Warum wir endlich aufhören müssen Kompromisse zu machen
Text: Michael Nagel
Illustrationen: Marit-Helen Brunnert, Julie Matthées
In der politischen Diskussion ist er ein ständiger Begleiter: der Kompromiss. Überall ist er zu finden. In jedem Politikteil einer beliebigen Tageszeitung, in gefühlt jeder zweiten Rede einer konservativen Politikerin und in jeder Kommentarspalte einer beliebigen Meldung zum Klimaaktivismus. Insbesondere die Grünen betonen gerne, wie wichtig doch Kompromisse seien, wenn man im Klimaschutz vorankommen wolle. „Kompromisse gehören zur Demokratie dazu“, sagte Robert Habeck erst kürzlich im heute journal, als er zum Dannenröder Wald interviewt wurde. Und er hat Recht!
Kompromisse sind super! Außer…
Kompromisse gehören zur Demokratie dazu. Ich habe selbst schon einige Jahre in der Demokratiebildung gearbeitet, habe Gruppen moderiert und immer wieder versucht, Menschen dazu zu befähigen und zu animieren, sich nicht nur eine eigene Meinung zu bilden, sondern auch die andere Meinung zu sehen. Ihre eigenen Ansichten nicht zu verabsolutieren und wenn nötig, auch Zwischen-Standpunkte einzunehmen. Eben Kompromisse einzugehen. Ohne Kompromisse funktioniert das menschliche Zusammenleben einfach nicht.
Aber was ist ein Kompromiss überhaupt? Allgemein versteht man unter einem Kompromiss eine „Übereinkunft durch gegenseitige Zugeständnisse“. Das klingt doch fair. Jede Seite kommt ein bisschen auf die jeweils andere zu und sie treffen sich in der Mitte. Hört sich super an. Ein Beispiel: Kind A und Kind B wollen beide gleichzeitig mit der Konsole spielen. Da es ein Single-Player-Game ist, kann aber immer nur ein Kind spielen. Um ernstere Auseinandersetzungen zu vermeiden, wird ein Kompromiss geschlossen: Die Kinder wechseln sich ab. So kann zwar kein Kind die ganze Zeit spielen, aber beide kommen zum Zug und sind zufrieden. Friede, Freude, Eierkuchen (vegan, versteht sich).
Und das Ganze lässt sich auch super auf die politische Ebene übertragen! Die Arbeiter*innen eines Konzerns fordern eine große Lohnerhöhung, die Führung des Konzerns will ihnen aber keine geben. Am Ende einigen sich die beiden Seiten auf eine kleine Lohnerhöhung. So oder so ähnlich läuft wohl so ziemlich jede Tarifverhandlung. Ist doch toll, oder? So kriegt jede Seite ein bisschen was von ihrer ursprünglichen Forderung. Und nach ein, zwei Jahren fangen die Verhandlungen dann von vorne an.
Oder noch grundsätzlicher: Nehmen wir mal an, eine Seite will es verbieten, Menschen zu töten, die andere findet es voll okay, Menschen zu töten. Also schließen die beiden Seiten einen Kompromiss. Menschen zu töten wird erlaubt, aber nur dienstags, donnerstags und samstags. Wiedermal ein super Kompro… Moment! Das ist doch jetzt Quatsch. Beim Töten von Menschen gehen wir doch keine Kompromisse ein! Haben wir da nicht einen Konsens, dass das nicht geht? Da sind sich doch alle einig, die Menschenrechte, das Grundgesetz und sogar die Bibel! Anscheinend gibt es also Themen, bei denen wir keine Kompromisse eingehen. Themen, die so grundlegend sind, dass sie gewissermaßen rote Linien bilden, die wir nicht überschreiten. Kompromisse kann es also nur so lange geben, wie sie sich im Rahmen bestimmter normativer Werte bewegen. Über die Würde des Menschen zum Beispiel verhandelt man einfach nicht.
Wie sieht es beim Klima aus?
Beim Klima sagt Robert Habeck – und viele andere –, dass man Kompromisse machen müsse, um weiterzukommen.
Erstmal zur Ausgangslage: Die Erde erwärmt sich und schuld sind die durch Menschen verursachten Treibhausgasemissionen. Ein Grad hat sie sich in den letzten 100 Jahren schon erwärmt, weitere werden folgen, wenn wir nicht schnell etwas ändern. Bei zwei Grad Erwärmung werden Dürren, Stürme, Hitzewellen und Überschwemmungen eher zum Normalfall als zur Ausnahme. An einigen Orten wird es zu heiß zum Leben sein, andere Orte werden gänzlich überschwemmt sein. Millionen von Menschen werden ihr Zuhause verlieren, noch mehr Menschen an Hunger und Wasserknappheit leiden. Und dazu werden auch noch Krankheitsausbrüche, wie wir sie gerade mit Covid-19 erleben, immer häufiger…
Sollte sich die Erde um mehr als zwei Grad erwärmen, werden all diese Folgen entsprechend noch heftiger ausfallen. Darüber ist sich die Wissenschaft einig. Das Ganze ist auch schon seit Jahrzehnten bekannt. Zugegeben nicht in dem Detail, aber die Grundfakten waren schon 1979 so eindeutig, dass die National Academy of Sciences der USA offiziell vor der Klimakrise gewarnt hat. 1979. Seitdem haben sich unzählige Wissenschaftler*innen mit dem Thema befasst. Haben geforscht und simuliert, sodass wir jetzt ziemlich genau wissen, welche Maßnahmen die Menschheit ergreifen muss, um die Klimakrise zu bekämpfen.
