Leiser Rausch und laute Stille – Was passiert, wenn wir nicht mehr feiern.

 Text von: Emily Bader | Illustrationen von: Emily Bader

Der Bass wummert in meinen Ohren. Die vibrierenden Schallwellen versetzen meinen Körper in Bewegung. Für einen kleinen Moment kommt es mir so vor, als müssten sich meine Arme und Beine erst wieder daran erinnern, was es eigentlich bedeutet zu tanzen. Diese einst so vertrauten Bewegungen scheinen in Vergessenheit geraten zu sein in den Wochen und Monaten der Stille. Um mich herum eine wogende Menschenmasse. Gliedmaßen fliegen an mir vorbei. Nur knapp verfehlt ein Ellenbogen meine Nase. Vor Freude strahlende Gesichter mit genüsslich geschlossenen Augen. Es riecht nach Schweiß, verschüttetem Bier und Zigaretten.

Endlich wieder feiern – das erste Mal seit Beginn der Pandemie. Die hohe Impfquote und Open-Air-Veranstaltungen ermöglichen mir und den anderen Menschen um mich herum für ein paar Stunden die Illusion von „Normalität“ aufrechtzuerhalten – solange die Inzidenzahlen es noch erlauben.

Doch die Annahme, dass alle Menschen hier gerade ihr erstes Feiererlebnis seit Monaten machen, ist vermutlich ebenfalls eine Illusion. Denn neben Veranstaltungen im Rahmen coronaspezifischer Sicherheitsmaßnahmen machen seit Beginn der Pandemie illegale „Corona-Partys“ Schlagzeilen. Seit Monaten widersetzen sich Menschen Verboten und schlagen Sorgen um Gesundheitsrisiken und Geldstrafen in den Wind, um auch in Zeiten eines global grassierenden Virus nicht auf gemeinsame Feier- und Rauscherlebnisse verzichten zu müssen.

Warum?

„Der Rausch erzeugt ein Gefühl der Einheit zwischen dem Ich und der Welt.“

Ist es ein dem Menschen inhärenter Wesenszug, sich regelmäßig nach gemeinsam erlebten Rauschzuständen zu sehnen? Brauchen wir diese als Gesellschaft und Gemeinschaft?

Oder sollten wir uns heutzutage ohnehin mehr im Allein-Sein üben? Können wir lernen, von Stille und Isolation zu profitieren, um an einem allein verbrachten Samstagabend nicht mehr in „Fomo“ – also der „Fear of missing out“ – zu versinken?

Antworten auf diese Fragen wissen Claudia Kusalanandi Keller und Dr. Sacha Szabo.

Claudia Keller arbeitete in der internationalen Messeorganisation und als Stewardess, bis sie sich entschied, von 2007 bis 2020 als buddhistische Nonne zu leben. Unter dem Namen Kusalanandi verbrachte sie akkumuliert zweieinhalb Jahre schweigend bei über 10.000 Stunden Meditation. Heute ist sie 51 Jahre alt und amtsgeprüfte Heilpraktikerin für Psychotherapie sowie buddhistisch-psychologische Beraterin. Wer sich für diesen Lebensstil entscheidet, kehrt auch Partys und drogeninduziertem Rausch den Rücken zu. Allerdings lehnt Claudia Keller diese Erfahrungen nicht grundsätzlich ab. Für sie gilt: Es kommt immer auf die Intention hinter dem Erlebten an. „Mache ich es, um der Welt zu entfliehen oder um meinen Geist zu trainieren und damit mein spirituelles Potenzial zu entwickeln?“. Dasselbe gilt für sie auch hinsichtlich der Praxis der Meditation. Auch hier sei es möglich, sich in einer Art Eskapismus zurückzuziehen.

Dr. Sacha Szabo ist Kultursoziologe. In seiner Forschung beschäftigt er sich mit außeralltäglichen Phänomenen, unter anderem mit Festplätzen und Vergnügungsorten. Im Jahr 2011 publizierte er „Der Ballermann. Das Buch“ und stellte fest: „Ballermann ist mehr als ein banales Besäufnis.“ Für ihn sind Feier- und Rauscherlebnisse ein wichtiger Bestandteil des menschlichen Erlebens.

„Der Rausch, vielleicht sogar unabhängig durch welches Medium er ausgelöst wird, erzeugt eine Art Einheit zwischen dem Ich und der Welt“, erklärt Szabo. „Es ist ein Gefühl des „Einsseins“, die Trennung zwischen „Ich“ und der Umwelt sei in diesem Zustand gewissermaßen geheilt. Außerdem erzeuge diese Einheit das Gefühl einer „ewigen Erlebnisgegenwart“. Das heißt, dass alltägliche Sorgen um Arbeit, Familie und Geld, aber auch existenzielle Ängste verschwinden. Die eigene Verletzlichkeit und Sterblichkeit werden in einem Rauschzustand eher akzeptiert, so der Soziologe.

