poetry weekly 14.0

von Tugba, Luise und Laura Beitragsbilder: Teresa

Alphabet der Sehnsucht von Tugba Dindar

Heute hast du mir ein Foto in die Hand gedrückt
Auch du warst einst klein, sorgenfrei
Zerbrechlich, vielleicht so wie ich dich nie kannte
Gelernt habe ich mit den Wellen des Lebens
Synchron zu deiner Stimme
Denn unsere Sprachfärbung sprengt alles kaputt
So unterschiedlich sie sind
Vereinen sich unsere Seelen im Klang
Entfremdung, Einsamkeit, Leben, Lieben, Siegen, Scheitern
Wie kämpferisch muss deine Stille gewesen sein
Alles was dir die Kehle je zugeschnürt hat
Steigt aus mir empor
Meine Triebfeder
Mos hesht (albanisch für „sei nicht still“)
Wenn dein Schrei nicht laut genug war
Meiner wird es für dich sein
Solange du erinnerst
Gibt es ein Fenster, durch das du immer sehen kannst
Die Balance zwischen Stärke und Feminität
Wenn man mutig genug ist
Sieht man deinen Regenbogen
Fjalt e nanes (albanisch für „Worte der Mutter“)
Ich erinnere mich an die Tage
An denen mich Scham überkam, dein Akzent
Man hört Mami ist nicht von hier
Verzeih mir
Da wähnte ich alles, aber wusste noch nicht
Dass es die Heimat war, die aus dir sprach
Fehlende Worte waren es nicht
Ein Echo von Vorfahren und der Herkunft stieß hervor
Ich bin alles, was du hättest werden können
Und du bist alles, was womöglich in mir steckt
Du fühlst dich an wie Heimkehr
Und ich bin nicht pathetisch
Aus mir spricht nur die Sehnsucht

Ohne Titel von Luise

Die Seiten im Wohnzimmer verteilt
in den Ohren ein Rascheln
von Kinderbuchpapier auf das wir
Landstraßen mit Wachsmalstiften gemalt hatten
grüne Gärten mit grüneren Aussichten
Ich will sie einrahmen an die Wand hängen in jeder Wohnung ansehen
mitnehmen

Die Heizung ist aus
unlesbare Krakelschrift
halte die Augen zu mit dem
was ich aus Umzugskisten zusammenkratze
versteckt gelagert
leer am Kopf vorbei
schlittern die Bilder durch meine Finger
Drehe mich im Kreis bis ich im Spiegel stehe
kleine Schuhe, laufende Nase

Reflektiere verstrichene Emotionen
Die Dielen haben nie aufgehört zu schwanken wenn man drauf tritt
unbeabsichtigt unbedacht mit
voller Wucht unwissend
Jetzt auf Zehenspitzen
kein Gleichgewicht
bin bedacht
den einen Fuß vor den anderen
Nochmal laufen lernen, verlaufe mich
in den Kartons suche ich nach
pausierenden Momenten und vergrabenen Erinnerungen
an die ich bis jetzt nicht denken wollte

Finde Hände im nassen Gras
atme mit sieben Jahren
verstrichene Luftzüge
bin wohl rausgewachsen
jetzt groß genug
für blaue Gefühle
wie undichte Regenstiefel
zu schwer geworden
wohl rausgewachsen auf dem Weg zum Dachboden
stoße meinen Kopf und
einen Fuß nach dem anderen

10bpm von Laura Kohler

ich setze mich oft in relation zu vergangenen tagen.
ich zähle häufig wochen, ich blicke oft auf daten: auf den letzten schultag, den ersten im studium, den
umzug. letzte treffen oder den anfang. 

ich vergleiche wohnzeiträume, beziehungstage.
ich fahre mit meinem finger über kalenderanzeigen und versuche, mir ein bild zu mache: 
wie viel zeit
gebraucht wird, für verarbeitung, für heilung. 

ich höre dieses eine lied von wir sind helden in dauerschleife, es dauert genau 4:09 minuten. 

ich frage mich, ab wann etwas aufhört, ein anfang zu sein. 


ich überlege die gesellschaftlichen konventionen von zeit.
die zeiträume, die als passend angesehen werden. die uhrzeiten, die okay sind.
die dauer, bis man sich wirklich als freund*innen bezeichnen darf, die zyklen, die datingphasen, die
zugehörigkeitsfristen, die kontaktintervalle.

