Gedanken über die (Un)Freiheiten der Kunst
Meine Schritte hallen in ehrwürdigen Marmorsälen eines beliebigen westlichen Museums nach. An den hohen Wänden hängen in dicken Rahmen Stillleben, Körper und Landschaften – Kunst. Vor Picasso bleibe ich stehen. Die Komikerin Hannah Gadsby summt in mein Blickfeld hinein. In ihrem Programm Nanette, zugänglich auf Netflix, empört sie sich darüber, dass Frauen in der Kunst als nackte unbewusste Objekte von Männern dargestellt werden. Wir nehmen das hin, das ist Kunst. Nackte weibliche Körperteile in leuchtenden Farben und kantigen Formen wogen mir entgegen. Aber Picasso missbrauchte Frauen sexuell. Der dargestellte Körper war wohl sehr wahrscheinlich ebenfalls Opfer sexuellen Missbrauchs.
„Aber das dürfen Sie nicht! Das ist Kunst!“, würde die Museumsaufsicht entsetzt rufen. Sie würde versuchen, mich davon abzuhalten, mit rotem Edding #metoo auf das Gemälde zu kritzeln. Denn dieses vage Wort KUNST scheint die Eintrittskarte zu unendlichem Schutz vor moralischen Befragungen zu sein. Es ist möglich von fast allen Verbrechen freigesprochen zu werden, wenn man sich denn Künstler nennt. Geradezu beschworen wird sogar das Klischee des verrückten, kranken, kaputten Künstlers. Künstler*innen müssen doch ein bisschen anders sein als der Rest der Gesellschaft, als die Norm, das Gesetz, meinen die Verteidiger*innen. Was Picasso getan hat, war eine Straftat. Wie er Frauen, die er missbrauchte, darstellt, nennen wir Kunst. So einfach ist es also das Werk von seinem Autor zu trennen ?
Das Märchen von der Freiheit
Kunst muss frei sein, Kunst ist nie frei, Kunst ist frei, Kunst kann nicht frei sein, ich reiße blinde Flecken als Fetzen aus. Viel nackte, weiße Haut schwebt zu Boden.
Aber Kunst ist nicht frei, ist es nie gewesen. Die Kunsthistorikerin Nana Adusei-Poku beschäftigt sich mit Diversität in der Kunst und untersucht dabei besonders die afrikanische Diaspora und Gender-Kategorien. Sie verweist darauf, dass Künstler*innen keine besondere Spezies sind. Der „Genie“-Gedanke, der von einem Menschen handelt, der vom Himmel gefallen Werke produziert, die uns erleuchten und unser Leben verändern, ist eine Lüge. Kunst ist immer situiert in bestimmten politischen und gesellschaftlichen Räumen.
Da ist zum einen der historische Erfahrungshorizont des Schaffenden. Picasso lebte von 1881 – 1973. Jede Darstellung ist aus den Materialien seiner Wahrnehmung geformt. Er war ein weißer Mann aus Europa. Seine Werke werden oft als Protest gegen den Faschismus interpretiert – ein feministischer Blick auf die Frauendarstellungen hingegen nur selten gewagt. Dabei waren gerade seine fast hundert Beziehungen mit Frauen, meist deutlich jüngeren Alters, meist gleichzeitig, bevorzugte Motive seiner Werke. Eine davon, Marie-Thérèse Walter, war gerade 17 Jahre alt, als der 46-jährige Picasso ein Verhältnis mit ihr begann. Jahre später beschreibt sie ihr gemeinsames Liebesleben, welches parallel zu anderen Affären und seiner Ehe verlief, als einschüchternd und furchtbar. Er verließ sie für eine andere Geliebte Dora Maar. Viele der Frauen litten unter dem einnehmenden Liebesverhalten Picassos und seiner Untreue. Sie kämpften mit starker Eifersucht und psychischen Problemen, welche im Falle von Marie-Thérèse Walter bis zum Selbstmord führte. Picasso hingegen genoss dieses Drama sogar und rechtfertigte sexuellen Missbrauch mit seinem animalischen Sexualtrieb. Er beschreibt die Kämpfe zwischen den Frauen als hervorragende Erinnerungen und macht auch diese zum Gegenstand seiner Bilder. Seine Geliebten waren seine Musen und wurden so zu den Objekten seiner berühmtesten Gemälde. Picassos sexistische Liebesbeziehungen sind deshalb nicht nur eine interessante Randnotiz, sondern Gegenstand der Kunst selbst. „Für mich, gibt es nur zwei Arten von Frauen – Göttinnen und Türmatten.“, erklärt Picasso sein giftiges Frauenbild.
Kunst ist also gewollt oder ungewollt immer politisch. Einzelfall für Einzelfall muss das bedacht werden. Denn sie entsteht in einem bestimmten historischen Moment im Zusammenspiel aus Gesellschaft und Individuum. Keine Vase, keine Landschaft und ganz sicher kein Portrait, dass nicht auch vom Zeitgeist geküsst worden ist.
Zwischen ich und Welt
Kunst ist aber auch immer jetzt. Diese anmutenden Kreationen, welche ganze Jahrhunderte überdauern und scheinbar nichts ihrer Virtuosität verloren haben, sind eine weitere Lüge.
Kunst ist immer in die Gegenwart gestellt. Ganz physisch wird sie an eine Wand gehängt oder in einen Raum platziert. Das Ich wird dann zum Erfahrenden des Werks – ohne Erfahrung keine Kunst. So projizieren wir unsere Fragen und Gefühle auf die Leinwände. Es lässt sich durch ein Museum laufen wie durch ein Spiegelkabinett. Kunst ist deshalb politisch in ihrer Erfahrung durch das Individuum. Denn wir interpretieren die Kunst. Jede Person verschiedenartig und immer wieder neu. Das lernen wir nicht nur im Kunst- oder Deutschunterricht, sondern auch in den Momenten, in denen Kunst, ihre wahre Sprengkraft entfaltend, uns berührt.