Handelt es sich bei dem Bedürfnis nach Rausch also lediglich um das Bedürfnis nach Zerstreuung in der Flucht vor den Alltagssorgen einer kapitalistischen Leistungsgesellschaft? Szabo erklärt, ein Merkmal des Rausches sei in der Tat die Verschwendung. Es gehe darum, sich nutzlos zu verausgaben, was eine Besonderheit der menschlichen Kultur darstelle. Er beschreibt den Rausch als „subversive Praktik“, eine Handlung, in der eine bestehende soziale Ordnung in Frage gestellt wird. Gesundheit oder „Fitness“ würden heutzutage häufig zu einem Merkmal der Leistungsbereitschaft stilisiert. Der Rausch stelle hier einen Gegenentwurf dar und erlaube dem Individuum sich Souveränität über sein Leben zuzugestehen.

Doch anstatt sich von sich selbst zu entfernen und tatsächlich zu „zerstreuen“, könne es laut Szabo auch passieren, dass der Mensch sich im Rausch und im Feiern erst wirklich selbst begegnet. „Die Orte, an denen der Rausch zugelassen wird, können wir mit Hilfe von Foucault als Heterotope beschreiben“, erklärt er. Innerhalb dieser herrsche eine Eigengesetzlichkeit, welche sich dadurch auszeichne, dass dort ein „zivilisatorischer Regress“ stattfinde. „Die Selbstkontrolle ist verringert, das triebhaft Lustvolle wird an diesen Orten zugelassen.“ Szabo zufolge ist es wichtig für den Menschen, sich mit dieser eigenen Triebhaftigkeit zu konfrontieren, da es sich hierbei um einen Teil der Natur des Menschen handle. Diesen Aspekt des eigenen Selbst zu erfahren, helfe dem Menschen dabei, sein Dasein als real zu spüren.

Für eine Weile der „Leistungsgesellschaft“ zu entfliehen, sei also durch Rauschzustände in der Tat möglich. Doch eine wirkliche Flucht aus einer kapitalistischen Gesellschaft ermöglichten diese nicht, erläutert Szabo. Auch die Feier- und Erlebnisindustrie stelle gewissermaßen einen Markt dar. „Es handelt sich dabei weitestgehend um ein kulturindustrielles Spektakel, welches gerade die Individuen, die einen Ausweg aus einer zugespitzt formuliert (spät)kapitalistischen Gesellschaft suchen, umso fester in diese einbindet.“

Rausch in Gemeinschaft – Gemeinschaft im Rausch

Wie sieht es mit den zwischenmenschlichen Effekten von gemeinsam erlebten Feierlichkeiten aus? Wie Szabo erklärt, werden gerade Gruppendynamiken hier beeinflusst. In den Festen, welche in besagten „Rausch-Heterotopen“ gefeiert werden, also z. B. Wirtshäuser, Kneipen und Clubs, begründet sich laut dem Soziologen die Existenz unterschiedlicher Identitäten. Während sich bei großen offiziellen Festen, wie z. B. Volksfesten eine „Volksidentität“ ausbilde, würden bei kleinen informellen Feierlichkeiten spezifischere Gruppenidentitäten manifestiert. Obwohl Rauschzustände und Feiererlebnisse nicht auf die Anwesenheit anderer Personen angewiesen seien, haben diese Erlebnisse demnach auch einen großen Einfluss auf zwischenmenschliche Beziehungen. Im Zustand des Rausches verschwinden für einen Moment die Grenzen zwischen den Menschen. So gründen sich Gemeinschaften im gemeinsamen Feiern und Freundschaften werden beim gemeinsamen „Lass uns Freundschaft“ trinken besiegelt. Laut dem Weltdrogenbericht der UN aus dem Jahr 2021 hat der Drogenkonsum während der Pandemie zugenommen. Diese Beobachtung legt dem Soziologen zufolge nahe, dass die institutionalisierten Orte des Außeralltäglichen wie Clubs, Bars und Kneipen fehlen „und Individuen nun gewissermaßen eigenständig versuchen, sich diesen Trip in ein Jenseits des Alltags zu verschaffen“.

