Hoffnung im Prozess

Text: Damaris Raab | Kunst: Aylin Kolkiran & Anne Mehrpol

Dieser Text ist der zweite Teil einer Reihe über Endometriose. In insgesamt vier Beiträgen beleuchten wir die Krankheit und einige der Schwierigkeiten mit denen sich Betroffene konfrontiert sehen – von Diskriminierung auf der Arbeit und Sexismus im Gesundheitssystem hin zu der Intersektion mit anderen Krankheiten und Schwangerschaft. Falls ihr oder Personen in eurem Umfeld betroffen sind, findet ihr am Ende weiterführende Literatur sowie Hilfsangebote.

„Es ist, als wäre ich fremdgesteuert, etwas übernimmt Kontrolle über meinen Körper, als wenn mit mir gespielt wird und ich habe die eigenen Fäden nicht in der Hand. Ich muss mich dem hingeben, ob ich bereit bin oder nicht. Ich muss da jetzt durch – Bauchkrämpfe, Rückenschmerzen, Schwindel, Übelkeit, Erbrechen – Ohnmacht. Etwas übernimmt Kontrolle über meinen Körper, ob ich bereit bin oder nicht, ich muss da jetzt durch”. 

Mit 140 km/h fahren Aylin und ihre Freund:innen auf dem Weg zurück aus dem Urlaub, als ihr plötzlich schwarz vor Augen wird und sich alles in ihrem Körper zusammenkrampft. Obwohl Aylins Periode weitaus später eingesetzt hat, als bei ihren Freund:innen und ihr die starken Unterleibsschmerzen, mit denen einige ihrer Freund:innen zu kämpfen hatten, zunächst unbekannt waren, verspürt sie diese heute umso stärker. Trotz ihres Erlebnisses am Steuer und den extremen Schmerzen, die sie während der vierstündigen Rückfahrt ohne Ibuprofen ertragen musste, hat sie keine:n Gynäkolog:in aufgesucht. Viel zu präsent sind die Kommentare in ihrem Kopf, die ihr seit klein auf zum Thema Periode nahegelegt wurden. „Reiß dich mal zusammen, Periodenschmerzen sind normal, das hat jede Zweite, da muss man halt durch“.

„Zunächst ist da immer ein Stechen.“ Wenn ich das spüre, dann versuche ich mich schnell in ein ruhigeres Umfeld zu begeben, am liebsten nach Hause, denn ich weiß, gleich geht es los. Dann kommen die Schwingungen, im 10 Minuten-Takt, wie kleine Stromschläge, ein erstickendes Gefühl. Ich schnappe nach Luft und gerate häufig in Panik. Ich muss mich dem hingeben, als wenn mit mir gespielt wird und ich die Fäden nicht in der Hand habe.”

© Aylin Kolkiran

Nachdem Aylins Oma sie eines Tages verkrampft auf dem Boden vorfand, suchte sie erstmals ihren Gynäkologen auf. Zufälligerweise hatte ihre Oma erst am Vortag eine Dokumentation über Endometriose gesehen und vermutet nun, dass auch Aylin unter dieser Erkrankung leiden könnte. Aylin hatte bis zu diesem Zeitpunkt noch nie etwas von der Erkrankung gehört. Nach einem Ultraschall meinte ihr Gynäkologe, dass bei Aylin alles gut wäre. Auf ihr Nachhaken antwortete er patzig, dass sie sich nicht so anstellen solle, die Schmerzen seien ganz normal und wenn diese sie belasten würden, solle sie einfach wieder die Pille nehmen. 

Endometriose äußert sich bei vielen Betroffenen in verschiedenen Symptomen und wird daher auch als „Chamäleon der Gynäkologie“ bezeichnet. Während einige Betroffene keine Beschwerden haben und keine Behandlung benötigen, wird bei etwa der Hälfte der Patient:innen von einem dauerhaften Therapiebedarf ausgegangen. Da die Ursachen von Endometriose weiterhin unbekannt sind, sind diese jedoch lediglich auf die Linderung der Symptome beschränkt.

Am Anfang unseres Gesprächs sagte Aylin: „Das ist die Geschichte der letzten vier Jahre, in denen ich zum Teil sehr hilflos herum gewandert bin“. Der Vorfall beim Gynäkologen ist genau einer dieser hilflosen Momente: „Wenn ich nicht einmal mit meinem Gynäkologen darüber sprechen kann, wenn er nicht einmal in der Lage ist, mir zu helfen, wohin soll ich dann damit gehen?”