Für Europa und für Deutschland im Besonderen heißt das zum Beispiel Klimaneutralität bis 2035. Spätestens 2035 dürfen nur noch so viele Treibhausgase ausgestoßen werden, wie gleichzeitig beispielsweise durch Pflanzen aufgenommen werden können. Das heißt, die Emissionen müssen in den nächsten Jahren drastischer reduziert werden als jemals zuvor. 80% in den nächsten zehn Jahren, sagen Wissenschaftler*innen. Wie Deutschland dahin kommt, ist auch längst bekannt. Kurz zusammengefasst: Energiewende, Agrarwende, Mobilitätswende. Erneuerbare statt Kohle. Ökolandbau statt Massentierhaltung. Fahrrad statt Auto.
Der Klima-Kompromiss
So weit, so schlimm. Nun gibt es also die einen, die sagen, wir sollten all das ernst nehmen und tun, was uns die Wissenschaft empfiehlt, um die Katastrophe noch abzuwenden. Und dann gibt es die anderen, die sagen, wir sollten einen bequemeren Weg gehen, all das ignorieren, unsere liebgewonnene Lebensweise beibehalten. Schließlich basiert doch unser ganzer Wohlstand auf Naturzerstörung und mit Kohle, Öl und Autos lässt sich noch super viel Geld verdienen! Das sieht doch so aus, als bräuchte es hier mal wieder einen Kompromiss! Die eine Seite bekommt ein bisschen Klimaschutz, die andere ein bisschen Bequemlichkeit. Auf der einen Seite werden ein paar natürliche Lebensgrundlagen gerettet, auf der anderen ein paar Profite. Großartig!
Aber halt. Es gibt ja Situationen, in denen ein Kompromiss der falsche Weg ist. War da nicht was mit einem Konsens, den wir mal hatten? Irgendwo habe ich da mal was gelesen… „Der Staat schützt auch in Verantwortung für die künftigen Generationen die natürlichen Lebensgrundlagen und die Tiere…“ Wo war das… Ach ja! Im Grundgesetz! Das ist doch Artikel 20a! Die natürlichen Lebensgrundlagen schützen. Irgendwie waren wir uns doch mal einig, dass es doof ist, unsere Umwelt zu zerstören und dafür zu sorgen, dass Millionen Menschen leiden und sterben, oder? Dass die Lebensgrundlagen gefährdet sind, wenn die Klimakrise weiter voranschreitet, steht ja außer Frage. Also Klimakrise bekämpfen. Maßnahmen ergreifen! Energiewende, Agrarwende, Mobilitätswende!
Radikalität statt Kompromiss
Nur leider sieht die politische Realität anders aus. Das EU-Parlament beschließt eine neue gemeinsame Agrarpolitik, die ein „weiter so“ mit Massentierhaltung, Bodenerosion und allem Drum und Dran für die nächsten sieben Jahre beinhaltet. Die Bundesregierung beschließt, dass wir bis 2038 noch weiter fleißig Kohle verheizen, obwohl wir doch 2035 klimaneutral sein müssen. Und in Hessen wird gerade ein Waldstück gerodet, um eine neue Autobahn zu bauen. Irgendwie läuft da was schief.
Das ist also die Ausgangslage. Das ist die Politik derer, die stets Kompromisse fordern. In dieser Lage gehen Millionen Menschen gemeinsam mit Fridays for Future auf die Straßen, abertausende besetzen die Kohlebagger und verzweifelte Aktivist*innen versuchen, die Bäume im Dannenröder Wald vor den Sägen zu retten. Das ist die Ausgangslage, in der an der einen Stelle Aktivist*innen brutal von der Staatsmacht aus dem Weg geprügelt werden und an anderer Stelle Politiker*innen mit wohl gewählten Worten betonen, wie wichtig doch Kompromissbereitschaft sei.
Ich sage: Wenn wir uns an unsere eigenen Grundsätze halten, an die Grundsätze des menschlichen Zusammenlebens, an Grundsätze wie: „du sollst nicht töten“ oder „der Staat schützt die natürlichen Lebensgrundlagen“, dann braucht es in der Klimakrise keine Kompromisse, sondern einen Konsens! Einen Konsens, bei dem alle gewinnen. Könnte es nicht Konsens sein, die Klimakrise gemeinsam auf der Basis von Grundwerten wie der Würde des Menschen und dem Schutz der natürlichen Lebensgrundlagen zu bekämpfen? Wenn wir uns auf diesen Konsens einigen können, dann braucht es jetzt Radikalität, denn Radikalität bedeutet, die Probleme an der Wurzel zu packen! Und genau das müssen wir jetzt tun, wenn wir die Klimakatastrophe noch verhindern wollen. Denn die Zeit läuft uns davon! Wenn wir jetzt nicht konsequent handeln, wird es unwiederbringlich zu spät sein. Wer im Kampf gegen die Klimakrise Kompromisse fordert, stellt sich gegen diesen Konsens und damit auch gegen diese Grundwerte.
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