Graues Wien und keine Zeit

von Flora Schreiber Illustrationen: Teresa Ruebel

Das graue Wien verrät nicht, was sich im Inneren abspielt.
Genau genommen, versucht es sogar zu vertuschen.


Das Mädchen, das vor mir steht, sieht mich mit tieftraurigen Augen an. So, wie man jemanden ansieht, der die Antwort zu kennen scheint. Eine Träne rinnt ihr über ihre Wange. Ich versuche stark zu sein und die richtigen Worte zu finden. Es gelingt mir nur halb.

Als Sozialpädagogin habe ich gelernt, die Grenze zwischen uns zu ziehen, da, wo sie anfangen, und ich aufhöre. Zumindest versuche ich mühevoll, diese Linie jedes Mal aufs Neue nachzuziehen: mit meiner Ferse fest in den Boden stampfen und mit dem Fuß kraftvoll einen kleinen Krater nach mir zeichnen. Oft erlaubt es der Moment nicht, dass ich auf meiner Seite stehen bleibe und ich lange nach drüben. Einfach, weil ich nicht anders kann.

Hunderte von Kindern und Jugendlichen verlaufen sich jeden Tag in den Straße Wiens. Sie kennen den Weg nach Hause nicht mehr. Weil sie nicht nach Hause wollen. Weil es kein Zuhause gibt. Sie treffen sich in Parks, Einkaufszentren und Höfen, hängen in Bahnstationen herum und versuchen Antworten zu finden. Darauf, wer sie sind. Darauf, wohin sie sollen und darauf, warum es niemanden gibt, der sie hält.
Sie tun sich zusammen. Dann wird es zumindest kurz warm. Außerdem verstehen sie einander, so gut wie niemand sonst.

Überlaufene Krisenzentren und Wohngemeinschaften und überarbeitetes Fachpersonal. Aggressive, laute Kinder, die nach Hilfe schreien und dies nicht in Wort fassen können, hohe Fluktuation und alle verzweifelt. Zu wenig Platz und Zeit und Raum. Viel zu wenig von allem und viel zu viel zu tun!
Durchatmen nicht erlaubt.

Als ich gehe, spüre ich plötzlich eine Umarmung von hinten und jetzt kann ich mich nicht mehr zurückhalten und ich muss weinen.

Grau ist gleich dunkel und dunkel ist nicht greifbar, nicht greifbar sein ist Luft und wer Luft ist, wird schnell vergessen.


Illustration von Teresa Ruebel

Hintergrund zum Text

Im vergangenen Oktober begann ich als Sozialpädagogin in einer Kinder- und Jugend – WG zu arbeiten, nachdem ich meine Ausbildung vorm Sommer abgeschlossen hatte. Während der Ausbildung konnte ich einige Eindrücke in Form von Praktika oder Karenzvertretungsjobs von der Profession gewinnen und glaubte somit ansatzweise zu wissen, was mich in einer WG erwarten würde. Als ich Anfang des Jahres wieder aufhörte, in der WG zu arbeiten, wusste ich, ich lag mit dieser Einschätzung falsch.

In jeder Art der sozialen Arbeit ist Beziehung das tragende Element des Geschehens. Doch in der stationären Arbeit mit Heranwachsenden bin ich nicht nur Erziehungsperson und Ansprechpartnerin, sondern übernehme die Rolle der Lebensbegleitung, des Elternteils, der Person, die das Zuhause für diese jungen Menschen mitgestaltet, die in ihren jungen Jahren schon mehr erlebt haben, als ich es wahrscheinlich je werde.

Diese Aufgabe war mir zum jetzigen Zeitpunkt zu viel. Die personellen Ressourcen besitze ich gerade nicht. Doch die Gedanken daran, was ich in dieser kurzen Zeit erfahren durfte, in welche Lebensräume mir Zutritt gewährt wurde und welch enorme Wichtigkeit die Zuwendung für diese Kinder und Jugendlichen hat, begleiten mich seither jede Sekunde. Mit diesem kleinen Text möchte ich daran erinnern, jene nicht zu vergessen, die sich am Rande der Gesellschaft bereits hoffnungslos zeigen und in vielerlei Hinsicht vergessen werden.

  1. Konstanze Julia Hupe

    Ich bin berührt von den Worten die das schwer berührende so liebevoll beschreiben.
    Danke

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