Ende 2020 ermutigt sie ihre Mutter bei der nächstgelegenen Uniklinik anzurufen. Diese teilt ihr daraufhin mit, dass der nächste freie Termin erst 2024 verfügbar sei, sie könne sich aber auf die Warteliste setzen lassen. Das ließ Aylin noch ratloser zurück als zuvor. Die große Diskrepanz zwischen dem lauten, schnellen und aufwühlenden Prozess voller körperlicher Schmerzen in ihrem Inneren und dem langsamen und mühsamen äußeren Prozess der Suche nach medizinischer Hilfe und einer Diagnose, ist für Aylin schwer zu ertragen.

© Anne Meerpohl

2022 erhält Aylin dann einen Anruf von der Uniklinik. Ein Termin ist spontan frei geworden und sie darf zum Erstgespräch kommen. Mittlerweile bestimmt die Endometriose Aylins Leben immer drastischer und Schmerzmittel sind zur Normalität geworden. Im Erstgespräch in der Klinik erklärte man ihr, dass sich Endometriose nicht immer auf dem Ultraschall erkennen lässt und die Diagnose nur über eine Bauchspiegelung mit Sicherheit gestellt werden kann. Die Aussicht, eventuell eine Diagnose zu erhalten, erleichtert Aylin. Nicht zu wissen, was los ist, keine Erklärung, an der sie sich festhalten konnte – für Aylin fühlte sich das die letzten Jahre an wie ins Leere zu greifen. Im Durchschnitt vergehen in Deutschland 10,4 Jahre, von den ersten Symptomen bis zur endgültigen Endometriose-Diagnose.

Drei Monate nach dem Erstgespräch erhält Aylin endlich einen Termin für die Bauchspiegelung. Die Vorbereitungen für den Eingriff beginnen – der Verzicht auf Nahrung für 24 und auf Flüssigkeit für wenige Stunden zuvor sowie die Einnahme von Abführmitteln. Der Gedanke an die bevorstehende Operation sowie die Anstrengung der Vorbereitungen belasten sie. Sieben Stunden lang lag Aylin OP-bereit im Saal. Es war bereits zwei Uhr nachts, als eine Ärztin den Raum betrat und ihr mitteilte, dass die Ärzt:innen aufgrund eines Streiks den Eingriff nicht durchführen werden können. Aylin, die zweieinhalb Jahre lang auf diesen Termin gewartet hatte, brach in Tränen aus. Ihre Bettnachbarin, eine 28-jährige Frau, die im Begriff war, sich ihrer siebten Endometriose-OP zu unterziehen, erzählte ihr von ihrem jahrelangen Kampf mit der Endometriose, von den unerträglichen Schmerzen und der belastenden Ungewissheit, ob sich ihr größter Wunsch, Mutter zu werden, jemals erfüllen würde. Seit acht Jahren lebt sie mit dieser chronischen Krankheit. Inzwischen war sie an einem Punkt angelangt, an dem sie beschloss, dass dies ihre letzte Operation sein sollte. Sie war bereit, die Symptome der Endometriose in Kauf zu nehmen, um ihrem Körper nicht noch einmal eine so belastende Operation zumuten zu müssen.

Nach einer erneuten Wartezeit von drei Monaten wurde bei Aylin schließlich Endometriose diagnostiziert und drei versteckte Herde entfernt. Erleichterung. Endlich eine handfeste Diagnose zu haben, sich erklären zu können, eine Bestätigung für die Schmerzen, schwarz auf weiß. Endometriose. 

Die Diagnose hat Aylin dabei geholfen, mehr Verständnis und Geduld für sich selbst zu entwickeln und sich den Raum und die Zeit zu nehmen, zu entspannen und auf die eigenen Bedürfnisse zu hören. Sich selbst mehr entgegenzukommen, sich Stress wegzunehmen, Grenzen zu setzen und den Alltag anders zu gestalten. In einem System, das mehr Wert auf Leistung, als auf Wohlbefinden im eigenen Körper legt, ist das nicht immer einfach. 

© Aylin Kolkiran

Um ihre Menstruation auszuhalten, hilft es Aylin, ihrem Körper das Umfeld zu bieten, dass er braucht, genauso wie Ibuprofen, Bewegung in den richtigen Momenten und ganz viel Wärme. Wärme in Form von Tee und Wärmflaschen, aber auch die Wärme von anderen, von lieben Menschen, die sie daran erinnern, dass die Schmerzen, die sie gerade fühlt, temporär sind und die sie fragen, was sie gerade braucht. 

