Am Anfang war Regen

von Anna Trunk

In den letzten Tagen habe ich oft an sie gedacht, mich gefragt, wie es ihr gerade geht. Wie gerne hätte ich sie in den Arm genommen, gemeinsam den Nachmittag plaudernd bei viel zu süßem Kaffee verbracht, mir all die Sorgen angehört, die sie gerade umzutreiben scheinen. Aber das geht nicht – uns trennen nicht weniger als 11.500 Kilometer.

Den Regen nehmen wie er fällt

Kennengelernt habe ich Fasya im Februar 2019, als sie ganz unverhofft in mein Leben stolperte. Erst wenige Tage zuvor war ich nach mehr als 24 Stunden zwischen Gepäckwägen, Welten und Wolken in Yogyakarta, Indonesien, gelandet. Aus der Vogelperspektive bot sich mir die Gegend um die javanische Stadt wie ein Flickenteppich aus leuchtend grünen Reisfeldern, glitzernden Wasserflächen, dazwischen Wohnsiedlungen. Schon lange hatte ich mir ausgemalt, wie sich diese Stadt, in der ich mein Auslandssemester verbringen wollte, wohl anfühlen, wie sie riechen und schmecken würde. Die Uni hatte noch nicht begonnen, ich nahm mir also die Zeit, die Gegend zu erkunden. Eine free-walking Tour durch das historisch bedeutende und künstlerisch ansprechende Prawirotaman-Viertel im Süden Yogyakartas kam mir da gelegen.

© Anna Trunk

Ich erinnere mich noch genau daran, wie der sturzbachartige Regen uns unter die Vordächer scheuchte, wir uns eng aneinanderdrängten, um wenigstens halbwegs trocken zu bleiben. Die Wucht dieser Regengüsse, die unheimliche Macht fallenden Wassers, sollte mich an diesem Tag nicht zum letzten Mal verzaubern. So standen wir also da, dicht an dicht, im Schutz einer überdachten Einbuchtung und begannen uns zu unterhalten – über den Regen, was uns nach Indonesien brachte, erste Eindrücke. Die Gruppe war bunt gemischt, bestand aus Menschen unterschiedlichen Alters und Hintergrunds. Was uns verband war die Neugierde, der Drang mehr über Prawirotamans Vergangenheit und Gegenwart zu lernen.

Fasya begleitete die Gruppe in ihrer Rolle als Praktikantin bei einer lokalen Tourismusagentur, welche den Rundgang durch das Viertel veranstaltete. Anfangs schien sie schüchtern, teilte aber nach und nach – dank sei dem anhaltenden Regen – wunderbare Geschichten über ihr Leben, die Stadt und javanische Mythologie.

Sie erzählte, dass sie im letzten Semester Tourismusmanagement studierte, in Indonesiens Hauptstadt Jakarta und im westjavanischen Bandung aufgewachsen war. Vor einigen Jahren war sie mit ihren Eltern und den beiden jüngeren Schwestern nach Yogya gezogen, heute lebt die Familie in einem verwinkelten Viertel im Südosten der Stadt. Fasya ist mit 21 Jahren die älteste von drei Schwestern, pflegt eine ausgeprägte Leidenschaft für japanische Nudelsuppen und süßen Kokosklebereiskuchen. Ich erinnere mich noch genau an ihre halboffen getragenen Trekkingsandalen und den eng unter dem Kinn geschlossenen Hijab, der wie ein Rahmen für ihr rundliches Gesicht anmutete und bei jedem Lachen ein klein wenig verrutschte. Ihre anfangs eher zurückhaltende Art, abgelöst von Neugierde erweckenden Erzählungen und tiefen Grinsegrübchen, waren mir direkt sympathisch. Ein wenig erinnerte sie mich damit auch an mich.

Nachdem Regenguss und Stadtführung zu einem Ende gekommen waren, tauschten Fasya und ich Nummern aus. Gern könne ich mich bei ihr melden, wenn ich Langeweile oder Interesse an javanischer Geschichte hätte. Das tat ich dann auch und wir verabredeten uns zu einem gemeinsamen Ausflug. Sie wollte mir das Meer zeigen.

Eine Königin in Grün

Pantai Parangritis (Parangritis-Stand) ist von Yogyakarta aus in etwa einer Stunde mit dem Roller erreichbar. Wir trafen uns am Nachmittag, um rechtzeitig zum Sonnenuntergang an unserem Ziel anzukommen. Ich weiß noch, dass mir kurz mulmig zumute war bei dem Gedanken, den ganzen Abend mit einem mir eigentlich noch unbekannten Menschen zu verbringen. Worüber würden wir uns unterhalten?

Zunächst einmal überhaupt nicht. Der flatternde Gegenwind, der uns auf dem Weg gen Süden entgegenschlug, verschluckte jegliches Wort aus ihrem Mund noch bevor es mein Ohr erreichen konnte. Wunderbar warme Luft strömte mir entgegen, ich wünschte mir Kamera-Augen, die bei jedem Wimpernschlag ein Foto von der farbenprächtigen Umgebung knipsten. Am Strand von Parangritis angekommen, überwältigte mich der Anblick des Meers, das für mich bisher unweigerlich mit Urlaub und stundenlangem Autofahren auf überfüllten Straßen konnotiert war. Für die nächsten Monate sollte ich nur einen Katzensprung davon entfernt leben, eine unglaublich schöne Gewissheit.

