziehungen spielten sich eine Reihe von Vorwürfen ab, von Rückzug und Verletzung. Habe ich also wirklich geliebt, oder habe ich vielmehr versucht, die Lücke in meinem Herzen von meinem Partner schließen zu lassen?
Langsam dämmerte mir, nach Monaten der Reflexion, wie sehr ich gegen mich selbst arbeitete. Alle inneren Programme waren darauf ausgerichtet, mich selbst klein zu machen, meine Nicht-Liebenswürdigkeit zu reproduzieren. Dies erhielt ich natürlich auch als Antwort in meinem Umfeld.
Frage dich mal selbst: Wie hoch ist der Anteil deiner Gedanken, die in Dauerschleife gegen dich arbeiten?
Ich kann dir versprechen, wenn du dich traust, die schmerzhaften Gedanken, die mit Erinnerungen gefüllt in deiner Seele hocken, anzusehen und durch den Schmerz hindurchzugehen, wirst du in der Lage sein, deine innere Ausrichtung zu ändern. Natürlich wird es wehtun. Natürlich wirst du dich mit deiner Kindheit, deinen Eltern, deinen Erinnerungen und Erfahrungen auseinandersetzen, was viel Zeit in Anspruch nimmt. Natürlich wirst du nicht von Heute auf Morgen alle Programme umschalten können. Ich verspreche dir aber, es wird von Tag zu Tag leichter. Du wirst dein Inneres aufräumen, indem du deine negativen Überzeugungen wie eine Zwiebel pellst: Haut für Haut, Schmerz für Schmerz, Erinnerung für Erinnerung, Glaubenssatz für Glaubenssatz. Die oberen Schichten werden leichter zu lösen sein als diejenigen, die sich seit klein auf in dir verankert haben und mit dir gereift sind. Und je mehr Schichten du gelöst hast, desto mehr Raum ist da endlich für diese Selbstliebe von der alle sprechen.
So cheesy es auch klingen mag: Erst wenn leerer Raum in deinem Inneren zur Verfügung steht, findest du den Zugang zur Liebe. Erst dann erkennst du, dass du eigentlich immer in Liebe warst. Erst dann erkennst du, dass du der Mensch warst, der dich selbst am wenigsten liebenswürdig gefunden hat. Erst dann erkennst du, dass du der Mensch warst, der am meisten gegen dich gearbeitet hat. Erst dann hast du die Möglichkeit, dir zu vergeben.
Und plötzlich, aus dem Nichts, erscheint dir die Selbstliebe und reicht dir leise die Hand. Es liegt an dir, ob du sie an der Hand nimmst und in dein Inneres einlädst.
Lehnst du Dinge im Außen ab? Dann frage dich immer, was es mit dir zu tun hat, dass du diese Ablehnung fühlst. Alles, was wir von uns selbst denken, projizieren wir im Außen. Fühlst du Hass, Wut oder Schmerz, richten sich diese Gefühle meist gegen dich selbst. Sieh hin, welche Gefühle über dich selbst in deinem Inneren abgelehnt und unterdrückt werden und traue dich, sie anzunehmen und in positive Gedanken zu transformieren.
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