Scheitern im Auge der Betrachterin. Oder: Zu spät für Happy Endings.

von Farah Beitragsbilder: Farah

Ich besuche meine Oma im Pflegeheim. Sie ist noch nicht tot, aber auch nicht mehr ganz lebendig. Es ist Spätsommer. Nur für diesen Besuch habe ich eine Bluse angezogen, von der ich glaube, dass sie ihr früher einmal gefallen hätte. Mir gefällt sie nicht und ich schwitze. Sobald ich zu ihr ins Zimmer komme, wird mir schlecht und meine Beine fühlen sich schwer an. Es riecht süß und klebrig, aber nicht angenehm.

Wie sie da in ihrem Bett liegt, ganz verdreht, den Kopf nur halb auf dem Kissen und die Decke am Fußende zerknüllt, könnte sie ein bisschen Trost und Zärtlichkeit gut gebrauchen. So allein ist sie hilflos. Und die Hilflosigkeit erfüllt den Raum mit Angst. Sie ruft um Hilfe, weil sie kurz davor ist, ins Bett zu machen. Aber eigentlich ruft sie um Hilfe vor sich selbst, weil sie es nicht aushält, mit sich allein zu sein. Weil da nichts ist, außer dem Kummer und der leisen Ahnung, dass es nicht gut war, wie es war. Und wenn da niemand ist, um dir zu vergewissern, dass es doch gut war, dann kommt die Müdigkeit und die Schuld. Und die trägt sich alleine nicht gut. Auch ich bin müde, auch ich brauche Zärtlichkeit. Sie nimmt die Hände zwischen die Beine und zieht die Knie an, um das Unvermeidliche noch einen kurzen Moment hinauszuzögern.

Hier teilt sich die Welt. In die, die den Code für den Fahrstuhl kennen und die, die ihn sich nicht mehr merken können. Jemand schiebt eine Frau im Rollstuhl den Gang entlang, ich sehe sie durch die offene Tür. Sie weint ganz laut, so laut, wie es sonst nur Kinder tun.

Meine Oma trägt einen Schlafanzug, einen Einteiler, der aussieht wie ein Strampler.  Er ist weiß, hat kurze Ärmel und obwohl er sicher frisch gewaschen ist, sieht er genauso alt aus wie sie. Wie viele haben in diesem Zimmer schon in langen Sommern auf eine kühle Nacht gewartet?

Ich hatte mir vorgenommen ein wenig zu bleiben, hatte gedacht, es könnte schön sein. Ich wollte es nicht schlimm finden. Dachte, vielleicht würde sie sich freuen, dass ich da bin. Dachte, es wäre mir wichtig, dass es schön ist, für sie. Aber es ist egal, ob ich hier bin; für sie könnte ich genauso gut eine andere sein.

Jetzt wo ich da bin, will ich nicht bleiben, weil ich es doch schlimm finde. Ich will umdrehen und weglaufen, ganz weit. Nach draußen, weg vor dem, was nicht gewesen ist. Und weg vor dem Ende der Hoffnung. Darauf, dass es noch anders werden könnte.

Wo warst du all die Jahre? Meine Mutter, deine Tochter, musste dir verzeihen. Weil du ihre Mutter bist. Aber ich muss das nicht, und aus Liebe zu ihr bleibe ich wütend auf dich und schäme mich nicht, dir ins Gesicht zu sagen: „Ich verzeihe dir nicht“.

Auf dem Stuhl neben dem Bett liegt Kleidung. Ich nehme sie hoch und will sie zur Seite legen, um mich hinzusetzen, nur ganz kurz. Nur um nicht feige zu sein. Um sagen zu können, dass ich wirklich hier war. Ich finde keine Ablage und darum lege ich sie doch wieder zurück auf den Stuhl und gehe. Ganz schnell, schaue nicht noch einmal zurück. Niemand sieht mich, niemand wird sich an diesen Besuch erinnern, nur ich.

Wie viel von dir bin ich? Deine Haare habe ich, und noch mehr? Nichts haben wir voneinander gelernt. Nie haben wir uns wirklich gekannt. Nie hast du mich bei meinem ganzen Namen genannt.

Und trotzdem muss ich weinen, ganz laut, so laut wie es sonst nur Kinder tun.

Irgendwas mit Scheitern coming soon.

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