von Inga Niedersberg
Um uns Menschen steht es nicht besonders. Die Anzahl der Menschen, die unter Burn-out, Depressionen oder chronischem Stress leiden ist so hoch wie nie und eine der häufigsten Ursachen für Berufsunfähigkeit in Deutschland. Laut einer 2018 von der Krankenkasse Pronova BKK durchgeführten Studie fühlt sich mittlerweile jede*r zweite deutsche Arbeitnehmer*in Burn-out gefährdet und von ihrem*seinem Job gestresst. Das ist erst mal nichts Neues. Gefühlt seit Jahren wird dieses Thema nun diskutiert und ist mittlerweile auch in der Arbeitswelt angekommen. Die viel beschworene „Work-Life-Balance“ ist nicht mehr nur schöne Utopie. In Büros stehen Tischkicker, es werden After-Work Yoga Kurse angeboten und gemeinsame Wochenendretreats organisiert. Offensichtlich ist somit das Verständnis bereits vorhanden, dass sich unsere Art zu Arbeiten verändern muss.
Warum verändern sich also die Statistiken nicht, wenn sich die Strukturen zum Teil schon gewandelt haben?
New Work Needs Inner Work
Antworten gibt das Buch von Joana Breidenbach und Bettina Rollow „New Work Needs Inner Work“. Das Buch ist ein Ratgeber für Unternehmen, die ihre hierarchische Unternehmensstruktur abschaffen wollen.
Dies bedeutet, dass es keine*n Vorsitzende*n oder Chef*in mehr gibt, alle Mitarbeiter*innen stehen hierarchisch auf der gleichen Stufe. Arbeitszeiten werden flexibel eingeteilt, Urlaubstage untereinander abgesprochen und Gehälter ausgehandelt.
Vorteil dieser Organisationsform ist, dass Prozesse und Rollenbilder nicht mehr statisch feststehen. Stattdessen können Führungspositionen und Aufgaben – ausgestaltet wie eine Art Mandat – flexibel nach den Bedürfnissen und Kompetenzen der Mitarbeiter*innen verändert werden.
Natürlich ist diese Art des Arbeitens nicht für jeden etwas. Sie bietet aber einen Lösungsvorschlag für ein grundsätzliches Problem von konventionell strukturierten Unternehmen. Eine statische Unternehmensstruktur basiert auf dem Konzept, dass die persönlichen Gefühle, Bedürfnisse und Lebensumstände vor der Tür abgestellt werden können und somit ebenso statisch sind wie die unternehmerischen Arbeitsstrukturen. Wer das Arbeitspensum nicht schafft, ist schlicht nicht diszipliniert genug oder ihm*ihr fehlt es an der nötigen Arbeitsmoral. Das Menschsein kann jedoch nicht vor der Tür geparkt werden, die statische Struktur widerspricht der flüssigen Struktur unseres Inneren. Wem geht es schon jede Woche gleich, wer von uns kann und möchte immer gleich viel leisten?
Auf Dauer entsteht so ein Spannungsverhältnis zwischen den eigenen Bedürfnissen und dem zugeteilten Arbeitspensum. Werden diese Spannungen nicht aufgelöst, folgen chronischer Stress, Depressionen,
Burn-out.
Sind Unternehmen nicht in festen Hierarchien organisiert, können diese Probleme viel besser adressiert werden, zum Beispiel indem die Mitarbeiter*innen Aufgaben eigenverantwortlich aufteilen. Die Arbeitsabläufe sind dann fließend – genauso wie die Bedürfnisse der arbeitenden Menschen.
Paradoxerweise machten die Autorinnen die Feststellung, dass nach Einführung der neuen Unternehmensstruktur durchschnittlich 10-20 Prozent der Mitarbeiter*innen ihre Unternehmen verließen. Hauptgründe waren Gefühle der Orientierungslosigkeit und Unsicherheit, wodurch sich viele im Endeffekt noch gestresster fühlten als vorher.
Müssen wir hier also zu dem Schluss kommen, dass es einfach keine bessere Möglichkeit gibt? Dass wir Flexibilität und Freiheit unterbewusst eigentlich gar nicht wollen? Sicher, jeder Mensch ist anders, nicht jede*r sehnt sich nach einem solch extremen Maß an Selbstbestimmung.
