Text: Jan Hilbert| Illustrationen: © Jennifer Beuse
Wir verlieben uns in einer lauen Sommernacht am See. Nach einem halben Jahr Liebesrausch ziehen wir in eine gemeinsame Wohnung. Unsere Freundeskreise vereinen sich. Auch wenn das Prickeln etwas nachgelassen hat, küssen wir uns noch regelmäßig, denn das ist die Bestätigung, dass alles gut ist. Sind wir getrennt, telefonieren wir täglich und reden über die Müslizusammensetzung beim Frühstück. Nachts sind wir meistens zu zweit unterwegs, denn flirten müssen wir ja nicht mehr. Und selbstverständlich schwören wir uns als Grundsatz unserer Beziehung bedingungslose Treue. Bis dass der Tod uns scheidet.
Oder eben, bis die Seifenblase der Verliebtheit platzt und uns bewusst wird, dass gemütliche Netflixabende mit Ofengemüse unseren Träumen und Fantasien nicht mehr gerecht werden.
Alle wollen poly
Wer der eben beschriebenen blasierten Bilderbuchwelt misstraut und genervt die Augen rollt, mag berechtigte Zweifel haben. Wenn wir ehrlich sind, haben wir alle schon einmal der immerwährenden monogamen Märchenbeziehung misstraut. Poly trendet, nicht nur in den jüngeren Generationen.
Doch wie bei vielen Trends laufen wir Gefahr, den wahren Kern an Oberflächlichkeiten zu verlieren. Polybeziehungen werden häufig auf wildes Ausleben der Sexualität reduziert. Wie auch in einer monogamen Beziehung kann Sexualität aber nur eine untergeordnete oder gar keine Rolle spielen. Betrachtet man das Polymodell aber etwas umfassender, könnte es vielleicht einen Ausweg aus den Sackgassen der monogamen Beziehungsform bieten.
Seit der Industrialisierung hat sich an dem Bild einer „normalen“ monogamen Beziehung nicht viel verändert. Man träumt die Vorstellung, alles bleibe gleich. Am besten für immer. Tatsächlich wandeln sich unsere Wünsche, Erwartungen und Wahrnehmungen in einer Beziehung jedoch oftmals. Besonders in einer pluralen westlichen Welt, in der wir immer älter werden.
Gehen wir also davon aus, dass die Liebe über einen langen Zeitraum bestehen soll, so müssen wir immer wieder in die eigene Beziehung hineinhorchen. Da reicht aber das „Läuft gut gerade, oder? Ja. Ok super.“ – Gespräch beim Zähneputzen nicht aus. An einem gewissen Punkt werden wir uns eingestehen müssen, dass wir dem Gegenüber manche Erwartung und manchen Wunsch nicht erfüllen können. Dass zwei Menschen sich in allen Bereichen einer Beziehung gleich entwickeln, ist zwar romantische Schwärmerei, bleibt aber meist eine Utopie. Nun muss man sich entscheiden.
Man versucht mit Scheuklappen auf der Bahn zu bleiben, nimmt in Kauf, dass der Drang auszubrechen möglicherweise irgendwann zu groß ist. Oder man überdenkt den Allrounderanspruch an seine*n Partner*in und gibt sich die Freiheiten gewisse Dinge auch mit anderen Menschen zu teilen. Das kann der dringende Wunsch nach regelmäßigem Minigolfen sein oder die Vorstellung ab und an aus dem Vanilla Sexleben auszubrechen.
Phrasenschwein spricht: „Alles kann, nichts muss.“
Gibt man sich im Einvernehmen so manche Freiheit abseits der Norm, kann die Beziehung im Idealfall davon profitieren. Dazu muss man die Werte, die das Liebesbündnis einst besiegelten, nicht über Bord werfen. Man überwindet vielmehr ein paar Barrikaden, die das gemeinsame Glück trüben könnten. Vielleicht findet sich hier der Weg zu einer tatsächlich bedingungslosen Liebe.
