Ich mal‘ mir eine Utopie – Überlegungen zu Freiwilligendiensten

Text: Celine Giese | Kunst: Shirin Krastel

Nach der Schule erst einmal ein Jahr Pause machen, die Welt entdecken und neue Erfahrungen sammeln. Das denken sich so einige Menschen nach ihrem Schulabschluss; vor allem weiße1 Abiturient:innen, die im Globalen Norden leben und aufgewachsen sind – so auch ich. Nach einigen vorbereitenden Seminaren, in denen wir uns unter anderem mit Themen wie sexueller Gewalt und Rassismus beschäftigt haben und auf weitere Schwierigkeiten während unseres Dienstes vorbereitet wurden, ging es für mich mit dem nächsten Flieger nach Kanada. Mein einjähriger Freiwilligendienst in der Geflüchtetenhilfe stand bevor. Zweifel an meinem Vorhaben räumte ich schnell bei Seite; natürlich hätte ich mich auch in Deutschland in einer Organisation, die sich für geflüchtete Menschen einsetzt, engagieren können, aber wo wäre da der erhoffte Tapetenwechsel?
Erst nach und nach begann ich mich mit der Kritik an Freiwilligendiensten auseinanderzusetzen und mein eigenes Verhalten zu hinterfragen. 

Um die Arbeit der Teilnehmer:innen von Freiwilligenprogrammen zutreffend zu beschreiben, werden sie im Folgenden Praktikant:innen genannt. Hierdurch soll verdeutlicht werden, dass Freiwillige der Entlastung dienen, nicht aber Fachkräfte ersetzen können und sollen. Dafür sind sie nicht qualifiziert. Viel zu oft drückt sich der Staat aus der Verantwortung und das System baut auf die Unterstützung des Ehrenamts, doch das ist nicht nachhaltig und so sollte es auch bei Freiwilligendiensten nicht sein. 

Je nach Einsatzstelle übernehmen Freiwillige Aufgaben zwischen Kaffee kochen und den Tätigkeiten, die auch ihre Arbeitskolleg:innen verrichten, wie zum Beispiel die Arbeit als Lehrpersonal, Pfleger:in oder, wie bei mir, die Arbeit mit Asylanträgen. Oftmals arbeiten Freiwillige in ihren Einsatzstellen Vollzeit und das ohne entsprechende Bezahlung und Vorkenntnisse. 

© Shirin Krastel

Wer sind überhaupt die Freiwilligen? 
In internationalen, geförderten Freiwilligendiensten kommen junge Menschen sowohl aus Ländern des Globalen Nordens als auch des Südens zusammen. Dabei können die Freiwilligen als Nord-Nord-, Nord-Süd-, Süd-Nord- oder auch Süd-Süd-Austausch andere kulturelle Kontexte kennenlernen. 

Globaler Süden und Globaler Norden sind nicht geographisch zu verstehen. Auch auf der Nordhalbkugel gibt es Länder des Globalen Südens und auf der Südhalbkugel Länder des Globalen Nordens. Der Begriff Globaler Norden beschreibt eine im globalen System mit Vorteilen bedachte Position, wohingegen der Begriff Globaler Süden eine benachteiligte gesellschaftliche, politische und ökonomische Position beschreibt. Die Begriffe sind ein Versuch, die Machtgefälle zwischen Ländern zu benennen, ohne dabei auf wertende Begriffe wie “Entwicklungsland” zurück zu greifen. Trotzdem sind sie nicht trennscharf, einige Länder lassen sich nicht einordnen und jede Einordnung reproduziert die Machtverhältnisse zwischen den Ländern und dennoch müssen sie benannt werden, um sie zu thematisieren und abbauen zu können. Aber nicht alle Menschen im Globalen Norden sind automatisch reich und privilegiert. So erfahren Geflüchtete oder Indigene Menschen in Ländern des Globalen Nordens viel Diskriminierung. Könnte man also die Begriffe Globaler Norden und Globaler Süden als Bezeichnungen für Unter- und Oberschichten einer Weltgesellschaft verstehen? 