Der Grund, weshalb solche Unternehmensstrukturen bisher so selten Anklang gefunden haben, und warum es nicht ausreicht, einfach einen Tischkicker in die Firma zu stellen, ist jedoch ein anderer.
Äußere Strukturen vs. innere Kompetenzen
Sicherheit und Orientierung sind Grundbedürfnisse eines jeden Menschen. Wenn äußere Strukturen genommen werden, z.B. durch nicht hierarchischen Organisationsstrukturen, flexiblere Arbeitszeiten oder durch ein lockereres Verständnis von Disziplin und Arbeitsmoral, geht Sicherheit verloren. Starke innere Strukturen müssen diese verlorene Sicherheit auffangen. Ansonsten führt dies im Umkehrschluss ebenso zu Anspannung und Unausgeglichenheit. Diese inneren Strukturen sind dabei die inneren Kompetenzen eines jeden Menschen zur Selbstorganisation und Selbstreflexion. Die Kompetenz zu erkennen, wie geht es mir jetzt gerade, was kann ich leisten? Auf der Metaebene: Habe ich gerade wirklich Bedürfnisse, die jetzt gerade erfüllt werden müssen oder bin ich heute nur unmotiviert und will die Arbeit schlicht vor mir her schieben?
Joana Breidenbach und Bettina Rollow berichten in ihrem Buch, dass bei jeder Unternehmensumwandlung hin zu einer nicht hierarchischen Organisationsstruktur über ein Jahr mehre Workshops für die Mitarbeiter*innen anbieten. Zweck dieser Workshops ist es, inneren Strukturen aufzubauen, um den Verlust der äußeren, Sicherheit gebenden Strukturen abzufangen. Grund hierfür ist, dass die meisten von uns nie gelernt haben, wie man die eigenen Bedürfnisse in einem freien Raum und nicht im Verhältnis zu einer von außen vorgegeben Struktur, also einem vorgegebenen Soll-Zustand einschätzt.
Seit der Schulzeit wird uns vorgegeben, dass sich unsere Leistung im Verhältnis zu der Leistung anderer definiert. Ich habe gut abgeschnitten, wenn jemand anderes schlechter abgeschnitten hat. Wenn andere noch arbeiten, muss ich auch noch arbeiten. Wenn die anderen noch nicht gestresst sind, kann, darf ich mich noch gar nicht zu gestresst fühlen. Was würde das sonst über mich, meine Arbeitsmoral aussagen? Die vorrangige Frage, um die eigenen Bedürfnisse zu bestimmen, ist somit nicht, wie viel kann ich heute leisten, sondern, wie viel können die anderen heute leisten. Gerade dieser ständige Vergleich zu dem erwarteten Soll-Zustand führt zu einer Spannung mit den eigenen Bedürfnissen, welche auf Dauer krank macht.
Natürlich, wir leben und arbeiten im System einer kapitalistischen Marktwirtschaft. Das Wertesystem der Leistung soll hier gar nicht grundsätzlich auf den Kopf gestellt werden, obwohl es dazu reichlich Gründe gäbe.
Viel eher geht es um das Verständnis, dass es ein wesentlicher Teil des Menschseins ist, sich jeden Tag ein bisschen zu verändern und dass starre, äußere Strukturen nicht der Weg sind, wie jeder Mensch nachhaltig und langfristig seine/ihre beste Leistung erreichen kann. In welcher Form ich jeden Tag am besten arbeiten kann, bestimmt sich nach den eigenen persönlichen, sich stetig verändernden Bedürfnissen und kann in den meisten Fällen nicht durch Nachahmung meines Gegenüber oder durch Anpassung an eine immer gleichbleibende äußere Struktur erreicht werden.
