Ich bin Litauer. Die Ukraine kämpft auch für meine Zukunft

von Karolis Vyšniauskas

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Wenn Putin in der Ukraine erfolgreich ist, sind dann die baltischen Staaten sein nächstes Ziel?

„Die litauische Präsidentin Dalia Grybauskaitė hat Russland als ‚terroristischen Staat‘ bezeichnet und davor gewarnt, dass sich der aktuelle Konflikt in der Ukraine weiter ausbreiten könnte, wenn er nicht gestoppt wird“, berichtet die Baltic Times. Der Bericht klingt, als sei er heute veröffentlicht worden. Tatsächlich stammt er aber aus dem Jahr 2014. Das Statement der Politikerin war eine Reaktion auf die Annexion der Halbinsel Krim und von Teilen der Ostukraine durch die russischen Streitkräfte. Damals stand Grybauskaitė mit ihrer Aussage alleine da.

Als russische Streitkräfte in dieser Woche zivile Gebäude in den ukrainischen Städten Kiew und Charkiw bombardierten, wiederholte der ukrainische Präsident Wolodymyr Zelenskij, was Grybauskaitė bereits vor acht Jahren gesagt hatte: „Russland ist ein terroristischer Staat. Offensichtlich.“ Für viele Litauer:innen hat die Entscheidung Wladimir Putins, in die Ukraine einzumarschieren, zu einem düsteren ‚Ich hab’s euch ja gesagt‘-Gefühl geführt.

In den vergangenen drei Jahrzehnten seiner Unabhängigkeit ist Litauen zusammen mit den anderen baltischen Staaten Lettland und Estland zu einem Vorbild dafür geworden, wie ehemalige Sowjetstaaten zu Demokratien werden können. Heute rangiert Litauen auf dem Index für Pressefreiheit höher als das Vereinigte Königreich, Frankreich und die USA. Die Gehälter in der Hauptstadt Vilnius liegen inzwischen über dem EU-Durchschnitt, obwohl auch die Einkommensungleichheit zugenommen hat.

Litauens einzigartige Position

Die besondere geopolitische Lage Litauens – mit der russischen Provinz Kaliningrad auf der einen und Weißrussland auf der anderen Seite – hat die Bürger:innen gezwungen, ihre Unabhängigkeit nie als selbstverständlich anzusehen. Seit 2014, als Russland die Krim annektierte und in die Ostukraine einmarschierte, hat das Land seine Militär- und Verteidigungsausgaben verdoppelt und die Wehrpflicht wieder eingeführt. Rund 77 Prozent der Bevölkerung unterstützt die NATO (der Litauen 2004 beigetreten ist), was nach Polen die zweithöchste Zustimmungsrate in der EU ist.

Als die russische Armee mit ihrer Invasion in der Ukraine begann, wussten die Litauer:innen genau, was sie zu tun hatten. Mehr als 20.000 Menschen gingen in Vilnius, Kaunas, Klaipėda und Šiauliai, den vier größten Städten des Landes, auf die Straße, um den ukrainischen Widerstand zu unterstützen. In nur sechs Tagen sammelten litauische Bürger:innen und Unternehmen 10 Millionen Euro für ukrainische Soldat:innen. Das Parlament des Landes stimmte einstimmig für eine Resolution, in der die russische Aggression verurteilt wird. Die größte Supermarktkette Litauens stellte den Verkauf von in Russland hergestellten Produkten ein. Der Kulturminister kündigte an, dass Auftritte von Künstlern aus Russland abgesagt werden würden. Die litauische Rundfunk- und Fernsehkommission suspendiert sechs staatlich kontrollierte russische Fernsehsender.

Der Russland-Boykott hat auch internationale Unternehmen erreicht. Viele Litauer:innen schlossen etwa ihre Konten bei der Revolut-Bank, weil der Mitbegründer der Bank Putins Vorgehen nicht verurteilte. Sein Vater unterhält gute Verbindungen zum russischen Staatsunternehmen Gazprom. Acht litauische gemeinnützige Medienorganisationen (darunter NARA) verließen die Crowdfunding-Plattform Patreon, nachdem diese eine ukrainische NGO (Non-Governmtal-Organisation) gesperrt hatte, die Geld für ukrainische Soldat:innen sammelte.

Es ist zu hoffen, dass solche Aktionen eine klare Botschaft an das russische Volk senden: Bitte tut etwas gegen euren Präsidenten, und zwar sofort. Alle roten Linien wurden überschritten.

