Text und Fotografien von Justin Adam
Dass jetzt wirklich Sommer ist, merke ich neben dem Wetter auch an meinen Freunden, die mich nach Hilfe fragen, um ihre Fahrräder wieder verkehrstüchtig zu machen. Es fällt aber auch in der ganzen Stadt auf, dass plötzlich wieder viel mehr Menschen das Radfahren für sich entdecken. Und ich freue mich über jeden einzelnen Radfahrer, jeden Sonntagsradler, jede Familie und das plötzlich wieder Hollandräder statt Mountainbikes die Radwege bevölkern.
Aber stopp mal – Radwege? Raum? Platz? Damit sind wir jetzt schon bei den Nachteilen dieser sommerlichen Fahrradblüte. Plötzlich muss ich deutlich länger nach einem freien Fahrradständer suchen, wenn ich zur Fachhochschule oder zum Bahnhof fahre. Und die Radwege, die ich mir im Rest des Jahres lediglich mit wenigen Gleichgesinnten teile, sind nun überfüllt mit den unterschiedlichsten Sorten von Radfahrern. Wir sind Schüler, Studenten, Auszubildende, Angestellte, Eltern, Senioren, Urlauber oder Sonntagsradler. Wir sind auf dem Weg zur Schule, zur Uni, zur Arbeit, zum Einkaufen, zu Freunden, ins Schwimmbad oder machen nur mal einen Ausflug. Und mit einem Mal treten auf den viel zu schmalen Radwegen unsere unterschiedlichsten Bedürfnisse zu Tage. Wir sind langsam oder schnell, haben Erfahrung oder sind noch etwas unsicher, haben es eilig oder haben Zeit, fahren hintereinander oder lustig quatschend auf einem Haufen. Und wenn alle diese Ansprüche und Wünsche auf einem so schmalen Radweg zusammenkommen, kann es schon mal eng werden.
Sind wir selbst das Problem?
Nein, das Problem fährt oder – viel öfter sogar – steht, neben dem Radweg. Auf zweieinhalb Metern Breite verbrauchen geparkte Autos wertvolle Verkehrsfläche. Daneben auf der noch breiteren Straße schiebt sich die Blechkolonne durch die Stadt. Und an Kreuzungen gibt es sogar zwei oder drei Spuren – nebeneinander, voll Breite versteht sich ja von selbst. Und das alles nur für viel zu große, viel zu teure und für die Stadt ungeeignete Autos. Die Lieferwagen, Handwerkerfahrzeuge und Busse sind dazwischen eine Minderheit.
Ja, das wahre Problem ist die Verteilung des Straßenraums in unseren Städten. In den letzten 20 Jahren hat sich der Anteil des Radverkehrs am Modal Split je nach Ort auf durchschnittlich 10 bis 15 Prozent hochgearbeitet. Wenn ich mich aber in meiner Heimatstadt Erfurt umsehe, hat sich an den Radverkehrsanlagen trotzdem nur wenig verändert. Die Verteilung des Straßenraums stellt sich hingegen noch schlechter dar: Der Flächengerechtigkeitsreport für Berlin hat festgestellt, dass fast 60 Prozent der öffentlichen Verkehrsflächen ausschließlich dem motorisiertem Verkehr vorbehalten sind, während dem Radverkehr nur auf 3 Prozent der Fläche eigene Wege zur Verfügung stehen. Bei uns, habe ich das Gefühl, scheint es nicht anders zu sein. Das Automobil ist König. Die verbleibenden Flächen teilen sich auf Fußgänger und Radfahrer auf, wobei viele der Radwege nicht mal den Empfehlungen für Radverkehrsanlagen entsprechen und so mitunter eine Gefahr für die Nutzer, egal ob nun zu Fuß oder zu Rad, darstellen. Dass in dieser Stadt wichtige Verbindungswege für den Radverkehr gesperrt sind, oder unbedachte Wegegestaltung einzelne Nutzergruppen gegeneinander ausspielt, geht daneben fast unter.