Ein Beispiel: Du sitzt in der Bibliothek und bereitest dich auf eine bald kommende Klausur vor. Du kannst dich nicht konzentrieren. Am gegenüberliegenden Platz sitzt eine Kommilitonin, sie lernt für die gleiche Klausur. Sie sitzt dort schon genau so lange wie du, arbeitet konzentriert und macht keine Anstalten zu gehen. Wie reagierst du? Reflektierst du, was dir gerade wirklich fehlt, was der wahre Grund ist, warum du dich nicht konzentrieren kannst? Und wenn du zu dem Schluss kommst, du bist heute ausgebrannt, emotional angeschlagen oder brauchst einfach einen Tapetenwechsel, gehst du dann? Ganz ohne Schuldgefühle? Oder bleibst du sitzen, zwingst dich, weiter zu lernen und denkst dir: „Reiß dich zusammen, andere kriegen das doch auch hin!“.
Um unser Arbeitsleben selbstbestimmt und nachhaltig zu gestalten, braucht es also Verständnis dafür, wie wir unsere eigenen Bedürfnisse unvoreingenommen erkennen und den Mut entwickeln, nach den eigenen Empfindungen und nicht nach einem wahrgenommenen Soll-Zustand zu handeln.
Natürlich gibt es Berufe und Arbeitsfelder vor allem im sozialen Sektor, in der Pflege etc., in denen der Arbeitsumfang und die Belastung der Arbeitnehmer*innen so enorm ist, dass auch keine umgestellten Unternehmensstrukturen oder Selbstreflexion helfen können. Das soll hier auch gar nicht infrage gestellt werden.
Was kommt nach dem Soll-Zustand?
Grundsätzlich gilt jedoch, dass wir die Art und Weise wie wir arbeiten überdenken müssen und dass die Anpassung nur der äußeren Strukturen dazu nicht ausreicht. Der Wandel muss ebenso in unserem Inneren stattfinden.
Das bedeutet, dass wir neben der Installation des büroeigenen Tischkickers auch unsere persönliche Vorstellung der maximalen Leistung hinterfragen müssen. Wir müssen ein Verständnis dafür entwickeln, dass die Art und Weise wie wir unser Arbeiten gestalten, für jeden von uns anders aussehen kann. Eine Umsetzung dieses Verständnisses in der Praxis setzt voraus, dass wir unsere inneren Kompetenzen zur Selbstreflexion und Metareflexion stärken. Wir müssen also lernen, unsere eigenen Bedürfnisse richtig zu benennen und einzuordnen und müssen statische Leistungsbilder, die uns unterbewusst beeinflussen, aufdecken und uns von diesen lösen. Fehlt es uns an diesen Kompetenzen, läuft jeder äußere Strukturwandel auf Dauer ins Leere. Nur wenn wir diese Punkte grundsätzlich hinterfragen und uns neuen Arbeitsmethoden gegenüber öffnen, können wir unser Arbeiten tief greifend verändern.
Der Text macht mir irgendwie Angst. Ich glaube das liegt daran, dass suggeriert wird, dass ich mich selbst reflektieren muss, um besser und effizienter zu arbeiten. So nach dem Motto: Unser Arbeitssystem funktioniert derzeit nicht, also müsst ihr euch ändern! Das geht das Problem meiner Meinung nach von der falschen Seite an. Anstatt die Arbeitsstunden zu reduzieren oder faire Löhne zu zahlen, wird der Arbeitnehmer zum Unternehmer seiner selbst und wird für seine Ineffizienzen verantworlich gemacht (Wenn du nicht funktionierst, schau mal IN DIR nach, woran das liegen könnte). Für mich klingt das nach Kapitalismus pur, der danach schreit, internalisiert zu werden…
Ich fand Eva Illouz hat das alles sehr nice aufgeschrieben: https://www.suhrkamp.de/buecher/gefuehle_in_zeiten_des_kapitalismus-eva_illouz_29457.html
Das stimmt so nicht @Leon Lobenberg… Der Beitrag regt zum Reflektieren über die eigene Arbeitseinstellung an, entgegen Konkurrenz- und übermäßigen Leistungsdenken. Es wird gesagt, schau mal IN DIR nach, was dich an deiner aktuellen EInstellung unzufrieden macht und verändere dementsprechend dein Arbeitsumfeld und deine Glaubenssätze. Zudem wird die Notwendigkeit zur persönlichen Entwicklung in einer weniger hierarchisch strukturierten Arbeitswelt besprochen. Das hat etwas mit einer liberalen Gesellschaftsform zu tun und nichts mit Kapitalismus.