© Anna Trunk

Meine Bedenken bezüglich eines eventuellen Gesprächsthemendefizits bestätigten sich nicht – im Gegenteil. Wir plauderten über alles Mögliche, Götter und die Welt. Fasya wechselte souverän zwischen Indonesisch und Englisch, erklärte mir unbekannte Vokabeln, sprach von ihrem Studium, ihrer Begeisterung für Fremdsprachen und mystischen Wesen wie Nyai Loro Kidul. Der javanischen Mythologie zufolge ist sie die Königin des Indischen Ozeans und der Strand von Parangritis ihr heiliger Ort. Menschliche Wesen sollten sich hüten in ihrer Gegenwart Grün zu tragen, denn wer sich mit der Farbe der Königin schmückt, muss damit rechnen von reißenden Fluten verschluckt zu werden. Fasya hatte mich zuvor bereits gewarnt, wir trugen also beide kein Grün und konnten sorglos an diesem scheinbar unendlichen Strand wandeln. Meereswasser umspülte unsere nackten Füße, Wolken formten wunderbare Bilder und spiegelten sich im nassen Sand. An diesem Abend wurde mir das romantische Potential von Sonnenuntergängen wohl erstmals bewusst.

Vertrauen, eine Frage der Perspektive

Die Heimfahrt traten wir bei Dunkelheit an, die graublaue Nacht hüllte uns ein. Noch immer war es wunderbar warm, meine Hose flatterte im Fahrtwind. Ich erinnere mich noch genau an diesen Moment, in dem ich meinen Kopf in den Nacken fallen ließ, die Augen schloss, mich so wohl und frei fühlte – und mich fragte, woher ich eigentlich die Sicherheit nahm, mich Fasya auf so selbstverständliche Weise vollkommen anzuvertrauen.

Eine Antwort darauf habe ich nie bekommen, dafür aber unzählige wunderbare, gemeinsame Momente. Yogyakarta hätte sich mir ohne Fasya wohl nie auf dieselbe Weise erschlossen, wie es dank ihr möglich war. Beide hatten wir große Freude daran lokale Köstlichkeiten zu verspeisen, wie oft war sie über meine erstaunliche Schärferesistenz verwundert. Immer wenn es ihr Praktikum zuließ, machten wir uns auf, tourten mit dem Roller gen irgendwo – zu entdecken gab es genug!

© Anna Trunk

Besonders bewegend waren für mich die Treffen bei Fasya zu Hause, ich lernte ihre Eltern und Schwestern kennen, kostete das Spezial-Gemüse ihrer Mama und begleitete die Familie am Tag der Präsidentschaftswahlen ins nachbarschaftliche Wahlbüro. Irgendwann brauchte ich das Navi nicht mehr, um den Weg zu ihrem in einer kleinen Seitenstraße gelegenen Haus zu finden – ein Zeichen dafür, dass ich allmählich in Yogya angekommen war.

Unsere Gespräche waren von Beginn an intensiv, emotional. Mit der Zeit wurden sie noch vertrauter, ehrlicher, tiefgehender. Ich erzählte ihr von meinen Beziehungen zu Männern, zu Frauen. Sie erklärte mir, was Sex für sie bedeute, was sie sich von ihrem Partner wünsche, warum Körperlichkeit in den Rahmen einer Ehe gehöre. Wir hätten unterschiedlicher kaum sein können und waren uns trotzdem immer verbunden.

Ich hörte ihre Worte, verstand, was sie zu sagen hatte. Aus dieser Perspektive machte das alles Sinn. Ebenso lauschte sie meinen Geschichten, respektierte meine Art und Weise zu leben, zu sein. Respekt und gegenseitige Wertschätzung scheinen das Geheimnis unserer Innigkeit zu sein. Differenzen waren immer präsent, aber nie von Bedeutung. Wichtig waren bloß wir, gemeinsam in diesem Moment.

Ein Winter ohne Schnee

Inzwischen bin ich wieder in Deutschland, Fasya lebt weiterhin in Yogyakarta. Nicht selten vermisse ich die Abende mit ihr, unsere Konversationen, die Roller-Ausflüge ins Grüne.

Bis es soweit ist, tauschen wir Nachrichten statt Worte, Bilder sollen Blicke ersetzen. Ich bin nicht oft froh über mein Smartphone, aber in diesem Fall tut es wirklich einen guten Dienst. Es schlägt eine Brücke zwischen uns beiden, bildet für uns eine Verbindung in ein anderes Leben, eine andere Welt. Etwas traurig bin ich schon darüber, dass es noch nicht geschneit hat in diesem Jahr – wie gerne hätte ich Fasya ihr erstes persönliches Schnee-Foto geschickt.

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