Viel zu oft orientieren wir uns bei unseren Interpretationen aber leider an der bürgerlichen vorgezeichneten Landkarte des Schönen und Edlen. Leonardo Da Vinci, Gustav Klimt, Egon Schiele oder eben Picasso. Wir sind es gewohnt nackte weiße Frauenkörper zu bewundern. Genug davon! Es ist an der Zeit die Kunst zu konfrontieren. Die letzten Jahre haben dies besonders feministische und machtkritische Menschen getan. Sie haben wichtige Fragen gestellt: „Warum sind Frauen fast immer als Lustobjekte dargestellt und von wem?“ „Warum ist die Kunst so weiß?“ „Wie wird das vermeintliche ‚Primitive‘ und ‚Unschuldige‘ abgebildet?“. So kommen neue Uneindeutigkeiten, Perspektiven und Ebenen hinzu. Doch für viele sind diese Fragen höchst unangenehm. Am liebsten möchten sie räuspernd zu einem elitisierenden Monolog ausholen, um den institutionellen Wissensmangel zu vertuschen. Die Kritiker*innen hingegen sind an einer ehrlichen Auseinandersetzung interessiert. Die Another Roadmap School ist ein Beispiel für ein globales Forschungsprojekt, welches versucht neue machtkritische Perspektiven für die Kunstvermittlung zu ergründen und vorzustellen.
Außerdem wollen Kritiker*innen eine ehrliche historische Einordnung, besonders unter dem Blickwinkel des Kolonialismus oder patriarchaler Machtgefüge. Wie wäre es zum Beispiel, eine Ausstellung zum Thema toxische Männlichkeit mit Werken von Picasso zu kuratieren. Manchmal fordern diese hartnäckigen Stimmen sogar das Ersetzen des Gewohnten durch das, für die alten weißen Museumswände, noch Unbekannte.
Wie traurig wäre es auch, wenn die Kreativität wirklich nur an weiße Männer verteilt worden wäre. Warum müssen wir bedächtig staunend hinnehmen, dass das, was für einige Kunst, für andere Menschen ein Akt der Gewalt ist. Es gibt schwarze, feministische, kritische Stimmen in der Kunst, es fehlt ihnen nur an Raum.
Also los, reflektieren wir dem Kunstkanon seinen Mangel an Vielfalt. Brüllen wir den Klassiker Fragen nach ihren Beiträgen zu aktuellen Diskursen entgegen. Starke Kunst hält es aus, interpretiert zu werden, immer wieder neu, dafür ist sie da. Schreiben wir andere Kunstgeschichten. Solche, die nicht im dunklen Kämmerchen des männlichen Genies verrotten. Sondern betrachten wir aus dem Fenster hinaus Kolonialismus, Sexismus und gesellschaftliche Strukturen, die den Geist des Schaffenden prägen. Reißen wir das Fenster dann noch weiter auf, erkennen wir vielleicht auch, dass Kunst nicht nur in Europa zu Hause ist.
Ein Kurator namens System
Und, wir müssen ehrlich sein: Das, was wir Kunst nennen, ist von einem System längst als solche markiert worden. Doch die Kunstbranche ist kein egalitäres Paralleluniversum. Sie ist ein patriarchales Königreich, regiert von europäischen Intellektuellen. Menschen, die entscheiden, was Kunst ist und wer Künstler*in sein kann. Nur 10-30% der Förderungen und Auszeichnungen im Kunstbetrieb gingen dabei 2016 an Frauen. Das gender pay-gap betrug im selben Jahr in diesem Bereich 24%. Die Spitzenpositionen in Verlagen, Museen und in den Museumshallen werden noch immer von, nun ja, diesen mächtigen weißen Männern besetzt. Das ist ein weiterer Beweis für die Perspektivarmut, durch die wir Kunst erkennen. Wie reduziert, einfältig und armselig. Ab April 2019 wird die Tate Modern Galerie deshalb den Blick erweitern und für ein Jahr nur noch Werke von Künstlerinnen* zeigen.
Denn wir müssen reden, mit der Kunst und über die Kunst. Wir müssen unsere Sehschwächen erkunden. Dürfen nie, nie damit aufhören, auch die Nicht-Dargestellten zu betrachten. Die Manchester Art Gallery hat im Zuge der Me too Debatte ein Gemälde aus ihrer Ausstellung entfernt. Darauf zu sehen waren nackte Nymphen beim Baden und ein Mann, der sich von oben herabbeugt. Doch das war kein Akt der Zensur, sondern ein performativer Diskussionsbeitrag. Menschen konnten auf der rechteckigen Abwesenheit des Gemäldes an der Wand Zettel kleben. Auf diese Zettel schrieben sie ihre Gedanken zu dem Bild und dessen bewussten Fehlen. Übereinander und Gegeneinander, aus allen Perspektiven und Gefühlen miteinander streitend. Vielleicht entsteht so ein neues Kunstwerk. Denn ist es nicht gerade in diesen Momenten, in denen wir verunsichert, berührt und überrascht vor einem Werk innehalten, wenn Kunst ihre wahrhaftige Kraft entfaltet?
Picasso ist einer meiner Lieblingskünstler, weil er in seiner Kunst so wandelbar war. Dieser Artikel stößt eine Tür auf, durch die ich nun trete, um aus einer anderen Perspektive auf ihn – ja und auf Kunst allgemein – zu schauen. Gut, dass in der Kunst ein Paradigmenwechsel zu erfolgen scheint.