In der Diskussion über Freiwilligendienste spielt nicht nur eine Rolle, in welches Einsatzland der oder die Praktikant:in entsendet wird, sondern auch, wer diese:r Praktikant:in überhaupt ist. Handelt es sich dabei um eine Person des Globalen Nordens oder des Südens und was ist beispielsweise mit Schwarzen Menschen und Menschen of Color, die im Globalen Norden aufgewachsen sind und nun einen Freiwilligendienst in einem Land des Globalen Südens machen? Je nachdem wer einen Freiwilligendienst macht, unterscheiden sich die Erfahrungen und auch die Kritik.

Dass wenige Menschen des Globalen Südens in der Debatte um Freiwilligendienste vertreten sind, zeigt bereits die Problematik der einseitigen Ausrichtung durch den Globalen Norden und seinen Ansichten. Auch dieser Text ist aus der Sicht einer weißen privilegierten Person des Globalen Nordens geschrieben. Bei all der Kritik an Freiwilligendiensten, kann ich mich selbst also nicht ausnehmen und kritisiere mich ebenso selbst.

Intention hinter Freiwilligendiensten
Die ursprüngliche Motivation hinter internationalen Freiwilligendiensten, die aus dem Zivildienst entstanden sind, war es, einen sozialen Dienst an der Gesellschaft zu leisten. Die Idee war die des Pazifismus und der internationalen Solidarität: Menschen, die sich kennen und lieben gelernt haben, können sich nicht hassen. 

Mittlerweile sind jedoch der „kulturelle Austausch“ und die Aufbesserung des eigenen Lebenslaufes in den Fokus gerückt. Vielen geht es bei einem Freiwilligendienst nicht darum Machtstrukturen abzuschaffen, sondern darum, das eigene Humankapital zu vergrößern. Der Freiwilligendienst hat sich zum Selbstzweck entwickelt, anstatt dem ursprünglichen Sinn der gegenseitigen Unterstützung in Verbindung mit dem Ausbau internationaler Solidarität zu dienen.

Auch bei mir stand nicht nur die Solidarität im Vordergrund. Neben dem Interesse am kanadischen System der Geflüchtetenhilfe, welches geflüchteten Menschen mehr Möglichkeiten bietet nach Kanada zu kommen als die Asylsysteme vieler anderer Länder, standen für mich auch das Kennenlernen eines anderen Landes, einer anderen Gesellschaft, die Verbesserung meines Englisch und die Flucht aus meinem Dasein in Deutschland im Fokus.

Bei einem Freiwilligendienst, wie er bei seiner Entstehung gedacht war, sollte nicht allein die Arbeit, noch das Kennenlernen anderer Länder im Vordergrund stehen. Beide sind dialektisch miteinander verbunden, das Lernen sollte genauso berücksichtigt werden wie das Tun.

© Shirin Krastel

Verweilen wir einmal kurz im System der Freiwilligendienste,
was sind die Kriterien für einen machtsensiblen Dienst?

Praktikant:innen dienen der Entlastung, sie können und sollen keine Fachkräfte ersetzen. Sie sollten etwas zu den Projekten, in denen sie sich engagieren, beitragen, diese jedoch nicht nach ihren Standards verändern wollen.

Auch die Qualität der pädagogischen Begleitung ist wichtig; bereits hier muss auf Machtgefälle zwischen dem Globalen Norden und Globalen Süden aufmerksam gemacht und für Rassismus und koloniale Kontinuitäten sensibilisiert werden. Doch auch Klassismus ist ein Problem: Bereits die Anforderungen für einen Freiwilligendienst, besonders das verlangte Sprachniveau und bei manchen Organisationen sogar das bestandene Abitur, schließen weniger privilegierte Menschen von einem Freiwilligendienst aus.