Im Großen und Ganzen hat Aylin hat das Gefühl mehr Verständnis und Empathie von FINTA* als von männlich gelesenen Personen zu empfangen. Dennoch war es ihr Papa, den sie immer zuerst angerufen hat, der ihr etwas von der Apotheke geholt und ihr das Wärmekissen warm gemacht hat. Als Paradebeispiel dafür, dass gewisse Themen im Gesundheitssystem ignoriert wurden und werden, betrifft Endometriose alle Menschen, erzählt uns Javed Lindner, Mitbegründer der Gruppe Endo.Politisch.Aktiv bei der Endometriose Vereinigung, die sich auf politischer Ebene für eine langfristige Verbesserung der Versorgung von Betroffenen einsetzt. „Jeder hat Mütter, Schwestern, Tanten, Bekannte, Freund:innen; dementsprechend ist es auch für Männer wichtig und relevant, sich mit diesen Themen auseinanderzusetzen. Ich glaube, es gibt keinen Mann, der gar keinen Kontakt zu Frauen hat, entsprechend gibt es kein Männerthema oder Frauenthema; vor allem wenn es um Gesundheit geht. Ich glaube, wir täten gut daran, diese Themen nicht getrennt zu betrachten, sondern als Probleme, die wir gemeinsam lösen müssen.” Da ein signifikanter Teil des Bruttoeinkommens in ein soziales Gesundheitssystem fließt, sollten alle Patient:innen erwarten können, mit Respekt und Verständnis behandelt werden zu können. Bei Endometriose-Betroffenen würde diese Vereinbarung nicht eingehalten werden, so Javed. Auf der Basis von Umfragen und Hintergrundrecherchen, erarbeitet die Arbeitsgruppe Endo.Politisch.Aktiv daher politische Handlungsempfehlungen und setzt sich dafür ein, das Thema Endometriose auf die politische Agenda zu bringen, zum Beispiel in Form einer Nationalen Endometriose Strategie.

Für Aylin ist es wichtig, dass der Raum da ist, um ihre Schmerzen ausleben zu können. In der Schulzeit musste sie hingegen zunächst Aufklärungsarbeit über das Thema Endometriose leisten, um überhaupt Verständnis entgegengebracht zu bekommen. Doch die emotionale Belastung, die Endometriose mit sich bringt, die Endlosschleife an Schmerzen, in der sich Aylin gefangen fühlt und wie groß das Ausmaß der Einschränkung für sie wirklich ist, das ist bis heute schwierig zu erklären. Und da war auch Verunsicherung. Verunsicherung, dass es noch nicht wirklich ein Mittel gegen Endometriose gibt und dadurch, dass das Thema erst in den letzten Jahren in Deutschland mehr Beachtung findet. Verunsicherung über die Zukunft, Kinderwunsch und die Aussicht, dass diese Diagnose einen im weiteren Verlauf des Lebens begleiten wird, schwarz auf weiß. Endometriose.

Zwei Monate nach der OP bekam Aylin plötzlich wieder starke Endometriose Schmerzen. Seit einem halben Jahr lebt Aylin nun mit einer kostenfreien Spirale, welche die Blutungen kürzer, schwächer und weniger schmerzhaft machen soll. Aylin spürt, dass sich die Periodenschmerzen durch die Spirale verändert haben, ob positiv oder negativ, das kann sie noch nicht genau sagen, dafür sei der Zeitraum noch zu kurz. Ihre Schmerzen sind weiterhin da und erstrecken sich über einen längeren Zeitraum der Periode als vor der Spirale, jedoch sind die Schmerzen bei weitem nicht mehr so schlimm wie früher.  

Für die Zukunft wünscht sie sich, dass das Wissen an die richtigen Menschen kommt, die Motivation und Ressourcen haben, Lösungen zu finden. Menschen die Aufklärung leisten, die schon in der Schule anfängt, denn für Aylin existiert gesamtgesellschaftlich immer noch eindeutig zu viel Unwissen über die Erkrankung. Die Aufklärung über Endometriose ist nicht nur für die Betroffenen selbst, sondern auch für uns als Gesellschaft von entscheidender Bedeutung. Bei 190 Millionen Betroffenen weltweit, kann Aufklärung über die Erkrankung dazu beitragen, dass wir einen großen Teil der Gesellschaft besser verstehen und unterstützen können. Aylin wünscht sich daher neue Ansätze; dass die Fäden irgendwann wieder in ihren Händen liegen. Endometriose, Hoffnung im Prozess.

Weiterführende Links und Tips:
Dieser Beitrag ist Teil einer Reihe zu Endometriose. Den ersten Beitrag, in dem Marie uns ihre Geschichte mit der Krankheit erzählt findet ihr hier.

Die Endometriose-Vereinigung Deutschland e.V. bietet eine Telefon- oder Videoberatung durch betroffene Frauen und/oder psychologisch ausgebildete Beraterinnen an. 
0341 – 3065304 // info@endometriose-vereinigung.de

Jede Person hat ein Recht auf eine medizinische Rehabilitation (Reha). Für Laura, mit der wir ebenfalls über ihre Endometriose gesprochen haben, war dies ein wichtiger Raum, um sich mit ihrer Endometriose auseinanderzusetzen. Weitere Informationen dazu, wann und wie ihr eine Reha beantragen könnt, findet ihr hier.

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