Wie geht’s dir eigentlich, Europa?

Text von Judith Haslöwer | Bilder von Judith Haslöwer und Allegro Film

Der Film „Mind the Gap“ des österreichischen Regisseurs Robert Schabus erkundet auf einer Reise durch Europa, wie es um unsere Demokratie bestellt ist. Das regt zum Nachdenken an. Haben wir die Wahl?

Was uns in Europa verbindet ist nicht nur der Euro und das Schengener Abkommen, sondern auch – oder insbesondere – der demokratische Geist. Auf institutioneller, europäischer Ebene wird sie als alternativlos und identitätsstiftend präsentiert. Das demokratische System als omnipräsentes Geflecht, das unsere Gesellschaft durchzieht. Dabei entstehen nicht nur Verbindungen zwischen den Nationalstaaten und ihren Bewohner*innen, sondern auch Antagonismen. „Du hast die Wahl!“ und „Deine Stimme zählt!“ appellieren bunte Wahlplakate in deutschen Städten an die Menschen. Doch der Film „Mind the Gap“ hinterfragt die tatsächliche Verteilung der Entscheidungsmacht. Liegt sie wirklich bei uns, den Wähler*innen?

Demokratie im Umbruch
© Allegro Film

Robert Schabus (Bauer Unser 2016) neuer Dokumentarfilm erkundet entlang einer klaren Struktur und unaufgeregten Stilistik den Demokratiebegriff unserer Zeit. Die Reise führt über Frankreich nach Polen, England, Deutschland, Griechenland, Belgien, Irland und schlussendlich nach Österreich. Menschen werden zur Wahlurne begleitet, Gelbwesten ziehen streikend über die Leinwand, ein Haufen brennender Reifen liegt vor einer geschlossenen Fabrik. Das alles sind Bilder der Demokratie. Die Gesichter der Demokratie sind gleichermaßen vielfältig. Es kommen Menschen zu Wort, die Politik studiert haben, andere, die den Glauben an das System verloren haben, werden zynisch und sagen, sie müssten die Bedeutung des Wortes nachsehen.

Unmissverständlich wird das Bild eines frustgeladenen Demokratiebegriffes gezeichnet. Der Film legt den Fokus spezifisch auf die Schwachstellen der Demokratie, eine versöhnlichere Perspektive wird nicht geboten. Die Distanz, die zu den Protagonist*innen gewahrt wird, verhindert eine Emotionalisierung der Debatte, riskiert allerdings, nur die Oberfläche des Problems der Demokratieverdrossenheit sichtbar zu machen. Ein Großteil der Erkenntnisarbeit wird in die Hände des Publikums gelegt. Die Intensität, in der über die einzelnen Länder berichtet wird, variiert stark. Besonderer Fokus liegt auf dem deutschsprachigem Raum. Die Ursache dessen mag in den Nationalitäten des Produktionsteams begründet liegen, dennoch werden Länder ausgespart, die innerhalb eines globalen Gefüges zentrale Positionen besetzen, wie etwa Italien und Spanien. Das Thema transkontinentaler Migration wird kaum aufgegriffen, obgleich es eine große Rolle spielt für die Dynamik des europäischen Raumes sowie internationale Beziehungen.

Trotz dessen schafft der Film es, in einer Makroperspektive größere Zusammenhänge wie etwa Abwanderung, Arbeitsmigration und innereuropäische Profiterwirtschaftung auf plastische Weise zu erklären.

Was vom Film bleibt, ist der Eindruck, der europäischen Demokratie gehe es nicht gut, der EU gehe es nicht gut, oder viel mehr: den Menschen in der EU gehe es nicht gut. Für einige mag sich daraus der subversive Imperativ ableiten, den eigenen Demokratiebegriff zu erkunden. Auf andere überträgt sich womöglich die Frustration. Für beides lässt der Film Raum, ohne Lösungen anzubieten.

Demokratie- aber für wen?

Was läuft also falsch, scheint sich doch die Mehrheit nicht als mächtig und mündig, letztlich vom Diskurs ausgeschlossen, zu begreifen? Alle paar Jahren wählen zu gehen, ist das Demokratie? Auch das Unterschreiben von Petitionen zeigt in wenigen Fällen tatsächlich Wirkung.

Etymologisch bezieht sich das Wort Demokratie auf „dēmos“- das Volk und auf „krátos“- die Macht. Die Macht des Volkes. Wenn das Volk unzufrieden ist mit den demokratischen Ergebnissen, dann scheint es, als sei ihre Partizipation fehlgeleitet. Natürlich besteht Demokratie aus Verhandlungsprozessen und Kompromissen. Nichtsdestotrotz gibt es immer mehr Menschen, die aus Frustration nicht oder etwa Parteien mit antidemokratischen Zügen wählen. Es ergibt sich die Frage, wie eine gesunde Demokratie funktionieren muss. Wie kann sie wieder für das gesamte Volk funktionieren? 

Durch die deutsche Staatsform der repräsentativen Demokratie erhalten die Menschen nur indirekt Entscheidungsmacht. Dies ist in der Schweiz zum Beispiel anders. Hier handelt es sich um eine halbdirekte Demokratie, die dem Volk ein obligatorisches Referendumsrecht zuspricht, im Falle einer Gesetzesänderung. Auf diese Weise kann Demokratie alltagsgerechter gelebt werden und erfordert nicht das persönliche, häufig zeitintensive Bekleiden eines (partei-)politischen Amtes. Denn das ist vor allem nicht vereinbar mit den Lebensrealitäten vieler Erwerbstätiger. Menschen, die in Vollzeitbeschäftigungen arbeiten und in vielen Fällen noch reproduktive Arbeit (z.B. Kindererziehung, Pflege von Angehörigen) leisten, finden selten die Kraft sich ehrenamtlich und aktivistisch zu engagieren. Natürlich könnten sie das, einen kategorischen Ausschluss gibt es nicht.

Die kapitalistische Grundstruktur und der Arbeitsbegriff unserer Gesellschaft lassen jedoch wenig Raum für die politische Repräsentation der Menschen, die sich häufig im Nachteil sehen, wenn es um soziale Entscheidungen und ökonomische Chancengleichheit geht. Gerade ihre Stimmen sind es, die auf diese Weise im politischen Diskurs in den Hintergrund treten. Das führt zu einer Vertiefung des Spaltes, der sich bereits heute durch unsere soziale Mitte zieht. Eine gesunde Demokratie muss inklusiv sein und reale Beteiligung ermöglichen, unabhängig von dem eigenen ökonomischem Status und Beschäftigungsverhältnis.


„Mind the Gap“ von Robert Schabus ist seit dem 17.01.2020 in allen österreichischen Programmkinos zu sehen.

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