Medizin

Autorin: Klara Sachsenhauser | Illustrationen: Noah Field

Triggerwarnung: Dieser fiktive Text behandelt das Thema Alkoholabhängigkeit und -sucht, möglicherweise enthalten sind Beschreibungen von Entzugssymptomen und emotionalen Herausforderungen. Leser:innen, die sich dadurch belastet fühlen könnten, werden um Vorsicht gebeten.

Der raue Kork an meinen Handflächen. Die kleinen Spritzer in meinem Gesicht. Das Zischen in meinen Ohren, das meine Trauer bricht.

Sie stand anfangs einfach so da. Täglich war sie präsent, doch ich habe sie ignoriert. Die Trauer war im Raum, doch ich habe ihr keinen Raum gelassen. Jeder Tag war gleich. Ich freute mich auf nichts. Bis auf das Wochenende. Donnerstags wurde aus Trauer Euphorie, denn ich wusste das Bier beim Späti oder das Gläschen Wein am Spreeufer nicht mehr weit vom Jetzt entfernt ist. Am Wochenende ging es mir gut.

Irgendwann ging es mir auch unter der Woche besser. Denn aus einer anonymen Bierflasche wurde eine flüchtig bekannte Weinflasche. Aus einer flüchtigen Bekannten wurde ein Du.

So schön, so wunderbar stehen sie alle da. Da auf meinem Wohnzimmertisch steht eine Sammlung an Schönheit. Glücklich, ja, das bin ich. Das bin ich wirklich.

Die Wirklichkeit ist schrecklich. Sie taugt mir nichts. Ich bin nicht für sie geschaffen. Aber du warst anders. Du ließt mich tagträumen. Anfangs nur abends nach einem mühseligen Tag. Dann warst du meine Belohnung. Meine Auszeit. Manchmal träumte ich von dir auch schon morgens. Manchmal ließt du mich sogar früh am Morgen tagträumen. Du warst das, was mir immer gefehlt hat. Die Kirsche auf der Torte. Du hast mich zum Lachen gebracht, ohne lustig zu sein. Du hast mich nie im Stich gelassen, denn du warst morgens da, wenn ich aufwachte und abends, wenn ich nach Hause kam.

Mein Traubensaft, mein Kräutertee, der weiße Schaum – all das bringt Liebe in diesen kleinen Abstellraum. Abstellen, ja abstellen kann ich. Das kann ich gut. Flasche nach Flasche mache ich mir neuen Mut. Nicht absetzen! Exen! Exen bis hin zur vollendeten Glückseligkeit.

Mit dir zusammen fühlte ich mich so lebendig. Ich fühlte mich wie ein Teenager, der sich zum ersten Mal verliebt hatte. Wenn ich in deiner Nähe war, trug ich durchgängig eine rosarote Brille. Es war ein Gefühl der Euphorie, an dem ich für immer festhalten wollte. Sobald meine Lippen deinen Hals küssten, gab es kein Zurück mehr. Ich wusste sofort, dass ich dir wieder verfallen war. Da ich nur mit dir gemeinsam diese Glückseligkeit verspürte, musste ich es offiziell machen. Ich klammerte mich endgültig fest an dich. Aus dem Du wurde ein Wir.

Es ist soweit! In Schleier gehüllt bricht meine Realität. Doch plötzlich ein Funke, der Blick wird klar, die toxische Beziehung, die Wahrheit wird wahr. Die Erkenntnis bricht in mir ein. Ich kann niemals ohne meine Trauer sein.

Meine Freunde haben noch nie viel von uns gehalten. Sie meinten, dass du mich kaputt machst. Ich konnte es nie verstehen und so habe ich angefangen, dich vor ihnen zu verstecken. Auch ich musste erkennen, dass wir uns auf engem Raum nicht gut taten. Du warst der toxische Partner, der mir keine aufrichtige Liebe schenkte, aber zu dem ich immer wieder zurückkehrte. Denn in Momenten, in denen ich versucht habe, aus dem Wir wieder ein Ich zu machen, holte mich die unerträgliche Realität ein. Ein vertrautes Gefühl begegnete mir. Die Trauer. Noch beunruhigender war dieses neue Gefühl. Verzweiflung. Trauer und Verzweiflung ohne dich.

Ich bin bereit aufzuhören. Aufhören, das kann ich. Das kann ich wirklich. Doch dann, ja, dann würden mich wieder diese verdammten Stimmen stören, die sagen: „Mach dies! Mach das! Mensch, jetzt mach doch mal was aus diesem Leben, in dem alle anderen nach etwas streben.”

Ich habe mich von uns getrennt. Unzählige Male. Ich kämpfte gegen dich an und du hast nicht zurück gekämpft. Das war das Schlimmste an der Sache. Du standest einfach nur da. So verlockend, wie schon beim ersten Mal. Ich trennte mich nun endgültig. Ich ließ alle Überreste von dir verschwinden. Alles, was mich an dich erinnerte. Ein kurzer Prozess. Das wars mit uns. Ich hatte es ganz alleine geschafft!

Aber an diesem Abend – schon längst auf der Lauer – kam die Trauer. Ich konnte sie nicht ertragen und nun war ich erneut am Versagen. So schön, so wunderbar stehst du da. Denn ich erkenne, ich brauche dich, sonst brauche ich nichts. Du bist meine Medizin. Mein Grund des Lebens Verzicht.

Hilfreiche Ressourcen:
Bundesweite Sucht und Drogen Hotline: 01806 313031
Deutsche Hauptstelle für Suchtfragen e.V.: https://www.dhs.de/service/suchthilfeverzeichnis
Bundesweites Sorgentelefon DRK : 06062 / 607 67
Fachstelle für Suchtprävention im Land Berlin: https://www.berlin-suchtpraevention.de

Irgendwas mit Scheitern coming soon.

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