Von Paul Stegemann | Illustrationen: © Jennifer Beust
Du stehst in der Eisdiele und bist schon wieder völlig aufgeschmissen, weil du dich für keine Sorte entscheiden kannst? Kinder-Eis, Mango, Trüffel, Cherry-Fantasia, oder doch lieber klassisch Erdbeere und Schoko? Hast du dich entschieden, schleckst du am Eis und ärgerst dich, weil du doch besser Vanille hättest nehmen sollen.
Wir – die zwischen 1985 und 2000 geborenen Generationen Y und Z – sind in Deutschland mit scheinbar grenzenlosen Möglichkeiten aufgewachsen. Genau wie die vorherigen Generationen sind wir eine äußerst heterogene Masse aus leidenschaftlichen, depressiven, verrückten und liebevollen Menschen mit den unterschiedlichsten Startchancen im Leben, die sich von außen betrachtet so schön leicht pauschalieren lassen. Zu den Vorwürfen der Baby-Boomer, wir seien faul , egozentrisch, unsportlich, bindungsphobisch und sowieso schlechte Arbeitnehmer*innen mit astronomischen Gehaltsvorstellungen, kommt die sichere Erkenntnis, dass wir uns einfach nicht entscheiden können. Das ist ein Problem. Kein volkswirtschaftliches wie Hedge-Hunter bereits befürchten, sondern ein subjektiv-individuelles Problem. Für jede*n Einzelne*n von uns.
Marmelade macht glücklich
Laut dem amerikanischen Glücksforscher Barry Schwartz besagt das schier unumstößliche Dogma aller westlichen Gesellschaften, dass die Maximierung von Freiheit die Maximierung von Glück bedeutet. Diese Formel wurde gemäß Schwartz fälschlicherweise subsumiert, wonach die Maximierung von Freiheit durch die Maximierung von Möglichkeiten erfolgt. Bereits im Jahr 2000 lauerten die Psycholog*innen Sheena Iyengar und Mark Lepper diesem Irrtum auf, als sie Marmelade auf einem Wochenmarkt verkauften. An einem Tag hatten sie 24 verschiedene Konfitüren im Angebot, an einem anderen nur sechs. Die große Auswahl zog zwar deutlich mehr Aufmerksamkeit der Kund*innen auf den Stand, doch verringerte die Wahrscheinlichkeit eines Kaufs im gleichen Zuge um ein zehnfaches gegenüber dem Tag mit der kleineren Auswahl.
Möglichkeiten sind etwas Tolles! Eine große Auswahl zu haben ist ein Privileg, ein Erfolg des Wohlstands und der freien, kapitalistischen Marktwirtschaft. Zwischen 20 verschiedenen Eissorten entscheiden zu können, bedeutet objektiv, dass es wahrscheinlicher ist, seine Lieblingssorte zu finden. Es bewirkt dennoch ebenso eine tiefe, subjektiv-individuelle Unzufriedenheit mit der objektiv richtigen Entscheidung.
Schwartz, Iyengar und Lepper benannten damit Anfang des Jahrtausends beinahe prophetisch ein Problem, welches das größte der kommenden Generation werden sollte. In einer Zeit in der Tinder uns ein schier grenzenloses Angebot an potenziellen Sexpartner*innen schenkt, der Drogeriemarkt uns zwischen 35 verschiedenen Zahnpasten wählen lässt und der Studienführer des Arbeitsamtes so dick ist wie noch nie, können wir uns schlicht nicht entscheiden. Denn während wir stündlich damit beschäftigt sind, unsere Energie für diese banalen Entscheidungen aufzuwenden, haben wir weniger Sex als unsere Eltern, verbringen mehr Zeit auf Social-Media als in Kneipen, wechseln unser Studium, bekommen Darmkrebs oder absolvieren ein weiteres unbezahltes Praktikum.
Früher war alles besser
Meine Oma konnte sich nicht entscheiden. Sie hat einfach eine Fleischfachverkäuferinnen-Ausbildung angefangen, weil das die einzig freie Stelle war. Nachdem sie diese abgebrochen hat, war sie für das Arbeitsamt eine Verrückte, die umso mehr Glück hatte, noch eine freie Lehrstelle als Krankenschwester zu bekommen.
Das mag amüsierend sein, solange wir uns den Kopf zerbrechen über Marmeladen und Eissorten, aber nicht, wenn wir unseren Lebensweg ebnen sollen. Für welchen Beruf interessiert du dich denn, wurde ich auf der Berufsmesse gefragt. Welches Studium passt zu dir, hat mir hochschulstart.de beantwortet. Die Wissenschaftler Mark Seery und Thomas Saltsman der Universität Buffalo wissen, bei wichtigen Fragen ist das Stresslevel aus Überforderung mit den Möglichkeiten und die Unzufriedenheit mit der Entscheidung besonders hoch.
Mehr selbstbewusste Lässigkeit
Doch, anstatt den Kopf in den Sand zu stecken, hat der junge Wissenschaftler Saltsman eine Idee, wie wir unsere Entscheidungsunfähigkeit überwinden können. Die Beantwortung banaler Fragen wie die Wahl des Mittagessens in der Mensa, würden uns nicht als Personen definieren, glaubt Saltsman. Außerdem sei es hilfreich sich vor wichtigen Entscheidungssituationen einige wenige, wichtige Orientierungslinien bewusst zu machen, was wir von der gewünschten Option erwarten. Das würde nicht nur helfen, die Nummer der Möglichkeiten zu minimieren, sondern vielleicht auch unser Selbstvertrauen zurückgewinnen in die verloren geglaubte Fähigkeit Entscheidungen zu treffen.
Ein positives mind-set ist also alles, was wir brauchen. Wenn wir uns im Klaren über unsere Bedürfnisse und Wünsche sind, werden wir selbstbewusster und zufriedener mit unseren, manchmal willkürlich anmutenden, Entscheidungen. Geht es nach Saltsman sollten wir wahrscheinlich mehr über unsere Stärken und Vorzüge reden, als ständig über die Unfähigkeiten unserer Generation zu jammern oder gar noch ein Artikel über dieses Thema zu veröffentlichen. Für das Jammern sind die Baby-Boomer da.
Ist doch toll! Wir wollen uns gar nicht für irgendein Unternehmen, für viel Geld zu Tode arbeiten, sondern suchen nach einer halben oder dreiviertel Stelle, die uns erfüllt oder wenigstens nicht zum Burnout mit 40 führt. Wir erkennen die brutalen Seiten der Arbeitswelt, aber wissen vor allem auch um die schönen Seiten des Lebens, weswegen wir uns an den Feierabend halten und weniger Überstunden als die älteren Kollegen*innen sammeln. Unsere finanzielle Zukunft sieht dank Finanzkrise ohnehin nicht rosig aus. Wir Jungen wählten bei der letzten Europawahl progressiv, gegen eine klimaschädliche Politik und für einen Systemwechsel. Wir sind die ersten digital natives und haben schon ziemlich klare Vorstellungen davon, welche Rolle die Digitalisierung und soziale Medien in unserem Leben spielen, aber auch welche Gefahren sie mit sich bringen.
Wir könnten ziemlich zufrieden mit uns sein und weiter unseren etwas anderen, lebensbejahenden, kapitalismuskritischen Weg gehen, anstatt uns sagen zu lassen wie faul wir sind. Wir müssen uns nur dafür entscheiden.