Daneben würden diese Erlebnisse einer Gemeinschaft oder Gesellschaft eine Struktur geben, betont Szabo. Feste wie Weihnachten, Silvester oder auch Karneval fungierten normalerweise als Zeitmarker im Jahr. Doch in Zeiten der Corona-Pandemie falle diese Funktion weg: „Diese Strukturen sind aktuell außer Kraft gesetzt, so dass der Einzelne in seinem Erleben allein auf sich selbst zurückgeworfen wird.“

Von Selbstfindung bis Isolation ist alles möglich

Dieses „Allein-auf-sich-zurückgeworfen-Sein“ bedeutet in Zeiten von Corona häufig auch Schweigen, Isolation und Einsamkeit. In ihrer Zeit als buddhistische Nonne Kusalanandi hat Claudia Keller eine besondere Art dieses Zustandes erfahren: das sogenannte „edle Schweigen“.

Das edle Schweigen, das man hauptsächlich während eines intensiven Meditations-Retreats praktiziert, bezieht sich nicht nur darauf, nicht zu sprechen, sondern so weit wie möglich auch nicht mit Gestik, Mimik etc. in Kontakt mit der Außenwelt zu treten. „Dazu gehört auch, dass man sich nicht mit Musik, Büchern, Handy etc. ablenkt, was sehr ungewohnt sein kann.“ Laut Keller kreiere diese Übung eine „positive und kraftvolle Atmosphäre“, die helfe, sich tiefgründiger und klarer wahrnehmen zu können und wirkt zudem beruhigend auf Körper und Geist. „In der Stille geht es hauptsächlich um die praktische Erfahrung mit sich selbst“, erklärt sie.

Gerade für junge Menschen ist momentan vieles anders. Gemeinsames Lernen in Schule und Uni, geteilte Zeit mit Freunden oder auch gemeinsames Feiern fallen weg. Das gemeinsame Älterwerden vollzieht sich plötzlich in Isolation. Die Angst, die „beste Zeit des Lebens“ zu verpassen, ist unter jungen Leuten aktuell allgegenwärtig. Auf Partys und Festivals verzichten zu müssen, führt nicht automatisch zu Depressionen. Doch in Stille und Isolation als extremen Gegenpol zu kollektivem Rausch gibt es viel Raum für nagende Sorgen und Angst um die eigene Zeit in jugendlicher Freiheit.

Gründe für die Entwicklung einer Depression bietet die Pandemie einige: die eigene Erkrankung, die Krankheit von Angehörigen oder deren Verlust, finanzielle Sorgen, häusliche Gewalt und vieles mehr. Doch auch Isolation allein kann schon ein Grund sein für den Anstieg psychischer Belastungen. Dies ergab beispielsweise eine Studie der Kinder- und Jugendpsychiatrie Wien. Der Studienleiter Paul Plener erklärte in einem Interview mit der „Zeit“: „Wenn wir uns anschauen, wie Depressionen entstehen, dann sehen wir, dass es dabei zu einem Rückzug kommt. Wenn sich Menschen zurückziehen, erleben sie auch weniger positive Momente im Alltag. Das führt zu einer Abwärtsspirale.“.

Während Frau Keller ihre Erfahrungen während des edlen Schweigens also als „positiv, kraftvoll und beruhigend“ beschreibt, leiden viele andere unter dem Zustand des Schweigens und der Isolation. Wie lassen sich diese unterschiedlichen Effekte erklären? Für Keller kommt es auf die soziale, körperliche und psychische Verfassung jedes Individuums an, wie es mit äußeren Umständen umgeht. „Pathologisch gesehen stimme ich zu, dass Rückzug zu Depression führen kann“. Dadurch, dass der Rückzug und die Isolation während der Pandemie nicht selbst intendiert waren, entstehe zum Beispiel das Gefühl des Ausgeliefertseins. Die Einsamkeit während der Pandemie sei für die meisten Menschen nicht nur ungewohnt und ungewollt, sondern auch dahingehend überfordernd, dass sie durch das Fehlen von Ablenkung viel mehr mit ihren eigenen Gedanken und Emotionen konfrontiert seien, sie sich selbst aber weniger ausweichen könnten. Entschleunigung wirke aufgrund der Schnelllebigkeit unserer Zeit am Anfang häufig wie ein Entzug. Für viele sei es neu, auf sich selbst zurückgeworfen zu sein. Daraus könne eine große Unsicherheit entstehen, wie man mit sich selbst und der Situation umgehen solle. „Für manche ist vielleicht genau diese Erkenntnis der erste Schritt in die Spiritualität, für andere in die Depression. Und dazwischen gibt es natürlich viele Bunttöne.“

„Der Mensch braucht von Zeit zu Zeit Zurückgezogenheit.“

In der von ihrer persönlich erlebten Stille und Zurückgezogenheit sieht Frau Keller hingegen Positives. „Ich habe auf jeden Fall profitiert“ erklärt sie. „Wann hat man schon mal Zeit im Leben, sich so intensiv mit sich selbst zu beschäftigen? Sich mit sich auseinander und auch wieder zusammen zu setzen? Sich mit seinen Glaubenssätzen und Gewohnheitsstrukturen kennenzulernen und diese zu verändern?“