Damit Freiwilligendienste zu ihrem ursprünglichen Ziel der internationalen Solidarität und des Austausches zurück gelangen, dürfen sie nicht kommerzialisiert werden. Ansonsten wird Ausbeutung von Menschen und Ländern des Globalen Südens als Unterstützung gedacht und somit unkenntlich gemacht.

Emanzipation und Macht
Dabei muss ein Freiwilligendienst doch emanzipatorisch sein. Die Intention der Solidarisierung sollte wieder in den Fokus gerückt werden; oder besser noch, der Kampf für globale Gleichberechtigung ohne jegliche Intention. Denn der Begriff der Intention folgt kapitalistischem und neoliberalem Denken und damit sind wir wieder bei den imperialen Machtstrukturen, die wir doch eigentlich abschaffen wollen.

Um bei der Abschaffung von Machtstrukturen mitzuwirken, ist keine Reise in den Globalen Süden nötig. Wenn ich im Globalen Süden etwas verändern möchte, muss ich etwas im Globalen Norden verändern. Genügend Organisationen gibt es bereits in Deutschland und auch für den internationalen Austausch ist es nicht nötig Praktikant:innen in andere Länder zu entsenden. 

Und überhaupt: Wer entscheidet überhaupt, was wir verändern müssen und was nicht? Brauchen wir nicht alle Hilfe? Die Unterscheidung wer Hilfe braucht und wer nicht, ist schon in sich ein Machtgedanke. Und sollte es bei einem Freiwilligendienst nicht gerade darum gehen, Macht und ihre Strukturen abzuschaffen? 

Von jetzt an also nur noch ein Freiwilliges Jahr in Deutschland?
Wenn uns Covid-19 eins gezeigt hat, dann, dass der digitale Austausch persönliche Treffen zwar ermöglichen, aber nicht ersetzen kann. Um den Austausch zwischen Menschen verschiedener Weltregionen aufrecht zu erhalten, ist es notwendig, dass auch jüngere Generationen in diesen eingebunden werden. Mittlerweile ist es kein Problem sich über das Internet zu vernetzen oder sich über die Politik eines anderen Landes zu informieren. Doch den Aufbau persönlicher Beziehungen kann das Internet nicht ganz ersetzen. Aber ist dafür ein Freiwilligendienst notwendig? Persönliche Beziehungen kann ich auch beim Reisen, Schüleraustausch, Auslandssemester oder selbstorganisierten längeren Aufenthalten in einem anderen Land aufbauen. Was unterscheidet einen Freiwilligendienst also von all diesen Optionen, wenn wir einmal annehmen, dass ich mich auch bei diesen nicht nur für kurze Zeit, sondern für mehrere Monate an einem Ort aufhalte? Bis auf, dass es sich besser im Lebenslauf macht, nichts. Freiwilligendienste sind also nicht notwendig; aber bedeutet dies, dass man sie abschaffen sollte?

Fernweh.
Immer wieder zieht es Menschen in andere Länder, um die Größe und Schönheit unserer Welt zu erkunden, so auch mich.
Auch beim Reisen steht der „kulturelle Austausch“ oftmals im Vordergrund. Mit unseren Vorstellungen und Erwartungen im Gepäck machen wir uns auf den Weg in die Fremde.