Konflikte unter den Schwächsten, um das letzte bisschen Raum
So eine Lage erzeugt natürlich Konflikte. Einerseits, wie fast überall, den klassischen Konflikt Auto – Fahrrad, wenn Radfahrer statt ungeeigneter Radwege lieber die Straße nutzen und Autofahrer lautstark ihr Verkehrsraumprivileg verteidigen. Andererseits, und das ist viel schlimmer, ruft eine derartige Infrastrukturpolitik Konflikte zwischen den schwächsten und am wenigsten geschützten Verkehrsteilnehmer hervor und spielt sie gegeneinander aus. Und dies sind auch noch die Verkehrsformen, die wir uns für die Zukunft wünschen: Fuß- und Radverkehr.
Die Gruppe der Fußgänger oder Radfahrer ist größer als man im ersten Moment erwarten könnte. Fußgänger ist auch mein Kollege, wenn er mit seinen Söhnen im Zwillingskinderwagen unterwegs ist. Fußgängerin ist meine Großmutter mit Rollator. Fußgänger bin ich, wenn ich im Pulk mit meinen Freunden zur Kneipe gehe, Fußgängerin ist die Freundin meiner Oma im Krankenfahrstuhl – Fußgänger ist jeder Mensch, der potentiell einen Bürgersteig nutzen möchte, sofern der denn dafür geeignet ist (wäre). Mit Radfahrern ist es nicht anders.
All diesen Verkehr auf schmalen Fuß- und Radwegen, engen Schutzstreifen, oder zugeparkten Bürgersteigen unterzubringen ist ganz offensichtlich ein „ambitioniertes“ Ziel, aber vor allem auch gefährlich. Wenn wir möchten, dass zukünftig immer mehr Menschen lieber zu Fuß laufen oder sich für das Fahrrad entscheiden, dann müssen wir die Wege für diese Verkehrsmittel auch sicherer machen. Und das braucht vor allem Platz. Wir brauchen Platz, damit sich keine Türen mehr auf Radwege öffnen, wir brauchen Platz, damit Radfahrer Abstand von Gehwegen halten, wir brauchen Platz, damit Fußwege breit genug sind und überhaupt Radwege angelegt werden können. Genauso viel Platz brauchen wir damit Kinder auf Gehwegen herumlaufen können, ohne direkt auf dem Radweg zu stehen, wir brauchen Platz damit sich ein Rollator, ein Rollstuhl oder ein Kinderwagen begegnen können, ohne dass einer auf die Straße ausweichen muss, oder eben auf dem Radweg steht.
Ist mein Leben wirklich nicht mehr wert als eure Bequemlichkeit?
Dass wir dafür Straßenraum umverteilen müssen, ist ziemlich indiskutabel. Das ist ein MUSS, denn bisher ging es ausschließlich um Sicherheit (nicht um Bequemlichkeit). Von diesen Maßnahmen komme ich als Fußgänger oder Radfahrer vor allem nur sicherer, aber lediglich unwesentlich bequemer ans Ziel. Und umgekehrt ist es Bequemlichkeit von vielen Autobesitzern (beziehungsweise der sie vertretenden Kommunalpolitiker), die uns genau diese Sicherheit verwehrt. Der Platz im Straßenraum ist vorhanden, es hieße aber für die Sicherheit von Fußgängern und Radfahrern beispielsweise auf Parkplätze entlang von Straßen zu verzichten. Wer über die finanziellen Mittel verfügt, ein Auto zu besitzen, kann sich auch einen Parkplatz auf Privatgrund mieten oder kaufen. Ja, das kostet Geld und Ja, das heißt eventuell auch mal ein paar 100 Meter bis zum eigenen Parkplatz laufen zu müssen, aber das ist nicht zu viel verlangt.