Die Litauer:innen haben den russischen Imperialismus schon einmal erlebt. Die Besetzung der drei baltischen Staaten durch die Sowjetunion begann in den 1940er-Jahren und dauerte 50 Jahre lang. Fast jede:r Litauer:in hat ein Familienmitglied, das von der stalinistischen Regierung deportiert wurde. Die tiefgreifenden sozialen Probleme, von denen Litauen heute noch betroffen ist – darunter mangelndes Vertrauen in die Institutionen, chronischer Alkoholmissbrauch und hohe Selbstmordraten – lassen sich bis in die Sowjetzeit zurückverfolgen. Wobei die neoliberale Politik der letzten Zeit ebenfalls an der Lösung dieser Probleme scheiterte.

Wenn wir Putin in der Ukraine nicht aufhalten, werden wir trotzdem einen Krieg führen müssen, aber in unseren Ländern.

Dalia Grybauskaitė, ehemalige Präsidentin Litauens

Angesichts der Geschichte Litauens und der Erklärung der russischen Regierung, sie wolle die Welt in den Zustand von 1997 zurückversetzen, ist zu befürchten, dass Litauen, Lettland oder Estland als nächstes auf Putins Abschussliste stehen könnten. Zu dieser Zeit waren die baltischen Staaten nämlich noch kein Mitglied der NATO.

Welche Rolle spielt die NATO?

Hal Brands ist Professor für globale Angelegenheiten an der Johns Hopkins University in den USA. Im Jahr 2019 stellte er eine Frage, die heute wieder aktuell ist: „Würden die USA einen Atomkrieg führen, um Estland zu retten?“ Im Moment hat die amerikanische Gesellschaft wenig Lust auf eine ausländische Intervention. Und viele in den USA und Europa waren verständlicherweise beunruhigt, als Putin am Montag das russische Militär anwies, seine nuklearen Abschreckungskräfte in höchste Alarmbereitschaft zu versetzen.

Die Litauer:innen wollen sicherlich keinen Atomkrieg. Aber wenn sie die Zusage der NATO hören, ihre Streitkräfte niemals in die Ukraine zu schicken, selbst wenn die Zahl der Toten steigt, könnte ihr Vertrauen in das Bündnis bröckeln. So argumentierte Grybauskaitė am Mittwoch, die nach zwei Amtszeiten zwar nicht mehr Präsidentin ist, aber in Litauen immer noch große Zustimmung genießt: „Wenn wir Putin in der Ukraine nicht aufhalten, werden wir trotzdem einen Krieg führen müssen, aber in unseren Ländern.“

Im Moment bleibt den Litauer:innen nur die Möglichkeit, den ukrainischen Widerstand weiter zu unterstützen, indem sie vertrauenswürdige Nachrichten verbreiten und Geld spenden. Aber auch indem sie differenzieren zwischen ihrer Opposition gegen Putin und den russischstämmigen Litauer:innen, die zwar eine kleine Minderheit (5 Prozent der Bevölkerung) darstellen, aber ein wichtiger Teil der litauischen Identität sind.

Bislang kämpfen die Ukrainer:innen leidenschaftlich mit ihrem tapferen Präsidenten Volodymir Zelenskyi. Aber dieser Krieg steckt noch in den Kinderschuhen. Werden sie aus eigener Kraft den russischen Angriff abwehren können? Oder begeht die NATO einen tödlichen Fehler, wenn sie der Ukraine nicht mehr hilft?

Die Antworten auf diese Fragen werden auch über die Zukunft Litauens entscheiden.


Karolis Vyšniauskas ist Mitherausgeber von NARA. Derzeit studiert er mit einem Fulbright-Stipendium „media innovation“ an der New York University.

NARA ist ein Kollektiv von Journalist:innen und Medienschaffenden, deren Arbeit auf den Grundsätzen des ethischen Journalismus beruht. Was 2015 in Litauen als Zwei-Personen-Projekt begann, wuchs bald zu einer Gemeinschaft von mehr als zehn Personen heran, deren Arbeit mehrfach mit lokalen und internationalen Preisen ausgezeichnet wurde. Im Jahr 2017 startete dieses Team auch den ersten professionellen litauischen Podcast namens NYLA.

Dieser Artikel wurde zuerst am 4. März um 16.03 Uhr auf openDemocracy veröffentlicht.


Aus dem Englischen von Paul Stegemann.

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