Anarchie mit Händchenhalten
Während meiner Recherche stoße ich auf Kristin Hänsgen. Sie klärt mit ihrem Engagement über Alternativen zu unseren festgefahrenen Beziehungsnormalen auf. Sie ist Teil von „different people e.V.“ und Gründungsmitglied der Gruppe „Alternative L(i)ebensweisen“. Kristin selbst ist Beziehungsanarchistin und erklärt uns, was Beziehung für sie bedeutet.
Sai: Kristin, in Deinem Verein und bei Deinen Workshops setzt du dich mit Beziehungsfragen jenseits der klassischen Beziehungsbilder auseinander. Wie kommst du zu diesem Thema?
Kristin: Lustigerweise hat mich unter anderem der Beziehungsstatus bei Facebook dazu gebracht. Von elf Auswahlmöglichkeiten bezeichnen dort mindestens sieben eine Beziehung zwischen zwei Personen. Nach der allgemeinen Vorstellung ist das also eine normale Beziehung. Ich wollte den Blick etwas weiten und andere Möglichkeiten einer Beziehungsstrukturierung erkunden. Dazu gehören neben Polybeziehungsformen auch verschiedene Vorstellungen der Monogamie, fernab der Traumprinz und Traumprinzessin Welt.
Sai: Eine Beziehung einzugehen, heißt in der allgemeinen Vorstellung eine feste Bindung einzugehen, die nach bestimmten Regeln funktioniert. Wie würdest Du den Begriff für dich definieren?
Kristin: Da stellt sich für mich die Frage, wo fängt Beziehung an und wo hört es auf? Muss eine vollumfängliche Beziehung immer eine romantische Liebesbeziehung mit sexueller Komponente sein oder funktioniert Beziehung vielleicht auch ganz anders. Interessant ist auch die Frage, ob eine Beziehungsform einen Ist-Zustand darstellt oder ob man diese grundlegend in sich trägt. Bezeichnen sich Menschen beispielsweise als polyamorös muss das nicht heißen, dass sie in einer Beziehung stecken. Für mich habe ich da eine Schublade mit dem Label Beziehungsanarchie gefunden.
Sai: Die Begriffe Anarchie und Beziehung scheinen ja auf den ersten Blick etwas schwierig vereinbar. Was können wir uns darunter vorstellen?
Kristin: Beziehungsanarchie bedeutet, dass jede Beziehung, die ich mit einem Menschen führe, individuell ist und für sich alleine steht. Diese Beziehungen sind hierarchiefrei. Beispielsweise steht die Person, mit der ich eine romantische Beziehung führe, grundsätzlich nicht auf einer höheren Ebene als eine Freundschaft. Daher kommt der Anarchiebegriff, man hinterfragt die Besitz- und Herrschaftsverhältnisse, die andere Beziehungsformen voraussetzen.
Ich habe irgendwann für mich selbst realisiert, dass mein Beziehungsstand mit einer Person alle Menschen beeinflusst, mit denen ich sonst noch so in Verhältnissen stehe. Aber ich kann bei den Menschen, die ich in meinem Leben habe, manchmal nicht so einfach entscheiden, ob die Beziehung jetzt platonisch, romantisch oder sexuell ist. Das muss man vielleicht auch gar nicht, man macht einfach das, was sich gerade für beide gut anfühlt.
Sai: Da spielt offene Kommunikation wahrscheinlich eine große Rolle.
