Text und Fotografien von Justin Adam
An der Station
Langsam läuft der Wassertropfen über die Überschrift, die die neusten Neuigkeiten verkündet. Die schwarze Tinte verwischt leicht und der Tropfen – unaufhaltsam – hinterlässt eine Spur. Er rinnt weiter hinab, das Papier hinunter, die schwarze Spur hinter sich herziehend, bis er am Rand, vereint mit einem Zweiten, hinunter stürzt. In einem Rinnsal Tausender Tropfen läuft er das Pflaster entlang und verschwindet langsam, aber unvermeidlich in der stillen Dunkelheit.
Und immer weitere Tropfen folgen, stürzen vom Dach der Wartehalle in die Tiefe. Ein Tropfen blitzt auf, in dem Moment als er sich nicht mehr an der Dachkante halten kann. Er blitzt auf im Licht, das fahl durch das beschlagene Fenster über der Tür in die Dunkelheit hinaus dringt. Er fällt hinab und landet auf dem Rücken des Zeitungshändlers und wird ein weiterer schimmernder Stern in dieser Galaxie aus funkelnden Regentropfen, die sich über die schwarze Wolle seines Mantels erstreckt. Hunderte, Tausende, unzählbare Tropfen ziehen sich über seinen Rücken und auch sie schimmern im kraftlosen Licht, das durch die trüben Scheiben der Eingangstür zur Wartehalle fällt. Das Licht, es kündet beständig davon, dass hier noch Leben ist. Es verschluckt die dunklen Gestalten, die aus der Finsternis erscheinen und spuckt sie regelmäßig wieder in die Dunkelheit hinaus, auf dass sie vom schweren Nebel aufgenommen werden, der alles umgibt.
Und in diesem Nebel, im leichten Regen, in der Dunkelheit, dem wenigen Licht den Rücken zugewandt, steht er hier. Er steht hier schon lange. Seit Stunden, seit Tagen, seit Wochen – schon immer. Er steht hier fast vollkommen still und bietet den Reisenden, den Eilenden, den dunklen Gestalten, die immer wieder aus dem dichten Nebel auftauchen seine Zeitungen zum Kauf an. Das Exemplar für 70 Cents.
Die grauschwarze Schiebermütze tief ins Gesicht gezogen, den Hals durch ein Tuch geschützt, in einem knielangen dunklen Wollmantel steht er hier. Zu seiner Seite die Holzkiste mit weiteren Exemplaren seiner Zeitung, vor Regen geschützt durch ein altes graues, schweres Segeltuch. Er sagt nichts. Er schreit nicht hinaus, was in der Welt passiert ist. Verkündet nicht, welche Schicksale der Menschheit widerfahren sind. Keine Schlagzeile bringt ihn aus der Ruhe, kein Wort, das ihn beunruhigen könnte.
Den vorbeieilenden Schatten hält er seine Zeitungen entgegen. Stumm schreien sie die täglichen Schreckensmeldungen an. Ohne nur die Miene zu verziehen, ohne nur den Mund zu öffnen, erschüttert er sie mit seinen Meldungen bis aufs Mark. Aber es gab auch Tage, da entlockt er den Vorbeieilenden ein Lächeln mit seinen Schlagzeilen. Da brachte er ihn schöne Nachrichten. Dennoch, auch das berührt ihn nicht, er nimmt es regungslos auf. Er erträgt es gleichsam gleichgültig wie den Regen, den Nebel und die Dunkelheit, die ihn langsam verschlucken.
Und bleibt jemand stehen, gefesselt von den neuesten Neuigkeiten, so wechseln still eine Zeitung und 70 Cents den Besitzer. Die Schatten ziehen weiter und er bleibt stumm zurück und hält wiederum ein neues Exemplar in die Höhe. Wie eine Laterne, nur wirft er keinen Lichtschein.
Und so steht er in der nebeligen, kalten Dunkelheit vor der Eingangstür zur Wartehalle aus deren großen, trüben Glasfenstern das gedämpfte Licht in die Lichtleere hinausströmt. Es strömt wie ein Rinnsal von Wasser, das auf trockenen Boden fällt, nach kurzem Weg ist es bereits versickert und in nur geringer Entfernung, da weiß man nicht einmal, dass das Wasser je geflossen ist, dass das Licht je versucht hat die Dunkelheit zu durchbrechen. Aus den großen Fenstern, ja vielmehr, tropft das Licht, ein Licht wie es typisch ist für Bahnhöfe. Ein Licht für Abschied, ein Licht, das von Aufbruch in die Helligkeit kündet, das Licht auf den Gesichtern der Wartenden, der Startenden und der Gestrandeten. Doch draußen fällt das Licht nur auf seinen Rücken und die Wassertropfen, die sich an seinem Wollmantel halten. Darüber hinaus verliert es sich recht bald in der Dunkelheit. Hier und da schimmert noch ein Pflasterstein in der Ferne und von Zeit zu Zeit blitzt das Gesicht eines vorbeieilenden Schattens auf. Aber sein Gesicht, das liegt im Dunkeln. Durch den Nebel und den leichten Regen dringt das schwache Licht der Straßenlaternen von der anderen Seite des Platzes. Aber es dringt nicht bis zu ihm durch, es bleibt wie eine Hoffnung, die sich doch niemals erfüllen wird.
Aus dem Dunkel des Abends und dem Dickicht des Nebels strömen immer weitere Menschen zum Bahnhof – auch sie nur Schatten mit wenig Licht. Einzeln, allein laufen Sie dem Licht der Wartehalle entgegen. Es ist, als zöge es sie an, wie eine Hoffnung auf ein Versprechen, eine Hoffnung auf etwas Entferntes und dennoch sind sie unwissend, ob sie es jemals erreichen. Und er steht dort wie der letzte Posten der Finsternis, wie ein Fels in der Brandung zwischen den Menschen, die zwischen Licht und Dunkelheit, zwischen Form und Schatten hin und her gespült werden.
Vom Dach der Wartehalle löst sich ein weiterer Tropfen, kurz blitzte er auf im Licht vor dem Fenster und fällt weiter hinab. Mit einem fast unhörbaren Geräusch schlägt er auf einem leicht schimmernden Pflasterstein auf und vereinigt sich kurz darauf mit einem Rinnsal, das an einer leeren Holzkiste vorbei in die Dunkelheit fließt. Das schwere Segeltuch auf den Zeitungen, es ist schon längst vollkommen durchtränkt. Und ein weiterer Tropfen fällt, doch auch ihn wird nichts auffangen. Er wird unweigerlich auf den Boden niederstürzen und in die Dunkelheit hinausfließen. Und auch das Licht hat nichts mehr, das es fangen könnte. Es verschwindet einfach in der Dunkelheit. Über dem Platz liegt eine schwere Stille, liegt der Nebel, liegt die Finsternis, fallen all die einzelnen Regentropfen, hasten all jene einsamen Menschen und es ist, als sei hier nie etwas anderes als Dunkelheit gewesen in dieser Galaxie aus Regentropfen auf dem Wollmantel eines Zeitungshändlers.
Großartige Betrachtung, fast wie ein Gemälde.
@Amirah – Vielen Dank für diesen schönen Vergleich.