Die Ideen sind da – der Wille steht im Stau
Und was machen wir, wenn nicht genug Platz vorhanden ist? Statt gemeinsamer (und oftmals viel zu schmaler) Fuß- und Radwege könnten wir ein generelles Tempo 20 oder 30 innerhalb geschlossener Ortschaften einführen. So könnten Radfahrer mit auf der Straße fahren und der Bürgersteig bliebe ausschließlich dem Fußverkehr vorbehalten. Ja, deswegen braucht man vielleicht mal etwas länger, um durch die Stadt zu kommen, aber die Wahrheit ist auch: Ein Nachteil ist das nicht. Für Leben und Unversehrtheit anderer Verkehrsteilnehmer sollte es uns das sogar wert sein.
Das nicht jeder in Kategorien der Sicherheit denkt, zeigte mir eine Podiumsdiskussion zur Zukunft des Stadtverkehrs in Frankfurt. In der anschließenden Teilnehmerrunde wurde meine Frage, ob man sich in Frankfurt die Einführung eines generellen Tempo 30 zum Schutz von Fußgängern und Radfahrern vorstellen könnte, erst milde belächelt und anschließend entsetzt zurück gefragt, wie ich mir denn vorstellte, dass in Zukunft Handwerker, Berufspendler, Eltern und andere Autonutzergruppen durch die Stadt kämen. Um es klar zu sagen: Hier wurde die Bequemlichkeit weniger über die Sicherheit vieler gestellt.
3, 2, 1 – unsers! Umverteilung im Straßenraum
Es gibt und gab nie einen Anspruch auf den Besitz oder die Nutzung eines Automobils. Ein anderes Versprechen gibt es schon und das ist Daseins-Grundvorsorge, man könnte auch sagen Versorgung und Teilhabe. Am Verkehr teilnehmen, von A nach B kommen zu können, ist durchaus etwas, das jedem und jeder zu ermöglichen, sich unsere Gesellschaft verpflichtet hat. Dafür muss ich kein Auto besitzen. Aber ich darf den Anspruch formulieren, dass ich genauso sicher wie jeder andere meinem Verkehrsbedürfnis nachkommen kann. Und wenn das bedeutet Straßenraum umzuverteilen, die schnellen und besser geschützten für die langsamen und verletzlichen auszubremsen, dann sind wir verpflichtet diese Veränderung im Sinne unseres Versorgungsauftrags umzusetzen. In Zukunft soll es nicht mehr möglich sein für Komfort, Geschwindigkeit, kürzere Laufwege, oder aus wirtschaftlichen Beweggründen die Sicherheit anderer Verkehrsteilnehmer zu schröpfen. Und damit das passiert, müssen wir als Fußgänger und Radfahrer zwei Dinge tun:
- Wir müssen vorerst einen Teil unserer Ansprüche zu unserem gegenseitigen Schutz zurückstellen. Zum Beispiel als Fußgänger stärker auf Radfahrer achten als es angenehm ist oder als Radfahrer langsamer fahren als es angemessen wäre – es ist unbequem, aber es schützt uns gegenseitig.
- Wir müssen miteinander reden statt streiten. Es ist nicht Fahrrad versus Fußverkehr. Wir müssen gemeinsam und lautstark den Raum von denen zurückfordern, die viel zu viel davon haben und das ist der Autoverkehr. Die meisten heutigen Nutzungskonflikte lösen sich dann fast von allein.
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Wie dir bestimmt aufgefallen ist, hat der Autor sich entschieden nicht zu gendern. Warum wir uns die Freiheit nehmen, viele unserer Artikel zu gendern, aber es auch zu erlauben das nicht zu tun, diskutieren wir in 14 Tagen hier auf sai.
Ein toller Artikel über ein so wichtiges Thema! Danke!
Guter Artikel und gut auf den Punkt gebracht! Hier in Berlin ist es wirklich immer ein Kampf, heile durch die Stadt zu kommen – und dafür muss nicht mal Rush Hour sein..
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