ich muss lernen, die zeit nicht verfolgen zu müssen, sie verfolgt mich, ich gucke fast immer auf die uhr.
ich beeile mich, immer, ohne einen grund, ich hetze durch meine tage.
irgendwann, nach 40h arbeiten, nach viel zu viel, nach allem, fange ich wieder an zu lernen, wie das geht:
nicht zu denken, in dann und dann müsste ich, um die uhrzeit gehe ich, gleichzeitig mache ich.
ich muss wieder lernen, nicht immer ein ticken im kopf zu haben. ich muss das langsam sein wieder in
meinen kopf einbringen. muss langsamer reden. muss eines nach dem andern tun. muss mir zeit
nehmen. muss gar nichts mit ihr.

ich nehme mir zeit: ich schneide ein eck heraus, ich platziere es mittig in meinen tag.
ich überlege, mir jetzt immer quaderförmige zeiten in meinen kalender zu platzieren, als terminstopper.
als hürden, die nur schwer übergangen werden können, von alltag und müssen. 

ich stelle während kneipenabenden fest, dass drogen auch eine art zeitversteller sind, ich sitze und
grüble, wie ich auch ohne substanzen zeit weniger spüre, oder anders. ich lege mir takt auf die ohren
und lese partituren und ihre vorgaben von tempi. wikipedia sagt: viele tempobezeichnungen sind zugleich ausdrucksbezeichnungen, geben also auch über den beabsichtigten charakter eines musikstücks auskunft.

ich beschließe, a capriccio, der laune folgend, ein exempel zu statuieren: ich mache eine unbefristete
pause.

meistens spürt man am wenigsten zeit vergehen, wenn man am intensivsten spürt.
wenn der abend ungefähr so tief geht, dass man, an fensterscheiben lehnend, die füße bewegend, den
kaffee genießend, seinen kopf vergrabend, mit oder ohne menschen einen teil von sich loslöst: ihn
anderen erklärt, ihn selbst erweitert, ihn in eine andere welt entführt. 

meistens ist zeit sekundär, wenn der kopf am beschäftigsten ist, oder am höchsten schwebt.

willst du schon gehen? 

nein, ich wünsche mir viel zeit, um mich in alles zu verlieben..
und ich weine, weil alles so schön ist und so kurz,

schrieb marina keegan und wir fühlen das und weinen zusammen ein bisschen mit. 

wir crushen immer viel zu schnell, aber nehmen uns kaum zeit fürs verlieben.
(wir beschließen, dass öfter tun zu wollen, es gibt zu viel, in das man sich verlieben kann.)

hartmut rosa sagt: wer reich an zeit sein will, muss sie verschwenden oder verschenken.
deshalb packe ich sie dir in zartrosa seidenpapier: ich wickele dir eine sanduhr ein, ich lasse sie rieseln,
ich mache sie dir ganz sichtbar, diese milliarden von körner.
hartmut rosa schreibt (ungefähr): die ständige beschleunigung kann dazu führen, dass menschen das gefühl haben, den eigenen lebensrhythmus zu verlieren und sich von ihrer umwelt entfremdet zu fühlen.

und ich stelle ich dir ein metronom auf den tisch. ich tippe es nur kurz vorsichtig an, ich stelle es auf
langsam, 10 bpm, ich führe dir sekunden vor wie eine performance.
hartmut rosa sagt: es braucht zeiten der unverfügbarkeit.

deshalb erschaffen wir blasen, wenn wir uns sehen, wir blicken wenig aufs handy, dann, wir wünschen
uns extra stunden, neben dem alltag. wir beantragen sie förmlich, wir wissen nur die richtige adresse
nicht. wir schicken kassiopeia als briefbotin. wir schicken nach meister hora.

heike geißler schreibt: 

wir sind aus der zeit geflogen. 

wir halten kurs, und wenn er wegfliegt, fliegen wir hinterher.
wie das geht? wir haben tausend einzelteile und ein lautes lachen. 

wir sind da und möglich.
guten tag. sparkle, sparkle. hier entlang bitte.

und wir versuchen einem anderen takt zu folgen.


 

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