Aber ist nicht bereits der Wunsch „die Menschen und die Kultur“ besser kennenlernen zu wollen ein Ausdruck der Exotisierung? Unterschiede über die vermeintlich andere, „einheitliche“ Kultur und Mentalität von Menschen in anderen Ländern werden festgemacht. Diese wird dabei mit unveränderlichen Eigenschaften verbunden und beruht somit auf Stereotypen. Die eine Kultur gibt es nicht, vielmehr finden Reisende unterschiedliche Kulturen vor. So unterscheidet sich die deutsche Kultur, der man in Bayern begegnet von der in Berlin oder Nordrhein-Westfalen. Auch im eigenen Heimatland lässt sich eine Diversität von Menschen und ein Sammelsurium kultureller Auslebung vorfinden. Durch die Unterscheidung der Kulturen unterschiedlicher Länder werden heterogene Länder exotisiert und auf wenige Zuschreibungen reduziert. Dies muss in größeren Machtzusammenhängen betrachtet werden. Denn jedes Stereotyp über ein Land und die dort lebenden Menschen ist nur begrenzt wahr und meist aus einem kolonialen Blick entstanden. Es braucht kulturelle Differenzen, doch diese kann es bereits innerhalb eines Landes geben. Ein Bewusstsein für die Heterogenität von Ländern muss geschaffen werden.

Vielleicht mit einem fragwürdigen Ansatz gestartet, kann eine Reise oder ein Freiwilligendienst, genau das bewirken: Die Erkenntnis, dass Stereotype nur Stereotype sind und dass ein Land und eine Gesellschaft so viel mehr sind als das.

Längere Auslandsaufenthalte, die feste Verankerung an einem Ort in einem anderen Land, zum Beispiel durch einen Freiwilligendienst, können vielleicht keine Abschaffung existierender Machtstrukturen herbeiführen, aber sie können für diese sensibilisieren. Zudem können ein längerer Auslandsaufenthalt und die Arbeit in einem anderen Land zur Hinterfragung der eigenen Politisierung, zur Sensibilisierung für neue Themen und durch die eigene neue Themensetzung teilweise sogar zur Förderung der Diversität der eigenen Gesellschaft beitragen. Die Ausbildung der eigenen Selbstständigkeit darf dabei nicht alleine im Vordergrund stehen. Damit nicht weiterhin nur weiße Menschen von Freiwilligendiensten profitieren, braucht es nachhaltige Reverseprogramme.

© Shirin Krastel

Malen wir uns eine Utopie
Außerhalb von Machtstrukturen aktiv zu werden, ist nicht möglich. Denn wie sollen wir in einem System aktiv werden, welches nicht existiert, sondern noch von kolonialen Kontinuitäten und Imperialismen geprägt ist?

Freiwilligendienste sind nicht mehr in eine riesige Industrie, die den Blick einzig auf Kommerzialisierung und Profit gerichtet hat, eingebunden, sondern entstehen aus einem demokratischen Denken heraus: von der Basis aus. Organisationen aus verschiedenen Ländern vernetzen sich und fragen untereinander nach, ob sie Unterstützung wollen und brauchen. Dies muss nicht auf einen Freiwilligendienst hinaus laufen, kann aber. Das bedeutet allerdings auch, dass die Organisationen breiter aufgestellt und nicht nur auf Freiwilligendienste allein ausgerichtet sein dürfen. Es käme zu einer bedürfnisorientierten Gestaltung von Freiwilligendiensten und ginge primär nicht mehr darum Praktikant:innen zu entsenden, sondern einander zu unterstützen und sich miteinander zu solidarisieren.


1Schwarz und weiß sind nicht als biologische Eigenschaften, sondern als politische und soziale Konstruktionen zu verstehen. Sie bezeichnen die Position von Menschen, als Diskriminierte oder Privilegierte, in einer durch Rassismus geprägten Gesellschaft. Schwarz ist, ebenso wie der Begriff People of color, eine emanzipatorische Selbstbezeichnung, die kolonialen und rassistischen Wortschöpfungen eine Alternative entgegensetzen soll. Um den Konstruktionscharakter zu verdeutlichen wird es groß geschrieben. Um die dominante Position explizit zu kennzeichnen, wird weiß kursiv geschrieben.

Einige Tipps zum Einstieg in die eigene Recherche:
– Broschüre Mit kolonialen Grüßen
– Broschüre Wer anderen einen Brunnen gräbt
Perspektive von Südfreiwilligen

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