Kristin: Natürlich, das gilt für jede Beziehungsstrukturierung. Selbst in einer für immer angelegten monogamen Beziehung ist es wichtig, regelmäßig über die Erwartungen und Vorstellungen zu reden. Allerdings macht es der Rahmen in einer monogamen Beziehung meiner Meinung nach sehr viel schwieriger. Denn in dem Moment, in dem man in einer Beziehung steckt, die darauf ausgelegt ist, dass sie für immer genau so sein soll, ist es sehr viel schwieriger Veränderungen zu akzeptieren. Es ist eben ein sehr statisches Modell. Ich finde es wirklich schade, wenn ich sehe, wie zwei Menschen an einer Beziehungsstruktur scheitern, obwohl sie sich lieben. Ich hoffe, dass durch Gespräche über verschiedene Beziehungsformen auch über die monoamoren Beziehungsformen wieder mehr nachgedacht wird und in das ewig statische Modell wieder ein bisschen Bewegung kommt.
Sai: Hast du vielleicht noch einen Tipp für uns, wie wir uns mit unserer Beziehungsstrukturierung auseinandersetzen können, ohne mit der Tür ins Haus zu fallen?
Kristin: Mir fallen da spontan zum Beispiel die Karten des Miteinanders ein. Das sind 16 Karten, auf denen Sachen stehen, die Komponenten einer Beziehung sein könnten. Das sind Punkte wie etwa Sozialleben, Romantik, Sex, aber auch Finanzen oder gemeinsame Fürsorge. Dort könnte man beispielsweise mal einen Blick auf die eigene Beziehungsstruktur werfen. Was teilt man miteinander und was macht die eigene Beziehung aus? Ich glaube, darüber kommt man auch gut in ein Gespräch über Dinge, die einen möglicherweise unterscheiden. Vielleicht ergeben sich da neue Sichtweisen, die man in die eigene Beziehung integrieren kann. Eine Person muss nicht alles erfüllen, was ich mir wünsche.
Webseite des different-people Vereins: https://www.different-people.de/
Klingt spannend, aber für mich wäre das nichts
Noch immer müssen wir uns für alternative Beziehungsformen rechtfertigen. Sie gelten als Rettungsversuch eines sinkenden Schiffes oder werden gar nicht erst ernst genommen. Einen Beweis, dass es funktioniert, braucht man dann oder zumindest eine Antwort auf die Frage, warum man denn nicht eifersüchtig sei.
Eine reibungslose Koexistenz von Freiheit und Beziehung klingt für uns nach einer unerreichbaren Utopie. Eine anarchische Gefühlswelt birgt die Gefahr, Eifersucht, Schmerz und Verlustangst zu empfinden oder zu verursachen. Der rettende emotionale Fallschirm einer Zweierbeziehung scheint zu fehlen. Vor dieser Verletzbarkeit schützt uns nur die Monogamie. Zumindest wurden wir mit dieser Vorstellung sozialisiert. Die Eltern haben es schließlich auch so gemacht (und sind daran gescheitert?).
Ob nun traute Zweisamkeit oder freies Polyleben, den richtigen Weg zum Liebesglück müssen wir selbst erkunden. Fest steht aber, dass wir vorgegebene Beziehungsstrukturen nicht als alternativlos betrachten sollten. Wir müssen uns nicht in Kategorien wie feste Beziehung, offene Beziehung, Polyamorie oder Freundschaft Plus einordnen und bestimmte Erwartungen erfüllen. Wir selbst bestimmen Rahmen und Spielfeld unserer Beziehungen. Wo wir Grenzen ziehen und Regeln aufstellen, bleibt unsere Entscheidung.
Begriffserklärungen:
Monogamie: Zusammenleben und/oder sexuelle Beziehung mit einem*einer Partner*in
Polygamie: Zusammenleben und oder sexuelle Beziehung mit mehreren Partner*innen
Polyamorie: Liebesbeziehungen mit mehreren Partner*innen möglich
Offene Beziehung/ offene Ehe: Romantische Beziehung zu einem*einer Partner*in, sexuelle Beziehungen zu mehreren Partner*innen möglich
Beim Lesen habe ich angefangen zu frieren. Ich kuschel mich dann mal in meine Decke und denke an meine Exfreundin, in der Hoffnung, von ihr zu träumen.
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