Der Mensch brauche sicherlich keine Einsamkeit, erklärt sie. „Aber wir brauchen von Zeit zu Zeit Zurückgezogenheit“. Zurückgezogenheit und Stille sind für sie nicht mit Einsamkeit gleichzusetzen. Unter Stille im Sinne von innerem Frieden versteht sie sich auf sich zurückzubesinnen und in sich „anzukommen“. Dadurch soll „das ewige Greifen im Außen“ gestoppt werden, welches meist an „Erwartungen sowie Sehnsucht nach beständiger Sinnesbefriedigung gekoppelt ist und häufig Enttäuschung birgt“. Gleichzeitig ist es ihr allerdings sehr wichtig zu betonen, dass weder das lange Schweigen noch Stille und Meditation Allheilmittel sind. Eine gewisse psychische und physische Stabilität sowie gute Selbstregulierungskräfte seien sehr wichtig, „sonst können einen, wenn man die innere Beobachter:innen-Position nicht halten kann, die eigenen Gedanken und Emotionen auch überrollen.“ Es sei außerdem wichtig, sich immer wieder mit einer Lehrer:in oder Mentor:in zu besprechen. „Der Geist ist unglaublich tricky und kann alle möglichen Phänomene in uns entstehen lassen, denen wir manchmal fälschlicherweise viel zu viel Glauben schenken.“

Isolation erträglich machen

Wie können Stille und Isolation also zu angenehmeren Zuständen werden? „Ich glaube, ein ganz wichtiger Aspekt ist die Selbstliebe“, erklärt Keller. „Wer an sich selbst interessiert und gerne mit sich zusammen ist, dem wird nie langweilig.“ Außerdem rät sie dazu, Achtsamkeit zu üben. Für sie führt die wachsame Wahrnehmung des „Hier und Jetzt“, sei es der Natur, des Menschen, der einem gerade gegenübersteht oder seiner selbst automatisch dazu, noch mehr lauschen zu wollen. Daneben gebe es mittlerweile auch viele wissenschaftliche Untersuchungen über die positiven Auswirkungen von Meditation auf Körper und Psyche. Man müsse erst einmal die positiven Effekte der inneren Unaufgeregtheit, welche die Stille mit sich bringe, erfahren, dann werde diese ganz automatisch zu einem angenehmen und erstrebenswerten Zustand.  

Vielleicht sollten Menschen nicht auf Rauschzustände verzichten, vielleicht können sie es auch nicht. Der Rausch ist ein vielschichtiges Phänomen irgendwo zwischen Flucht und gleichzeitiger Selbstverwirklichung. Menschliche Triebhaftigkeit erfahren, kleine Pausen von Alltag genießen oder die Konsolidierung von Gemeinschaften – damit können kollektive Feierlichkeiten das Leben von Individuen und Gemeinschaft bereichern.

Gleichzeitig zeigt das Beispiel von Frau Keller, dass Stille und Isolation als Gegenpole des kollektiven Rauschs nicht per se unangenehme Zustände sein müssen. Dennoch tragen sowohl Rausch als auch Zurückgezogenheit die Gefahr der Destruktivität in sich. Die Intention, mit welcher man sich in diese Zustände begibt, scheint der entscheidende Faktor zu sein. Die Pandemie nimmt den Menschen in mancher Hinsicht die Entscheidungsfreiheit bezüglich der Gestaltung der eigenen Lebenszeit und übt sie in Verzicht. Doch gleichzeitig macht sie die persönlichen Bedürfnisse und Defizite erkennbar und ermöglicht es, diese zu hinterfragen. So verschafft sie in Zeiten der Krise eine Reflexionsgrundlage. Und im Idealfall auch in Momenten, in denen euphorisiert von plötzlichen Öffnungen und wiedererlangten Freiheiten sinkende Inzidenzen gefeiert werden, ein klareres Bewusstsein über den eigenen Geist und die Beweggründe des individuellen Handelns.


  1. Julia Hupe

    Es ist wohltuend Alleinsein zu dürfen!
    Und es kann schwer sein Alleinsein zu müssen!
    Danke für den guten, informativen Artikel.
    Welche Dosis, zu welcher Zeit in welchem Kontext….
    Freue mich auf die nächste Verabredung mit mir Allein. Und empfehle den 3 Stündigen Film „Stille“

  2. Drugs and Group Psychology
    #Torches of Freedom #Edward Bernay #History

Schreibe einen Kommentar zu Julia Hupe Antworten abbrechen

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert

Gefällt dir das sai-magazin?