Text von Jonas Wegener | Collagen von ©Lena Leitner
Unwirklich.
Und, wie wirke ich? Frage ich mich selbst, als ich das Bild auf Instagram anschaue, bevor es hochgeladen wird. Sexy? Glücklich? Zufrieden? Beneidenswert? Traurig? Langweilig?
Ich fange an nachzudenken. Wie will ich eigentlich wirken? Was passt gerade zu mir? Oder besser gesagt, wer bin ich gerade?
Ich möchte irgendwie, naja, mhh, ja, was möchte ich eigentlich? Mit diesem Bild? Oder mit den 150 Zeichen, in die meine Biografie passen soll?
Ich kann ja schlecht schreiben: „geboren am…in…mit drei Jahren in den Kindergarten gekommen. Das erste Mal allein auf Toilette war ich mit …“
Aber warum eigentlich nicht?!
Wo also anfangen? Vor einem Jahr? Vorgestern? Heute?
Okay, einfach mal das schreiben, was ich heute gemacht habe.
„Arbeiten, Fahrrad fahren, kochen, Musik hören, 5-mal auf Klo gewesen, einmal geduscht. Viel gelacht.“
Das trifft es, ja, so bin ich heute gewesen. Doch so ist es nicht immer. Ich bin jeden Tag anders. Sind wir das nicht alle? Eigentlich müsste ich meine Beschreibung jeden Tag ändern.
„Zu Hause geblieben, gekocht, am PC gesessen, was für die Uni gemacht, 6-mal auf Klo gewesen, einmal geduscht. Wenig gelacht.“
Doch genau an diesen Tagen, an denen ich nichts „Aufregendes“ erlebe, fühle ich mich, als hätte ich nichts zu teilen. Dabei wäre ein Bild von meinem Schreibtisch oder der eine verschriftlichte Selbstzweifel doch genauso eine Information wie das Bild vom letzten spaßigen Treffen mit Freunden. Bloß eine, die zwar wirklich, aber anscheinend nicht passend ist. Doch unpassend wozu eigentlich? Zu einer „Alles passt“-Norm?
„Zu Hause geblieben, gearbeitet, joggen gewesen, mit niemandem gesprochen, 5-mal auf Klo gewesen, zweimal geduscht. Gar nicht gelacht.“
Es passt gar nichts. Mein Leben ist nicht 4:5 und passt auch nicht in den oben vorgegebenen Ausschnitt. Mein Leben geht bestenfalls länger als 60 Sekunden und hat mehr als 15 Mb. In der „Alles-passt“-Norm wird also immer zugeschnitten. Ausgeschnitten. Und dieser Ausschnitt, in den mein Bild nun muss, die eine Sekunde, in der das Bild aufgenommen wurde, diese EINE von 86.400 Sekunden, die wir pro Tag haben, soll mich nun also beschreiben?
„In die Natur gefahren, mit Freunden geschwommen, Musik gemacht, 7-mal auf Klo gewesen, zweimal geduscht. Sehr viel gelacht.“
Ja, mir geht’s gut. Gut und dir? Alles gut, passt schon, und bei dir? Passt schon. Passt schon! Fast schon hätte ich dir eine gescheuert, aber: NEIN! Es passt nicht. Weder in die drei Sekunden, die du dir nimmst, um nach meinem Gefühlszustand zu fragen, noch in das Bild, das eine vorgegebene Größe einhalten muss. Es ist einfach unwirklich.
Wirkl-ICH, glaub mir, ist auch das, was in den anderen 86.399 Sekunden passiert. Und wir haben alle unsere Gründe, darüber zu berichten, oder es eben sein zu lassen.
Eigentlich sollte jedes Bild einen Warnhinweis enthalten: „Achtung! Dieses Bild repräsentiert nur eine Sekunde (wenn überhaupt) eines ganzen Lebens. Ich bin auch manchmal traurig, wütend, frustriert, weinend, gelangweilt…“ Eine „Realitäts-Trigger-Warnung“ sozusagen. Doch wollen wir zu oft aus dieser „einen“ Realität entfliehen. Und mit unseren hochgeladenen Bildern und Texten tragen wir alle dazu bei.
Kollektive Realitätsflucht.
Vielleicht können wir diese Flucht aber auch für etwas nutzen. Um zu sagen: „Hey, das liebe ich (zu tun)! Wer noch?“ oder „Wer denkt/fühlt sich gerade genauso?“. Um aus dem Fliehen und Suchen ein Ankommen und Finden zu machen. Um Gleichgesinnte zu finden. Und vielleicht werden sie am Ende auch etwas mehr von deinen restlichen 86.399 Sekunden hören wollen.
„Geschrieben, nette Leute kennengelernt, Neues an mir entdeckt, 5-mal auf Klo gewesen, einmal geduscht. Viel gelächelt.“
Doch ab und zu sollten wir abschalten. Trotzdem herunterfahren? Ja! Denn unser Gehirn braucht, ebenso wie ein Computer, seine Zeit, um Dinge zu verarbeiten und abzuspeichern. Dabei hilft uns auch Social-Media nicht. Fahren wir also trotzdem herunter, trotz Selbstpräsentationsdruck, trotz potenzieller Bekanntschaften, trotz dem neusten Mix der Woche. Nachrichtendrang? Beenden. Selbstbetäubung durch zu viele Informationen? Beenden. „Wie wirke ich?“ ist noch geöffnet. Beenden. Herunterfahren…
Plötzlich: Stille. Jetzt heißt es nicht mehr „Wo ist die Zeit hin?“, sondern „Was mache ich mit der Zeit?“.
Aber wem erzähle ich jetzt, wer ich bin und was ich heute alles gemacht habe?
Brauche ich das?
Wirklich?